Richterin über Triage: „Wir werden als Erste geopfert“
Als Mensch mit Behinderung würde sie im Falle der Triage aussortiert werden, sagt Richterin Nancy Poser. Sie hat Verfassungsbeschwerde eingelegt.
taz: Frau Poser, Sie wollen den Gesetzgeber per Verfassungsbeschwerde zwingen, sich mit der Triage zu beschäftigen. Dafür gibt es doch aber bereits Leitlinien, die mehrere medizinische Fachgesellschaften erarbeitet haben.
Nancy Poser: Als ich diese Leitlinien gesehen habe, war ich schockiert. Da wird zwar gesagt, dass wegen Alter oder Behinderung im Rahmen der Triage nicht diskriminiert werden soll. Aber die Kriterien zur Einschätzung, wer im Zweifel keine intensivmedizinische Behandlung bekommen soll, werden nur von alten und behinderten Menschen erfüllt.
Könnten Sie das näher erklären?
Da soll zum Beispiel der allgemeine Gesundheitszustand anhand einer Gebrechlichkeitsskala bewertet werden. Wenn man einen Rollstuhl braucht, Assistenzbedarf hat oder am Rollator geht, wird man im direkten Vergleich zu einer nichtbehinderten Person schlechter eingestuft. Man muss dazu wissen, dass die Triage ja nicht nur zwischen Covid-19-Patienten stattfinden soll, sondern zwischen allen, die intensivmedizinische Behandlung benötigen. Das heißt, wenn ich dort mit meinem Rollstuhl und meiner Muskelerkrankung mit einem Herzinfarkt eingeliefert werde und neben mir liegt ein Raucher mit Covid-19, werde ich anhand dieser Kriterien schlechter bewertet.
Dann bekommen Sie im Zweifel keine intensivmedizinische Behandlung …
… und muss sterben, ganz genau. Ich habe zwei Probleme mit den Triage-Leitlinien: Zum einen halte ich sie nicht unbedingt für tauglich, um die Erfolgsaussichten der Behandlung zu bewerten. Vor allem aber halte ich diesen Weg – survival of the fittest, der Stärkere soll leben – für falsch. Es wird dann gerne das Beispiel von dem 90-jährigen Rentner mit Vorerkrankungen und der 25-jährigen Mutter gebracht. Aber so eindeutig ist das in der Praxis kaum: Da kommen der 30-jährige Turner und die 40-jährige Rollstuhlfahrerin. Und dann habe ich einen Unterschied von vielleicht 60 und 40 Prozent Überlebenswahrscheinlichkeit. Wo fängt das an, wo hört das auf?
Ergibt es denn nicht grundsätzlich Sinn, die zu retten, die wahrscheinlicher überleben?
Natürlich erscheint der utilitaristische Ansatz verlockend. Das ist im Prinzip wie bei diesem theoretischen Fall mit dem Flugzeug: Das fliegt auf ein vollbesetztes Stadion zu und die Frage ist, ob man dieses Flugzeug abschießt, um die Leute im Stadion zu retten. Die Überlebenswahrscheinlichkeit der Menschen im Flugzeug geht ja bei dem Absturz gegen Null, sie sind also quasi eh nicht mehr zu retten. Es gab ein Luftsicherheitsgesetz, das in einem solchen Fall den Abschuss vorsah. Und da hat aber das Bundesverfassungsgericht ganz klar gesagt: Das geht nicht. Ich darf selbst den totgeweihten Leuten im Flugzeug ihre Überlebenswahrscheinlichkeit, so minimal sie auch sein mag, nicht nehmen, um andere zu retten, weil ich sie damit zum Werkzeug degradiere und ihnen so die Menschenwürde nehme. Mit diesem Grundsatz bin ich auch groß geworden, als Mensch und als Juristin. Ich habe seit dem ersten Semester Jura gelernt, dass man Leben nicht gegen Leben abwägen kann, egal welche Chance man diesem Menschenleben beimisst.
Im Fall der Triage ist das Dilemma doch, dass ich entscheiden muss. Ich kann das Flugzeug im übertragenen Sinne nicht einfach weiterfliegen lassen. Wie soll diese Entscheidung gerecht sein?
Sie kann nicht gerecht sein. Aber sie kann den Betroffenen mehr Chancengleichheit einräumen. Darum geht es in unserer Verfassungsbeschwerde zunächst aber noch gar nicht. Es gibt in Deutschland einen Wesentlichkeitsgrundsatz, der vorsieht, dass wesentliche Eingriffe in die Grundrechte vom Gesetzgeber legitimiert werden müssen. Wir wollen den Gesetzgeber dazu bringen zu handeln. Solange es nur Leitlinien aus der Ärzteschaft gibt, bin ich denen ausgeliefert. Dagegen kann ich nicht klagen, obwohl ich sie für willkürlich und diskriminierend halte.
Welche anderen Möglichkeiten gäbe es aus Ihrer Sicht, um Triage-Entscheidungen zu fällen?
Für mich kommt da nur das Prioritätsprinzip infrage: Wer zuerst kommt, bekommt den Platz. Oder das Randomisierungsprinzip.
… die Entscheidung nach Zufall, das ist schwer vorstellbar.
Es ist nicht befriedigend, gerade für Ärzte. Aber es geht hier auch nicht nur um sie. Die Situation ist für alle unbefriedigend, die im Zweifel sterben müssen. Wenn ich aussortiert werde, weil kein Gerät mehr da ist, ist das schlimm, keine Frage. Aber wenn das Gerät jemand anderes bekommt, weil der fitter ist und ich behindert bin, nimmt man mir meine Menschenwürde.
Die Diskussion, ob in der Pandemie die Grundrechte verletzt werden, ist gerade sehr aufgeheizt. Menschen gehen zu Zehntausenden auf die Straße, weil sie beispielsweise keine Maske tragen wollen. Die Diskussion über die Kriterien der Triage ist im Vergleich dazu außerhalb von Behindertenselbstorganisationen immer noch sehr verhalten.
Den Leuten ist klar, dass es zuerst die Alten und die Behinderten trifft. Und weil sie nicht betroffen sind, interessieren sie sich nicht dafür.
Offenbart sich da eine tief verankerte Diskriminierung?
Das ist der Punkt. Stellen wir uns vor, in diesen Leitlinien würde stehen, alle Menschen mit Blutgruppe A bekämen eine niedrigere Punktzahl. Dann würde doch niemand sagen: Ja, das ist doch klar, weil sie auch schlechtere Erfolgsaussichten haben. Denen geben wir das Gerät nicht, sondern wir geben es lieber jemand mit der Blutgruppe 0. Da wäre der Aufstand groß. Aber bei Menschen mit Behinderung und Alten halten wir solche Annahmen für absolut plausibel.
Wir müssen noch über etwas anderes sprechen: Am Freitag hat der Bundesgesundheitsminister die Priorisierungen für die Impfungen vorgestellt.
Da wird es fast zynisch: In den Triage-Leitlinien steht ja überspitzt formuliert, dass wir als Erste geopfert werden, weil wir ohnehin einen schweren Krankheitsverlauf zu erwarten haben. In der Impfverordnung werden nun aber Menschen mit körperlicher Behinderung, die zu Hause von der Familie oder von Assistenzdiensten versorgt werden, nicht einmal erwähnt. Ich gehöre zwar in der Impfverordnung als Richterin zur Gruppe drei, aber nicht als Behinderte.
Haben Sie noch Vertrauen in das Grundgesetz?
Ich habe mich als Juristin und Bürgerin vom Grundgesetz immer sehr geschützt gefühlt. Weil ich den Eindruck hatte, dass wir gerade hier in Deutschland nach unserer Vergangenheit sehr vorsichtig sind, Leben zu bewerten. Jetzt sind wir in einer Krisensituation. Es wird sich zeigen, ob das Grundgesetz immer noch hält.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen