Nach dem Tod der Queen: Sind die Briten alle meschugge?
In Deutschland wundern sich viele über die starke Trauer der Briten um die Queen. Der taz-Korrespondent wundert sich über die Deutschen.
Und um noch eins draufzusetzen, wurde das Thema Brexit hineingedrückt. Die Menschen im Vereinigten Königreich seien durchgeknallt, die Monarchie stehe für alles Schlechte: cleveres Ausbeuten der Massen, Ungerechtigkeit, Dummheit.
Klar, wenn man in der Bundesrepublik Deutschland aufwächst, lernt man: Alle Menschen sind gleich. Könige und Königinnen haben ein Geburtsrecht, und das widerspricht diesem Grundsatz der Republik. Ergo gehören Monarchien ins Geschichtsbuch und zu einer rückständigen gestrigen Welt.
Und natürlich kann man einiges anprangern, was im Namen der britischen Krone geschah: oft brutale jahrhundertelange Unterjochung und Ausbeutung anderer Menschen und Orte rund um die Welt. Die Krone war der gesetzliche Vollstrecker der Todesstrafe, als es sie noch gab. Im Namen der Krone wurden Menschen ermordet und verschleppt, gefangen genommen, verfrachtet und ausgebeutet, in Kriege geführt.
Organisierte Antimonarchisten als britisches Kuriosum
Königshäuser ließen das Volk ausbeuten und leben bis heute in Prunk und Glanz, während der Unterschied zwischen Arm und Reich im Vereinigten Königreich einer der größten in der westlichen Welt ist.
Das sind viele Argumente. 2012, beim 60. Thronjubiläum der Queen, teilte ich sie noch. Ich stand bei der Tower Bridge in London unter einem traurigen Häuflein des britischen Verbands „Republic“, deren Mitglied ich war.
Die Gruppe von 100 bis 200 Antimonarchist:innen bei einer Verbandsmitgliedschaft von rund 5.000 stand an diesem historischen Tag gegen Millionen von Menschen, die die Queen in allem Prunk im ganzen Land feierten.
Es waren die Antimonarchisten, die man wie ein Kuriosum in einem Tierpark bestaunte, nicht die Queen; und man ließ sie gewähren.
Für die Staatsbürgerschaft Schwur auf die Königin
Als ich 2018 wegen Brexit zusätzlich zur deutschen Staatsbürgerschaft auch die britische beantragte, hatte ich noch große Probleme mit dem damit verbundenen Schwur auf die Königin und die königliche Familie und all ihre Nachfahren. Als ich es vollbracht hatte, war ich sowohl Bürger einer Republik als auch Untertan in einer konstitutionellen Monarchie.
„Republic“ sowie mein Wahlkreisabgeordneter Keir Starmer, heute Labour-Chef, versicherten mir, dass eine antimonarchische Haltung damit durchaus vereinbar sei. Einige erklärten, dass der Schwur eigentlich nur Treue zum Land und seinen Gesetzen darstelle, das nur symbolisch durch die Krone vertreten sei.
Der Krone unterstehen formal das Parlament, die Regierung, die Gerichte und das Militär, aber sie hat kaum noch wirklich Macht. Der letzte Einwand gegen einen Premierminister fand vor 188 Jahren statt. Heute steht die Monarchie vor allem für die Anerkennung von Personen und Organisationen, die sich für andere einsetzen oder die Besonderes geleistet haben. Selbstverständlich hat die Krone auch repräsentative Funktionen.
Abgesehen davon, dass auch die Niederlande, Belgien, Spanien, Dänemark, Norwegen und Schweden konstitutionelle Monarchien sind: Die Republiken Deutschland, Italien, Österreich, Polen, Frankreich oder die USA sind weder besser noch schlechter als das Vereinigte Königreich.
Republiken haben Ersatzkönige und -königinnen
Deutschland schaffte Kaiser und Könige ab und holte sich stattdessen den Führer. In den USA gibt es Ersatzkönige und -königinnen. Im Vereinigten Königreich wählte man einen anderen Weg, man hielt die Monarchie am Leben, band sie aber an das gewählte Parlament. So vereinte man Tradition und Geschichte mit der Gegenwart, in der die Macht denen gehört, die man abwählen kann. Hier gewinnt weder die eine noch die andere Seite, sondern man einigte sich auf einen Kompromiss.
Das Prinzip der Rechte für alle ist in England sogar noch älter als in Deutschland und geht auf die Magna Carta aus dem Jahr 1215 zurück – obwohl Juden und Jüdinnen bald davon ausgenommen waren und sie später auch erst mal nicht für afrikanische Menschen galt.
Die verstorbene Queen sah das Ende des Empires und respektierte am Ende Menschen aus aller Welt und deren Kulturen. Das war lange Zeit mehr, als so manche Politiker:innen taten, wie unter anderem ihre Differenzen mit Margaret Thatcher zu Apartheid-Südafrika zeigten.
Woran Trauernde jetzt vor allem denken, ist, dass über 70 Jahre hinweg die Queen ihr Los nicht nur annahm, sondern es lebte und versuchte, ihm durch unermüdlichen Dienst an ihren Untertan:innen einen Inhalt zu geben. Niemand weiß, was sie den 15 Premierministern und Hunderten Minister:innen, die sie 70 Jahre lang in wöchentlichen Audienzen empfing, gesagt hat.
Royale Existenzberechtigung durch Pflichtbewusstsein
Aber man weiß, dass sie alle Regierungsgeschäfte durchlas und dass alle Regierungschefs ihren Rat unter vier Augen schätzten. Nur wenige Menschen verpflichten sich im Alter von 21 Jahren freiwillig dem Dienst am Volk und halten sich daran bis zum Tod im Alter von 96.
Die Königsfamilie ist sich bewusst, dass dieses Pflichtbewusstsein ihre Existenzberechtigung am Leben hält. Außerdem gilt sie als Stütze des Landes. Ohne die Monarchie würde das Vereinigte Königreich womöglich auseinanderbrechen, und es gäbe keine Autorität mehr, die über der Politik steht.
Klar, es kann auch einen schlechten König geben, aber durch die Verfassung und das öffentliche Rampenlicht befindet sich das Königshaus stets unter Beobachtung, während es gleichzeitig verteidigt wird.
Aber wie ungerecht ist es doch, argumentierte einer in Berlin, dass die Monarch:innen mit goldenem Löffel im Mund leben können! Ja – doch auch in Nichtmonarchien schaffen die freie Marktwirtschaft und Phänomene wie der Spitzenfußball und der Starkult faktische Prinzen und Prinzessinnen. Sie alle sind Teil der Verzerrung.
Massentrauer als kollektives Erlebnis
Was bei Kritik am Massentrauerkult am Ende nicht fehlen darf, ist der Blick in den Spiegel. Ist es wirklich besser oder anders in Deutschland? Der deutsche Bundesverband Bestattungsbedarf sieht in Massentrauer ein allgemeines menschliches Phänomen beim Umgang mit Prominenten: „Es wird mitgelebt und mitgelitten.“
Weiter betont der Verband „das kollektive Erlebnis“. Man trauert gemeinsam und zeigt Gefühle, ohne dass sich die eigene Lebensgeschichte verändere. „Wenn ein realer Mensch aus dem näheren Umfeld stirbt, hat das Konsequenzen. Wenn ein Promi stirbt, verändert sich im Alltag nicht viel; der Verlust ist weniger gravierend.
Die Gefühle der Trauer sind daher viel ‚ungefährlicher‘ und können leichter gelebt werden als in der Realität. Man könnte es fast als ein ‚Ausprobieren des Ernstfalls‘ beschreiben.“ Für den Verband ist dies positiv, weil der Umgang mit dem Tod und der Trauer so nicht mehr aus der Gesellschaft verdrängt wird.
Bei Massentrauer um die Queen oder Masseneuphorie wie beim 70. Thronjubiläum vor drei Monaten sind nicht alle, die mitmachen, fanatische Monarchist:innen. Ob die britische Monarchie eine Zukunft hat und haben sollte, ist eine Frage, die dennoch gestellt werden darf und soll.
Wie ein mir bekannter Geschichtslehrer an einer Schule in England neulich bemerkte: Irgendwann könnten Brit:innen durchaus ein Ende dieser Institution verlangen, vielleicht wenn ein bestimmter Monarch oder die Familie sich unerträglich benommen hätten. Aber dann, sagte er, bitte ohne Blutvergießen.
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