Angriff auf Fastfood-Lieferanten: Wegen ein paar Pommes
Ein schwarzer Lieferfahrer bringt Essen zum Büro der Johanniter. Dort wird ihm der Arm gebrochen. Die Polizei ermittelt gegen einen Sanitäter.
In der Geschäftsstelle hat eine Besprechung zum Sanitätsdienst stattgefunden, die meisten bleiben noch zum Essen. Ein Mitarbeiter hat die Bestellung aufgegeben: fünf Burger-Menüs mit Pommes und Cola, einen extra Chicken-Burger und ein McFlurry. Gesamtbetrag: 60,68 Euro. Aber Nelson Mbugu bekommt keinen Dank oder gar Trinkgeld für diese Lieferung, sein Arbeitstag endet mit einem komplizierten Bruch im linken Arm. Er wird zehn Tage im Krankenhaus liegen und wohl für Monate arbeitsunfähig sein.
Es geht in dieser Geschichte um einen Mitarbeiter der Johanniter, der offenbar ausgerastet ist, weil seine Pommes fehlten. Es geht aber auch darum, wie fragwürdig die Hilfsorganisation einmal mehr agiert. Die taz hatte Mitte September eine Recherche über Rechtsextremismus und Rassismus im Rettungsdienst veröffentlicht. Es wurde unter anderem beschrieben, wie ein Mitarbeiter der Johanniter in Köln die Geburtstage von Nazigrößen in einen Kalender auf der Wache eintrug und die Organisation wenig Interesse an Aufklärung zeigte. Anders als die damals beschriebenen Fälle ist das, was Nelson Mbugu in Brandenburg erlebt hat, strafrechtlich relevant. Die Kriminalpolizei ermittelt wegen Körperverletzung. Für die Johanniter hängt an dem Fall auch ein Stück Glaubwürdigkeit als christliche Hilfsorganisation.
Vier Wochen nach dem Angriff sitzt Nelson Mbugu in seinem Wohnzimmer. Er ist 39 Jahre alt, lebt seit 2017 in Deutschland, ist mit einer Deutschen verheiratet. Den linken Arm trägt er in einer Schlaufe, noch immer nimmt er starke Schmerzmittel. Mbugu spricht leise, mischt beim Reden Deutsch und Englisch. Was am 5. September passiert ist, kann er immer noch nicht fassen.
Ein Knacken, dann kommt der Schmerz
Er hat sein Auto vor dem Gebäude der Johanniter geparkt und die Bestellung abgeliefert. Eine Frau nimmt sie entgegen und fragt, ob das alles sei. Mbugu sagt, das sei alles, und geht zu seinem Auto. Er ist schon ein paar Meter gefahren, da sieht er, wie aus dem Gebäude ein Mann auf ihn zuläuft und winkt. Recht klein, kräftig, mit Glatze. Er spricht Mbugu an, beschwert sich, dass Pommes fehlen würden. So erinnert sich Mbugu.
Er antwortet, dass er McDonald’s anrufen solle, sie würden alles nachliefern. Sie diskutieren kurz, aber ruhig, sagt Mbugu, schließlich greift Mbugu selbst zum Handy. Da bemerkt er, wie sich der Mann durch das Fenster in sein Auto beugt und versucht, die Autoschlüssel abzuziehen. Mbugu ist schneller und zieht sie ab.
Was dann passiert, daran erinnert sich Mbugu so: Der Mann zieht seinen Kopf aus dem Auto, greift dabei Mbugus linken Arm und zieht den Arm aus dem Fenster. „Ich konnte nichts machen, ich war angeschnallt, ich war in einem Käfig“, sagt Mbugu. Der Angreifer sieht ihm direkt in die Augen, klemmt sein Handy, das er in der Hand hatte, zwischen die Zähne und drückt mit beiden Händen und seinem vollen Gewicht auf Mbugus ausgestreckten Arm. Mbugu hört ein Knacken, dann kommt der Schmerz.
Der Angreifer lässt ab und geht. In diesem Moment kommt ein weiterer McDonald’s-Mitarbeiter angefahren. Er heißt Michael Jentschel, es ist sein erster Tag im Job. Mbugu hatte offenbar tatsächlich einen Teil der Bestellung vergessen. Michael Jentschel erzählt das alles ausführlich am Telefon. „Ich bin etwa fünf Minuten nach Nelson losgefahren“, sagt er. „Als ich bei den Johannitern ankam, stand Nelsons Auto quer auf der Straße.“
Den Angriff selbst habe er nicht gesehen, den weiteren Verlauf schildert er so: Er parkt und sieht einen glatzköpfigen Mann aus der Richtung von Mbugus Auto auf ihn zulaufen. Aufgebracht habe der gewirkt, wütend, und ihn angepampt: Wieso hier die Hälfte der Bestellung fehle? Jentschel versucht den Mann zu beruhigen und übergibt ihm die Tüte mit den Pommes. Aus Mbugus Auto hört er Geräusche, denkt, das Radio läuft. „Da sagt der Kunde plötzlich zu mir: Jetzt kannste dich um deinen Kollegen kümmern, du hörst ja, wie der schreit.“
Rassistische Beschimpfungen
Michael Jentschel läuft zu seinem Kollegen, der sitzt schreiend auf dem Fahrersitz. Die Scheibenwischer laufen, der Warnblinker ist an. „Nelson liefen die Tränen. Er hat immer wieder gesagt: Der hat mir wehgetan. Merk dir sein Gesicht.“ Jentschel ruft einen Rettungswagen und die Polizei. Er sagt, er habe so etwas noch nie erlebt: Ein Mann wie Nelson, groß und stark, wimmernd vor Schmerz. Was ihn aber am meisten schockiert habe: „Da standen drei oder vier Frauen am geöffneten Fenster der Johanniter, wenige Meter von uns entfernt. Sie müssen Nelson gehört haben, vielleicht sogar gesehen haben, was passiert ist.“ Niemand von ihnen habe geholfen, sagt Jentschel. Auch Mbugu berichtet von den Personen im Fenster. Die beiden haben seit dem Vorfall nicht gesprochen.
Eine Sprecherin der Johanniter bestätigt, dass zu dieser Zeit noch etwa sieben Mitarbeitende im Gebäude waren. Wie die sich verhalten haben, warum sie offenbar nicht geholfen haben, dazu könne sie zurzeit nichts sagen. „Sollte […] ein Fehlverhalten seitens unserer Mitarbeitenden festgestellt werden, werden wir die erforderlichen Konsequenzen ziehen“, schreibt sie.
Im Leitbild der Johanniter heißt es, der Umgang miteinander sei „geprägt von Achtung und Respekt“. Wie kann es sein, dass Ehrenamtliche einer solchen Organisation nicht helfen, wenn ein Mensch offenkundig schwer verletzt ist? Geht es hier nicht nur um einen brutalen Angriff, sondern auch um unterlassene Hilfeleistung? Ein Polizeisprecher sagt, dass deswegen nicht ermittelt werde. Und ob bei der beschriebenen Auseinandersetzung zwischen Nelson Mbugu und dem Kunden rassistische Beschimpfungen gefallen sind, sei Teil der laufenden Ermittlungen.
Der Rettungswagen nimmt Mbugu mit ins Krankenhaus. Die Schmerzen seien unerträglich gewesen, sagt Mbugu. Er bekommt Morphium, wird geröntgt. „Distale Humerusschaftspiralfraktur links“, steht später im Arztbrief. Spiralbruch im Oberarm. Die Operation dauert Stunden, Mbugu bekommt eine Metallplatte eingesetzt.
Der Beschuldigte gilt als Vorbild
Die Polizei veröffentlicht am nächsten Tag eine Pressemitteilung mit dem Titel „Streit um Pommes Frites eskalierte“. Es sei zu einem Wortgefecht gekommen, das in „Handgreiflichkeiten zwischen den beiden“ geendet sei. Einen Tatverdächtigen konnten sie bis dato nicht ermitteln.
Den findet Nelson Mbugu selbst. Er kann kaum schlafen nach dem Angriff. Im Krankenhausbett klickt er sich durch die Facebook-Fotos der Johanniter Brandenburg und entdeckt den Mann, von dem er sich sicher ist, dass er der Angreifer ist. Die Kriminalpolizei kommt später auch auf ihn, führt den Mann inzwischen als einzigen Tatverdächtigen.
Der Mann ist Anfang 40 und als Rettungssanitäter beim Regionalverband Brandenburg-Nordwest der Johanniter angestellt. Ehrenamtlich leitet er darüber hinaus in der Stadt den Bereich Katastrophenschutz, koordiniert die sogenannte Schnelleinsatzgruppe. Als im Sommer in Brandenburg die Wälder brannten, verteilte er Brötchen an die Feuerwehrleute. Als im Sommer davor in Rheinland-Pfalz Täler überflutet wurden, ließ er sich von seinem Job freistellen, um dort die Feldküche für die Helfer zu betreuen. Für die Johanniter ist der Mann ein Aushängeschild. Im Juni dieses Jahres erhielt er den Ehrenamtspreis der Stadt. „Wir sind sehr stolz, jemand so engagiertes in unserer Johanniter-Familie dabei zu haben“, schreiben die Johanniter dazu auf Facebook. Herzchen-Emoji.
Der Beschuldigte will nicht mit der taz sprechen. Inzwischen hat er sein Ehrenamt im Katastrophenschutz aufgegeben und den Standort gewechselt. Arbeitsrechtliche Maßnahmen gegen ihn gab es in seinem alten Regionalverband Brandenburg nicht, man wollte den polizeilichen Ermittlungen nicht vorgreifen, schreibt die Sprecherin. Seit 1. Oktober arbeite er „auf eigenen Wunsch“ im Johanniter-Regionalverband Magdeburg/Börde/Harz. Der dortige Vorstand schreibt auf taz-Anfrage, er sei zwar aus Brandenburg über den Tatverdacht informiert worden, über die „Tragweite“ allerdings erst am vergangenen Freitag – an diesem Tag hatte die taz in Brandenburg nachgefragt, ob der neue Regionalverband informiert worden sei. Der Mitarbeiter sei noch am Freitagnachmittag „mit sofortiger Wirkung vom Dienst freigestellt worden“. Man behalte sich weitere arbeitsrechtliche Maßnahmen vor, schreibt der Magdeburger Vorstand.
Nelson Mbugu ist sehr zufrieden, wie sich sein Arbeitgeber McDonald’s um ihn kümmert. Von den Johannitern ist er enttäuscht. Bis heute haben sie sich nicht bei ihm gemeldet. Eine Verwandte von ihm hatte kurz nach dem Vorfall dem Regionalverband bei Facebook geschrieben, ob sie sich denn nicht einmal äußern wollen zu dem Vorfall. Das Social-Media-Team antwortet, man unterstütze die Ermittlungen der Polizei. „Fakt ist, der Vorfall ist nicht auf unserem Gelände, sondern außerhalb im öffentlichen Raum auf der Straße passiert“, heißt es in der Antwort. Und: „Freundliche Grüße.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“