Dickenfeindlichkeit in sozialen Medien: Ich bin fett und arrogant
Gier, Faulheit, Exzess, Dummheit, Ungepflegtheit – viele negativ konnotierte Attribute werden fetten Menschen zugeschrieben. Doch warum nie Arroganz?
D ie hohe Anzahl an „OMG, ich werd nach Corona so fett sein“-Beiträgen auf Social Media ist ein Virus für sich. Selbst in Zeiten einer Pandemie scheint die größte Angst schlanker Menschen zu sein, fett zu werden. Für Menschen mit Essstörungen ist es beschissen, solche Postings zu sehen. Für dicke Leute sowieso, klar, offensichtlich ist mein Körper euer Albtraum. Ich würde die skinny Karens und Sörens dieser Welt gern fragen, was genau sie davon abhält, einfach zu Hause Sport zu machen und die Fresse zu halten, anstatt uns ihren belastenden Gedanken auszusetzen. Schließlich sagen sie doch selbst immer so gern: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Also heult mich bitte nicht voll.
Sobald eine dicke Person über etwas anderes als Gewichtsverlustvorhaben spricht, wollen schlanke Leute Scheindebatten über Gesundheit führen. Nicht mit mir. Sie können dazu Bücher lesen, zum Beispiel von Magda Albrecht, Virgie Tovar oder Friedrich Schorb. Oder schlanke Menschen wollen das Gespräch zu sich lenken und erzählen, dass auch sie schlimme Dinge erlebt haben. Das bestreite ich nicht, aber heute geht es um mich. Denn ich bin fett und arrogant. Ein Widerspruch in sich?
Gier, Faulheit, Exzess, Dummheit, Ungepflegtheit – viele negativ konnotierte Attribute werden fetten Menschen zugeschrieben, Arroganz jedoch nie. Ganz so, als hätten fette Menschen den Blick von außen so sehr verinnerlicht, dass sie sich automatisch als minderwertig betrachten. Rege ich mich über schlanke Leute auf, heißt es direkt: „Gerade von DIR hätte ich das nicht erwartet …“ Weil du denkst, dass ich mein Dicksein durch übermäßige Freundlichkeit, großzügige Empathie und scharfen Intellekt kompensieren muss? Oder denkst du, fette Menschen seien die Letzten, die sich über Äußerlichkeiten anderer zu Wort melden dürfen, während schlanke Leute – auch linke, queere, feministische – oft am laufenden Band Dickenfeindlichkeit reproduzieren?
Warum kann ich kein Arschloch sein?
Wer dick ist, ist ein minderbemitteltes Opfer, so die Annahme. Doch was, wenn dicke Personen in Wirklichkeit auf andere herabschauen? Etwa, weil schlanke Leute ihr Leben lang auf Genuss und Glück verzichten, weil sie meist vergeblich einem Versprechen von Lebensqualität hinterherjagen, das eigentlich nur eine Lüge der neoliberalen, kapitalistischen, dickenfeindlichen Gesellschaft ist?
Hübschen schlanken Frauen unterstellt man häufig Arroganz, ohne jemals mit ihnen gesprochen zu haben. Warum unterstellt man es mir nicht? Warum könnte ich nicht auch ein Arschloch sein?
Bezeichne ich mich selbst als fett, dauert es keine zwei Sekunden, bis jemand einwirft, ich sei doch hübsch. Bitch, das weiß ich und ich habe nie Gegenteiliges behauptet. Was genau an mir lässt dich glauben, ich sei bescheiden oder nicht selbstbewusst? Schlanke Menschen projizieren ihre Filme auf mich, als wäre ich eine Leinwand, aber ihr RTL können sie woanders spielen gehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn