Studie zu „übergewichtigen“ Menschen: Dick ist nicht gleich ungesund
Englands Bevölkerung wird dicker, weil Plus Size Models Dicksein promoten. Das behauptet eine aktuelle Studie. Daran stimmt so einiges nicht.
Es gibt unterschiedliche Arten, Erkenntnissen aus Studien einen Rahmen zu geben und diese auszuwerten. In England untersuchte eine Studie, wie viele Menschen ab einem gewissen BMI ihr genaues Gewicht wissen und wie viele von ihnen Anstalten machen, an Gewicht abzunehmen. Das Ergebnis: Die Anzahl vermeintlich „übergewichtiger“ Menschen – so bezeichnet die Weltgesundheitsorganisation Personen, deren Body-Mass-Index größer gleich 25 ist –, die sich regelmäßig wiegt und Gewichtsverlustmaßnahmen trifft, ist höher als vor zwanzig Jahren.
Das wiederum setzt die Studie in Zusammenhang mit dem Avancieren der sogenannten Plus-Size-Fashion: Einerseits gibt es immer mehr Models, deren Konfektionsgröße über eine 38 oder 40 hinaus geht, und andererseits bieten Kleidungsketten immer häufiger Klamotten in größeren Größen als 42 an. So weit, so erfreulich.
Diese Entwicklung könnte eine_r so interpretieren: Immer mehr Menschen fühlen sich durch diversere Models medial repräsentiert. Sie müssen außerdem nicht mehr abnehmen, um schöne Kleidung in ihrer Größe zu finden. Zu spüren, dass mit dem eigenen Körper entgegen penetranten Diätwerbungen, strukturellem Dickenhass und neoliberalen Selbstoptiminierungszwängen alles in Ordnung ist, kann sich ermächtigend anfühlen. Zu wissen, dass auch dicke Körper es verdienen, so selbstbestimmt wie es der Kapitalismus nun mal zulässt, mit Mode herum zu experimentieren und sich schön zu fühlen, bringt den Hass auf den eigenen Körper zum Sinken.
„Lose hate, not weight“ lautet etwa die Philosophie der fat-aktivistischen Autorin und Referentin Virgie Tovar, die gesellschaftliche Vorstellungen von Gesundheit sprengt. Diese hängt nämlich nicht zwangsläufig mit dem Körpergewicht zusammen, jedoch immer auch mit mentalem, sexuellem und spirituellem Wohlbefinden. Diese unterschiedlichen Aspekte lassen sich nicht einfach voneinander trennen. Stress beeinflusst etwa auch das Herz und den Magen, kann zu (einer Verschlimmerung von) Depressionen, Asthma, Diabetes, Alzheimer und Kopfschmerzen führen.
Dubiose Schlussfolgerung
Und was verursacht wiederum Stress? Zum Beispiel ständig daran erinnert zu werden, der eigene Körper sei wertlos, unproduktiv, ekelerregend, nicht liebenswert, krank. Diese Erinnerungen können zusammenhanglose Fragen von Angehörigen, Ärzt_innen oder Fremden sein, sie können Erwerbsarbeitslosigkeit sein, aber auch psychische und physische Gewalt gegen dicke Menschen. Wenn Forscher_innen nach fragwürdigen Studien behaupten, dicke Menschen seien automatisch weniger gesund als schlanke Menschen, könnten sie erstens eine Ecke weiter denken und darauf kommen, dass es nicht an dem Körpergewicht an sich liegen muss, und zweitens sich Studien reinziehen, die genau das Gegenteil beweisen.
Umso dubioser erscheint die Schlussfolgerung aus ersterer Studie: Anstatt sich über die steigende Körperakzeptanz zu freuen, schlagen die Leute vom „Obesity Research Journal“ alarmistische Töne: Die englische Bevölkerung werde immer dicker, weil Plus-Size-Models Dicksein nicht nur normalisieren, sondern gar promoten.
Nun basiert die Studie zu ihrem Pech auf fragilen Standbeinen. Als Basis für ihre Studie dient der Body Mass Index, auch BMI genannt. Diese Werte hat sich die WHO (genau, die Leute, die bis vor ein paar Tagen noch Transidentität als Krankheit pathologisiert haben – und bis 1992 auch Homosexualität) ausgedacht. Sie sind nicht nur sehr pauschalisierend und deshalb ein verkürzter Blick auf Körper und Gesundheit, sondern auch eine abstruse Konstruktion.
1997 etwa beschloss die WHO, die Werte einfach zu ändern. Stell dir vor, du wachst auf, und plötzlich erzählen dir irgendwelche WHOttos, du seist ab sofort „übergewichtig“. Über welchem Gewicht denn eigentlich? Darauf kann ich nur die Autorin und Spoken Word Künstlerin Stefanie-Lahya Aukongo zitieren, die bei ihrer Performance neulich mal wieder klarstellte: Manche Persönlichkeiten passen nun mal in keine Größe 38. Dass immer mehr Menschen das merken und zelebrieren, ist – der Studie zufolge – auch Plus-Size-Models zu verschulden, äh, verdanken!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Mögliche Neuwahlen in Deutschland
Nur Trump kann noch helfen
Nahost-Konflikt vor US-Wahl
„Netanjahu wartet ab“
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig
Anschläge auf „Programm-Schänke“
Unter Druck
Orbán und Schröder in Wien
Gäste zum Gruseln
Grundsatzpapier des FInanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik