Illustration: Oliver Sperl

Rassismus beim Rettungsdienst:Rechte Retter

Hass auf Geflüchtete, Nazi-Geburtstage im Kalender, rassistische Chats: Rettungskräfte haben ein Problem mit Rechtsextremismus in den eigenen Reihen.

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Aus köln und berlin, 16.9.2022, 19:00  Uhr

Gleich neben der Tür im Aufenthaltsraum der Feuer- und Rettungswache 9 in Köln hängt ein Kalender. An einem Sommertag im Jahr 2020 stehen darin plötzlich ein paar neue Namen, mit blauem Kugelschreiber hineingekritzelt. Alle Sa­ni­tä­te­r:in­nen der Johanniter, die sich hier in der Pause einen Tee kochen oder auf den Sofas ausruhen, können sie sehen. Joseph Goebbels, Eva Braun, und am 20. April: Adolf.

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Die Johanniter Unfallhilfe ist eine der großen Hilfsorganisationen in Deutschland. Evangelisch, der christlichen Nächstenliebe verpflichtet. Das weiß-rote Johanniter-Kreuz prangt auf Krankenwagen, auf Rettungshubschraubern, auf den Jacken von Sanitätern und Notärztinnen. In ganz Deutschland übernehmen die Johanniter einen Teil des Rettungsdienstes, 6.000 Mitarbeitende auf rund 300 Wachen gibt es. Ihre Hilfe richte sich an „Menschen gleich welcher Religion, Nationalität und Kultur“, heißt es im Leitbild der Organisation. Und: „Unser Umgang miteinander ist geprägt von Achtung und Respekt.“

Auf der Feuerwache 9 in Köln, wo die Johanniter unter anderem einen 24-Stunden-Rettungswagen besetzen, klaffen Leitbild und Wirklichkeit weit auseinander. Die Nazi-Geburtstage im Kalender sind nur der plakative Höhepunkt einer jahrelangen Entwicklung: Rechtsradikale konnten ihre Weltanschauung hier ziemlich frei ausleben. Ein Mitarbeiter hingegen, der das Problem ansprach, wurde gekündigt. „Ich wurde rausgemobbt“, sagt er.

Reportagen wie „Rechte Retter – Rassismus beim Rettungsdienst“ erscheinen regelmäßig in der Wochenendausgabe und sind ein Markenzeichen der taz: Engagierter und gründlich recherchierter Journalismus mit Haltung – für Leser*innen, die den einzigartigen taz-Blick auf die Welt zu schätzen wissen.

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In jüngerer Zeit ist der Rettungsdienst immer wieder in den Schlagzeilen. Es geht um Personalmangel, Überstunden, Überlastung. Es geht darum, dass etwa in Berlin von 140 Krankenwagen an einem Samstag nur 80 verfügbar sind, oder darum, dass Sa­ni­tä­te­r:in­nen im Dienst angegriffen wurden. Darüber wird zu recht gesprochen.

Über Rassismus und Rechtsextremismus im Rettungsdienst reden die Mit­ar­bei­te­r:in­nen dagegen nicht so gerne. In diesem Job verbringt man viel Zeit miteinander, auf engem Raum, in 12- oder 24-Stunden-Schichten. Man rast zusammen mit Blaulicht durch die Stadt, man meistert emotionale Einsätze gemeinsam – das verbindet, da verrät man einander nicht. Korpsgeist. Selbst wer sensibel für problematische Entwicklungen ist, schweigt oft lieber, aus Angst vor Konsequenzen am Arbeitsplatz.

Aber manche reden dann doch. In den vergangenen Monaten haben wir ausführlich mit mehr als einem Dutzend Rettungsdienst-Mitarbeitenden gesprochen. Die meisten wollen anonym bleiben. Sie arbeiten in verschiedenen Organisationen, in verschiedenen Bundesländern und in verschiedenen Positionen. Wir konnten Chatgruppen und interne Mails einsehen, Berichte und Unterlagen aus arbeitsrechtlichen Streitigkeiten. Wir stießen auf Rettungsdienst-Mitarbeitende, die sich gegenseitig ein NS-Lied auf dem Handy vorspielen oder gegenüber Kol­le­g:in­nen äußern, dass sie ein Flüchtlingsheim lieber anzünden würden, als den Be­woh­ne­r:in­nen dort zu helfen. Alles Fälle, von denen die Öffentlichkeit bislang nichts weiß.

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Aus den Schilderungen und Dokumenten wird deutlich: Rechte Retter sind keine Ausnahme. Der Rettungsdienst in Deutschland hat ein Problem mit Rassismus und Rechtsextremismus – und kaum ein:e Vor­ge­setz­te:r unternimmt etwas dagegen. Seit dem Flüchtlingssommer 2015 ist die Lage offenbar schlimmer, oder zumindest offensichtlicher geworden. Leidtragend sind der taz-Recherche zufolge vor allem Mitarbeitende mit Migrationshintergrund – und Patient:innen.

Üble Spielchen auf Wache 9

Guido Schäpe, 52 Jahre alt, seit 2003 als Sanitäter auf der Feuer- und Rettungswache 9 in Köln-Mülheim, kann heute nicht mehr sagen, wann genau es anfing. Es waren viele kleinere Dinge, die zusammen ein dunkles Bild ergeben.

Da war der Anti-Islam-Aufkleber auf der Toilette. Der Kollege, der auf der Außenwache gerne die Junge Freiheit las. Die Flyer der „Identitären Bewegung“, die dort auslagen; zwei Mitarbeitende, die aus ihrer Nähe zur rechtsextremen Organisation vor dem Kollegium keinen Hehl machten. Einer der beiden hat schon vor Jahren ein Spiel geprägt, zum Zeitvertreib während der Fahrt. Sie nannten es das „Möp-Spiel“: Immer wenn man eine schwarze Person auf der Straße sieht, muss man „möp“ sagen. Gedanklich wurde dann eine Strichliste geführt. Das alles berichtet nicht nur Schäpe, es bestätigen auch mehrere seiner Kolleg:innen.

Mann in Rettungsuniform

Guido Schäpe hat sich bei den Johannitern gegen rechte Kollegen engagiert und wurde gekündigt Foto: André Wunstorf

Fast 20 Jahre hat Guido Schäpe bei den Johannitern gearbeitet. Er hat sich fortgebildet, war erst Rettungssanitäter, dann Rettungsassistent, und seit 2017 Notfallsanitäter. Das ist die höchste Qualifikation nach dem Notarzt. Guido Schäpe ist ein großer Mann mit breitem Kreuz. Er ist politisch links eingestellt, so sagt er es über sich selbst. Aber noch mehr sagen das seine damaligen Kolleg:innen. Den langhaarigen Bombenleger aus Kreuzberg hätten sie ihn früher scherzhaft genannt. Damit kam er klar. Mit seiner Biografie war er auf der Wache eher der Außenseiter. Er hat jahrelang auf dem linken Musikfestival Fusion mitgearbeitet. Später war er für Sea Watch unterwegs und holte Geflüchtete aus dem Mittelmeer. „Wenn du einmal mit dem Rettungsdienst angefangen hast, dann willst du nie wieder etwas anderes arbeiten“, sagt Schäpe.

Nur habe das, was er mit dem Beruf verbunden hat – Menschen helfen, Leben retten – irgendwann nicht mehr zu dem gepasst, was er im Alltag erlebt habe. Verstärkt aufgefallen sei es ihm ab 2015, 2016, sagt Guido Schäpe.

Das, was manche Kol­le­g:in­nen in Köln von sich gaben, wurde eindeutiger, beunruhigender. Einige bekannten sich als AfD-Fans. Andere sprachen schlecht über Geflüchtete oder äußerten Reichsbürger-Parolen.

Und dann stehen im Sommer 2020 plötzlich die Nazi-Größen im Wandkalender. Der taz liegen Fotos davon vor. Es ist auf der Wache kein Geheimnis, wer die Namen eintrug. Mehrere Personen haben den Mann nach taz-Recherchen dabei beobachtet.

Es sind viele kleine Dinge, die zusammen ein dunkles Bild ergeben

Am 11. August 2020 schreibt Guido Schäpe eine Mail an seine Vorgesetzten bei den Johannitern, darunter der Regionalvorstand, der Wachleiter und der Dienstgruppenleiter. Auch die Mitarbeitendenvertretung ist im Verteiler.

„Liebe Kollegen“, schreibt Schäpe, „leider muss ich euch von erschreckenden Entwicklungen auf der FW 9 berichten. In dem Wandkalender, der im Aufenthaltsraum des Containers hängt, wurden mehrere Geburtstage von Nazigrößen eingetragen.“ Es gebe Zeugen dafür, wer das gemacht habe, aber niemand wolle etwas sagen, aus Angst vor Ausgrenzung. Es gebe eine „Mauer des Schweigens“, es herrsche ein „Klima der Angst“ auf der Feuerwache 9, schreibt er und schildert in der Mail weitere rechte Vorfälle. „Die Leitwerte [der] Johanniter und der Humanismus werden hier mit Füssen getreten.“

Der Regionalvorstand Reinhold Lapp-Scheben antwortet Schäpe am nächsten Tag, die Mail geht auch an den Wachleiter und den Dienstgruppenleiter. „Die derzeit im Raum stehenden Vorwürfe“ verlangten eine „zeitnahe und gründliche Aufklärung“, schreibt der Regionalvorstand. Und: „Als Johanniter können und wollen wir, sollten sich die Vorwürfe erhärten, diese nicht dulden.“ Er bittet um sachdienliche Hinweise. „Wichtig ist, dass wir zeitnah agieren“. Er werde auch mit dem ärztlichen Leiter des Rettungsdienst sprechen, gegebenenfalls müsse ein Rettungswagen außer Dienst genommen werden. Weil man sich von einigen Mitarbeitenden kurzfristig trennen müsse. Er klingt ziemlich entschlossen.

Doch dann eskaliert die Angelegenheit in eine unerwartete Richtung.

Der Regionalvorstand und der Wachleiter bekommen wieder Post, aber nicht von Guido Schäpe. „Betreff: Personeller Konflikt Feuer-/Rettungswache 9“. Unterschrieben haben den Brief 20 von gut 50 Mitarbeitenden der Wache, auch der Dienstgruppenleiter soll darunter gewesen sein, erfährt Schäpe. Formuliert hat das Schreiben offenbar der Mann, der die Namen der Nazis in den Kalender eintrug.

Die Organisation Die Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH) ist eine der großen Hilfsorganisationen in Deutschland. Sie gehört zum evangelischen Johanniterorden und betreibt unter anderem Kitas, Seniorenheime, Entwicklungshilfe und seit Beginn der Coronapandemie Impf- und Testzentren. Rund 46.000 Menschen engagieren sich dort ehrenamtlich, 29.000 arbeiten hauptamtlich für die JUH.

Der Rettungsdienst Deutschlandweit besetzt die JUH 301 Rettungswachen, 6.000 Johanniter arbeiten hauptamtlich im Rettungsdienst.

Das Geschäft Im Jahr 2021 hat die JUH 1,757 Milliarden Euro eingenommen, knapp ein Sechstel aus Spenden und Zuschüssen, der Großteil stammt aus bezahlten Diensten. Der Rettungsdienst und die medizinischen Leistungen bringen das meiste Geld ein: 720 Millionen Euro stammen aus Notfallrettung, Fahrdiensten, sowie Corona-Impf- und Testaktivitäten.

In dem Brief üben die Unterzeichnenden Kritik an Guido Schäpe. Er habe nur im Notarztfahrzeug eingesetzt werden wollen und nicht im Rettungswagen, er habe Wohnungen nicht betreten wollen, aus Angst vor einer Corona-Ansteckung. Dies sorge für „Unmut und Unverständnis bei der Mitarbeiterschaft“. Nachdem Guido Schäpe darauf angesprochen worden sei, heißt es im Brief weiter, habe er „als vermeintliche Ablenkung vom eigentlichen Problem zu einem großen Paukenschlag ausgeholt, indem er einen nicht vorhandenen ‚Rassismus-Eklat‘ ins Leben gerufen hat.“ Man werde es nicht hinnehmen, dass hier „in unerträglicher Art und Weise das Personal der Rettungswache 9 in Verbindung mit vermeintlichem ‚Rassismus‘ gebracht wird“. Guido Schäpe, so die Forderung, solle die Wache verlassen.

Nicht im Brief steht, dass auf der Wache einige Mitarbeitende als Corona-Leugner aufgefallen sind und Schutzmaßnahmen offenbar nicht immer richtig eingehalten wurden. Mehrere Mitarbeiter verbreiten online Querdenker-Parolen, einer bezeichnet Karl Lauterbach in seinem WhatsApp-Status als „Hurensohn“.

Und jetzt? Sollen nicht die rechten Retter gehen, sondern der Mann, der Rassismus und Rechtsextremismus angesprochen hat.

Es kommt zu Treffen auf unterschiedlichen Ebenen, zu 18 Einzelgesprächen mit Mitarbeitenden. „Aber es gab keinen Willen, dass sich was ändert“, sagt Guido Schäpe rückblickend. Der Wachleiter habe ihm empfohlen, die „Umfeldbeleuchtung“ auszumachen, nicht mehr schauen, was die anderen so machen. Und der Dienstgruppenleiter habe ihm nahegelegt, er solle nicht „dauernd in alten Wunden rumdrücken“. So erinnert sich Schäpe.

Der Wachleiter will nicht mit der taz sprechen, der damalige Regionalvorstand der Johanniter, Reinhold Lapp-Scheben, ist nicht zu erreichen, er ist inzwischen in Rente. Die Pressesprecherin der Johanniter Köln antwortet zunächst nur ausweichend auf Fragen. Der Mann, der die Namen in den Kalender geschrieben haben soll, stimmt einem Gespräch mit der taz erst zu, sagt dann aber wieder ab. Als wir ihm Fragen schicken, behauptet er, er wisse nichts von einem Kalender. Er habe mit Nazis nichts zu tun. Er schreibt: „Woher nehmen Sie diese schwachsinnigen Falschinformationen, wer startet hier eine Hetzkampagne?“

Nicht alle Kol­le­g:in­nen auf der Wache sehen die Situation so dramatisch wie Guido Schäpe. Der sei als Linker eben angeeckt, sei ein sehr emotionaler Mensch, habe provoziert. Zur Entschuldigung führten manche an: Auch die Geburtstage von Jesus und Stalin seien im Kalender vermerkt gewesen.

Lieber Hetze als Hilfe

Eine Rettungswache an einem anderen Ort in NRW, sie wird vom Malteser Hilfsdienst besetzt, einer weiteren großen Hilfsorganisation in Deutschland. Sie ist katholisch und hat das Motto: „… weil Nähe zählt“. Die Wache liegt in der Nähe eines Wohngebiets, grasfreie Pflasterfugen, Vorstadtidylle. Mehrere Rettungswagen sind hier stationiert, 24 Stunden Bereitschaft, dazu kommen Krankentransporte. Genauer können wir den Ort nicht beschreiben, um unsere Quellen zu schützen.

Die Mitarbeitenden hier kommunizieren in mehreren Chatgruppen, eine hat einen offiziellen Charakter, dort geht es zum Beispiel um Dienstpläne und den Tausch von Einsatzschichten. In einer anderen Gruppe geht es um solche dienstlichen Belange nur am Rande. Diese Chatgruppe konnte die taz einsehen.

Die Kol­le­g:in­nen schicken sich dort Fotos und teilen private Veranstaltungstipps. Vor allem machen sie Witze, posten Memes aus dem Internet. Einige davon haben Bezug zu ihrem Job, etwa der Spruch: „Mit der Leitstelle ist es wie mit Frauen. Wenn du glaubst, sie zu verstehen, bist du sicher komplett auf dem Holzweg“. Manche Männer und Frauen aus der Gruppe verschicken sexistische Motive, etwa eine Fotomontage von Greta Thunberg mit riesigen Brüsten.

Und dann sind da die rassistischen Inhalte. Ein Foto von Schwarzen mit Federschmuck, darüber steht, dass Kannibalen in Papua-Neuguinea Flüchtlinge aufnehmen würden und der Satz „Damit ist das Thema gegessen“. Einer verschickt das Foto von einem schwarzen Jungen, mit dem Text: „Das ist Mabuto, sein Schulweg beträgt täglich 3 Stunden. Spende jetzt 5€ und wir kaufen eine Peitsche und wir garantieren, dass der faule N***** es in 8 min schafft“. Das N-Wort ist ausgeschrieben.

Niemand in der Gruppe reagiert darauf. Niemand sagt: Lasst das.

Der Rettungsdienst, das hören wir immer wieder, ist ein hartes Geschäft. Aggressive Patientient:innen, anstrengende Einsätze, schlaflose Nächte. Da braucht man etwas, um sich abzureagieren – deswegen hätten viele im Rettungsdienst einen derben Humor. Nur ist das, was in den Chatgruppen geteilt wird, eben keine harmloses Witzeln mehr.

Der Rassismus beschränkt sich nicht auf die Chatgruppe. Auf der Malteser-Wache werden Mit­ar­bei­te­r:in­nen von ihren eigenen Kol­le­g:in­nen rassistisch beschimpft, ergibt unsere Recherche. Ein Mitarbeiter, der aus Iran nach Deutschland gekommen ist, wurde als „Kameltreiber“ bezeichnet, eine andere Mitarbeiterin mit Migrationshintergrund als „scheiß Ausländerin“.

Rettungsdienst-Mitarbeitende aus ganz Deutschland berichten von solchen Vorfällen. Eine junge Frau mit Migrationshintergrund, die ein Freiwilliges Soziales Jahr beim Arbeiter-Samariterbund abgebrochen hat, sagte der taz: „Es war die schlimmste Zeit meines Lebens.“ Wie sie sind es oft jüngere Personen, die für Rassismus und Sexismus sensibilisiert sind. Dahinter steht auch ein Generationenkonflikt beim Rettungsdienst: Die Jüngeren sind oft besser ausgebildet, haben aber weniger zu melden, weil sie in dem streng hierarchischen System weiter unten stehen.

Da ist der Sanitäter, der beim Einsatz im Fußballstadion die Spieler eines türkischen Vereins als „Dreckskanacken“ bezeichnete. Da ist der Dienstgruppenleiter, der einem Praktikanten sagte: „Deinen Nachname kann ich eh nicht aussprechen, ab sofort heißt du Isis oder Taliban“. Und da ist der Mann auf der Malteser-Rettungswache in NRW.

Illustration: Oliver Sperl

Ein Notfall in einem Flüchtlingsheim. Der Rettungsdienst-Mitarbeiter sagt: „Ich würde die Flüchtlinge lieber anzünden, als einem von ihnen zu helfen.“ Drumherum hätte ein knappes Dutzend Kol­le­g:in­nen gestanden, so schildert es eine Person, die dabei war. Die meisten hätten gelacht.

Der Landesverband der Malteser in Nordrhein-Westfalen teilt auf taz-Anfrage mit, diese Vorfälle seien auf Landesebene nicht bekannt. Man gehe ihnen „selbstverständlich unverzüglich“ nach. „Wir verurteilen so ein menschenverachtendes Verhalten, generell und insbesondere in unseren eigenen Reihen“, sagt ein Sprecher.

Die Sprüche unter Kol­le­g:in­nen sind das Eine. Sie sorgen dafür, dass etliche Sa­ni­tä­te­r:in­nen ihren Job weniger gern machen, besonders natürlich diejenigen, die direkt von rassistischen Bemerkungen betroffen sind. Sie kapseln sich auf der Wache ab, kündigen schließlich vielleicht. Aber dabei bleibt es nicht. Die rassistische Einstellung der rechten Retter hat auch Auswirkungen auf ihre zentrale Aufgabe: verletzten und kranken Menschen helfen. Leben retten. Wer in Not ist, muss dem Personal des Rettungsdienstes vertrauen. Man könnte sagen: Er oder sie ist diesen Menschen ausgeliefert, hat selten Chancen, sich zu wehren, weiß nicht, welche Diagnostik notwendig ist und welche nicht. Wer nicht gut Deutsch spricht, ist in der Not noch verletzlicher.

Werden schwarze, muslimische, eingewanderte Menschen schlechter behandelt als weiße Deutsche?

„Morbus Bosporus“

Es gibt einen Begriff, der in keinem normalen Medizinlehrbuch steht, der im Alltag des Rettungsdienstes aber in vielen Situationen benutzt wird, als sei er ein ganz normaler Fachbegriff: „Morbus Bosporus“. Manchmal ist auch von „Morbus Mediterraneus“ die Rede oder von dem „Südländer-Syndrom“. Manche sagen auch schlicht TMS. „Türke mit Schmerz“. Gemeint ist immer Dasselbe.

Die Begriffe werden verwendet bei Menschen, von denen angenommen wird, dass sie ursprünglich nicht aus Deutschland kommen, sondern irgendwo aus dem Süden, Mittelmeerraum, Naher Osten. Das wird an ihrem Aussehen festgemacht oder schlicht am Namen. Diese Menschen hätten ein anderes Schmerzempfinden – so sehen es offenbar viele im Rettungsdienst. Sie äußerten heftige Schmerzen, obwohl es gar nicht so schlimm sei. Man hält sie für Simulanten.

Wäre der Patient kein Türke gewesen, sondern blond und blauäugig, wäre ihm besser geholfen worden, vermutet ein Insider

Menschen gehen unterschiedlich mit Schmerz um. Es mag Hinweise geben, dass das auch kulturell bedingt ist. Für ihre Arbeit können Rettungskräfte daraus medizinisch begründet allerdings nichts ableiten. Dass es manche dennoch tun, hat Folgen: Pa­ti­en­t:in­nen werden schlechter behandelt, weil die von ihnen geäußerten Beschwerden nicht ernst genommen werden.

So halte es laut Schilderungen aus seinem Umfeld auch der Johanniter-Mitarbeiter, der die Nazi-Geburtstage in den Kalender geschrieben hat. Der Notfallsanitäter sei fachlich nicht schlecht, aber da sei eben seine Einstellung. Er trage stolz ein T-Shirt mit Deutschlandflagge, wenn er eine türkische Flagge sehe, rege er sich auf: „Ich hasse Türken“. Und Einsätze bei Menschen mit Migrationshintergrund seien für ihn oft: „nur Pillepalle“. In Köln-Mülheim leben viele Menschen mit Migrationshintergrund.

Wir bekommen diesen Vorfall geschildert: Ein Patient, der nur türkisch spricht, ist apathisch, kaltschweißig, sehr blass. Das sind durchaus Anzeichen für schwerwiegende Krankheiten. Der Notfallsanitäter sieht das anders, er bleibt während des Einsatzes im Führerhaus sitzen. Der Rettungssanitäter und der Auszubildende müssen alleine raus. Sie rufen die Tochter des Patienten an, damit sie übersetzt. „Wäre der Patient blond gewesen, mit blauen Augen, hätte er den Einsatz sofort übernommen“, sagt ein damaliger Kollege.

„Morbus Bosporus“, immer wieder: „Ich habe den Begriff bestimmt hundertmal gehört“, sagt ein langjähriger Notfallsanitäter, der für das Deutsche Rote Kreuz in Rheinland-Pfalz und Hessen im Einsatz war. Einer aus Niedersachsen sagt: „Jeder im Rettungsdienst kennt diesen Begriff“. Er habe die Bezeichnung sogar schon in Arztbriefen gelesen, berichtet ein leitender Rettungsdienst-Mitarbeiter aus Berlin.

Dass die diskriminierende Pseudo-Anamnese mit Begriffen wie „Morbus Bosporus“ ein Problem ist, hat auch Guido Schäpe in der Mail an seine Vorgesetzten erwähnt. Passiert ist: nichts.

Eine Sprecherin der Johanniter Köln bezeichnet den Begriff auf Anfrage als „absolut inakzeptable Bezeichnung“, die die Gefahr von „unvollständigen diagnostischen Maßnahmen“ berge.

Wie schlimm sind die Folgen für Betroffene, wenn Rettungsdienstmitarbeitende rassistische Vorurteile haben?

Allzu oft lässt sich das nur schwer sagen. Bei Notfallbehandlungen besteht ein gewisser Ermessensspielraum: Legt man nach einem Sturz ein EKG an, weil es eine organische Ursache geben könnte? Lässt man einen Verletzten zum Rettungswagen laufen oder trägt man ihn? Mehrere Ret­tungs­dienst­mit­ar­bei­te­r:in­nen berichten der taz, dass sie erlebt haben, wie dieser Spielraum bei von Rassismus betroffene Menschen eher weit ausgedehnt wird, und das nicht zu Gunsten der Patient:innen. Wir können zum Schutz der Quellen diese nicht genauer angeben.

Ein weiterer Einsatz der Johanniter in Köln: Eine Frau mit Kopftuch krümmt sich auf der Straße plötzlich unter heftigen Unterleibschmerzen, liegt in Embryohaltung auf dem Boden, Passanten wählen die 112. Aber die Rettungsdienstler nehmen das nicht richtig ernst. Nach dem Einsatz hätten sie Witze gemacht, „über das Kopftuch abgefuckt“ und gemeint, nur wegen der Regelblutung „macht die so ne Show“, dabei sei noch gar nicht klar gewesen, was sie hatte.

Auch auf der Malteser-Wache in NRW berichtet man uns, dass viele Kollegen bestimmten Menschen nicht helfen wollten: „Die haben keinen Bock auf die Behandlung von Geflüchteten.“ Sie würden dann keine richtige Anamnese erheben, keine Vitalparameter, sie würden nicht viel fragen und die Pa­ti­en­t:in­nen nur in den Rettungswagen verfrachten und ins Krankenhaus fahren.

Rettungssanitäter:innen Sie fahren den Rettungswagen und assistieren dem höher qualifizierten Notfallsanitäter oder Notarzt. Rettungssanitäter:in ist kein anerkannter Ausbildungsberuf, er endet mit einem Zeugnis. Erreicht wird dieses mit einem 520-stündigen Lehrgang.

Rettungsassistent:innen Dies war der erste staatlich anerkannte Beruf im Rettungsdienst. Mit der Einführung des Notfallsanitätergesetzes im Jahr 2014 wurde der Beruf des Rettungsassistenten durch den des Notfallsanitäters abgelöst.

Notfallsanitäter:innen Die Berufsbezeichnung existiert seit 2014 und ist die höchste nichtärztliche Qualifikation im Rettungsdienst. Die Ausbildung dauert drei Jahre. Dabei lernen die Auszubildenden die notfallmedizinische Versorgung eigenverantwortlich durchzuführen, bis der oder die Notärzt:in eintrifft. Sie haben dafür Kompetenzen, die der Vorgängerberuf des Rettungsassistenten nicht hatte. In einem Rettungswagen sitzt in der Regel ein:e Rettungssanitäter:in und der:die Notfallsanitäter:in.

Die Anbieter In den meisten Kommunen übernimmt die Feuerwehr einen Teil des Rettungsdienstes. Den Rest teilen sich Hilfsorganisationen und private Anbieter. Der mit Abstand größte nichtstaatliche Anbieter ist das Deutsche Rote Kreuz, gefolgt von den Johannitern, dem Malteser Hilfsdienst und dem Arbeiter-Samariter Bund.

Wer versucht, nachzuweisen, dass ein Notfallpatient schlechter behandelt wurde, weil er nicht weiß ist oder einen arabisch klingenden Nachnamen hat, hat es schwer. Das zeigt ein Fall aus Delmenhorst, der in der Öffentlichkeit immerhin für Empörung gesorgt hat.

Dort starb im März 2021 der 19-jährige Qosay K. in Polizeigewahrsam. Warum, das ist bis heute unklar. Aber seine Freunde und Familie glauben, dass sein Tod hätte verhindert werden können, wenn zwei Rettungsdienstmitarbeitende ihn besser behandelt hätten.

Qosay K. war mit einem Freund von Polizisten beim Kiffen erwischt worden. Als er zu entkommen versuchte, setzten die Polizisten Pfefferspray ein, warfen K. zu Boden und fesselten ihn. Routinemäßig wurde ein Krankenwagen dazu gerufen, aber die Rettungskräfte behandelten Qosay K. nicht. Er habe die Hilfe verweigert, gaben sie später an. Eine Stunde nach dem Eintreffen kollabierte K. auf der Polizeistation und wachte nicht mehr auf.

Die Anwältin Lea Voigt vertritt die Angehörigen von Qosay K. Sie hat Anzeige gegen die Polizisten und gegen die beiden Rettungskräfte erstattet, unter anderem wegen unterlassener Hilfeleistung. Ein Freund von Qosay K., der bei der Festnahme dabei war, sagte damals der taz, dass Qosay K. den Rettungsskräften deutlich gezeigt habe, dass er unter der Wirkung des Pfeffersprays litt. Er habe gesagt, dass ihm übel sei, er keine Luft bekomme. „Daraufhin meinte der Sanitäter, dass er gerade schauspielere“, sagt der Augenzeuge.

Anwältin Voigt sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass Qosay K. unmittelbar am Pfefferspray gestorben ist. „Aber hätten die Sanitäter ihn am Ort der Festnahme ordentlich untersucht, hätten sie den Grund für sein Unwohlsein vielleicht gefunden und damit seinen Tod verhindern können.“

Der Delmenhorster Rettungsdienst-Chef wies die Vorwürfe zurück. Drei Monate nach dem Tod von Qosay K. wurde das Verfahren gegen die Rettungskräfte eingestellt. Rettungskräfte seien nicht zur Hilfe verpflichtet, wenn jemand Hilfe ablehne, so die Staatsanwaltschaft.

Fehlende Kontrolle

Wenige haben so viel Erfahrung im Rettungsdienst wie der Arzt Alex Lechleuthner, weißer Vollbart, 63 Jahre alt. Seit 1994 ist er bei der Feuerwehr in Köln tätig, seit 1996 sitzt er im Landesfachbeirat für den Rettungsdienst beim Ministerium für Gesundheit in NRW, Professor ist er nebenbei auch noch. 2020 wurde er mit dem Deutschen Preis für Notfallmedizin ausgezeichnet.

Illustration: Oliver Sperl

Lechleuthner ist „Ärztlicher Leiter Rettungsdienst in Köln“ und damit oberster Chef für knapp 2.000 Mitarbeitende. 170.000 Einsätze fahren die im Jahr. Einmal pro Woche ist er selbst noch als Notarzt unterwegs, er will den Bezug zum Alltag nicht verlieren.

In den meisten Kommunen ist der Rettungsdienst ähnlich organisiert wie in Köln: Die Berufsfeuerwehr löscht nicht nur Brände, sie fährt auch einen relevanten Teil des Rettungsdienstes. Den Rest erbringen Dienstleister wie die Johanniter und Malteser. Der ärztliche Leiter hat die Aufgabe, die Qualität der Rettungsdienste zu sichern.

Bei einem Videogespräch im Juni sitzt Alex Lechleuthner in seinem Büro in Köln. Er will erst mal ein paar grundsätzliche Dinge sagen.

Die Leute, die in diesem Job arbeiteten, seien vom Grundsatz her gut. „Aber sie stehen unter hohem Druck. Da kann schonmal etwas passieren.“ Denn die Arbeit eines Rettungsdienstmitarbeiters sei oft die eines Streetworkers. „Wir haben häufig mit Patienten zu tun, die den Rettungsdienst gar nicht gerufen haben – die obdachlos sind, oder im Drogenmilieu“, sagt er. „Da müssen Sie dann häufig erstmal Konflikte schlichten.“

Wir sprechen ihn auf rechtsextreme Vorfälle an. Lechleuthner sagt, solche Vorfälle müssten bei ihm landen. Er würde sie dann bewerten: Einzelfall oder systematisches Problem? Man würde solche Dinge mit der jeweiligen Hilfsorganisation dann „umfänglich besprechen“.

Begriffe Der Arbeiter-Samariter-Bund verneint, dass die rassistischen Ausdrücke „Morbus Bosporus“ bzw. „Morbus Mediterraneus“ gängige Begriffe unter seinen Rettungskräften seien. Der Malteser Hilfsdienst teilt mit: „Wir müssen erschüttert feststellen, dass diese Begrifflichkeiten (....) auch zunehmend in den Rettungsdienst der Malteser Einzug gehalten haben.“ Seitens der Johanniter Unfallhilfe heißt es: „Die genannten Begriffe waren uns bislang nicht bekannt.“ Sie stellten eine „Herabwürdigung der betreffenden Patienten dar, (...) gegen die wir, sollte uns diese aus dem Kreis unserer Mitarbeitenden bekannt werden, konsequent vorgehen würden“. Das Deutsche Rote Kreuz teilte mit, dass es pauschal keine „Einordung ihrer Bedeutung, Interpretation oder Auslegung“ vornehmen könne.

Vorfälle Die vier Organisationen haben 2007 eine „Gemeinsame Erklärung gegen Rechtsextremismus“ verabschiedet. Man begleite Mitarbeitende „im kompetenten Umgang mit rechtsextremistischen Phänomenen und unterstütze sie bei den dabei auftretenden Konflikten und Interessenskollisionen“, heißt es darin. Alle teilten mit, dass ihnen auf Bundesebene keine Vorfälle oder Disziplinarmaßnahmen mit Rechtsextremismusbezug bekannt seien.

Nur: Der Ärztliche Leiter bekommt offenbar sehr wenig von diesen Vorfällen mit. „Ich kenne da nur einen einzigen konkreten Fall“, sagt er, „aber der ist abgeschlossen und Jahre her. Das haben wir zur Zufriedenheit aller gelöst.“ Die Vorfälle auf der Feuerwache 9? Nie davon gehört, sagt Lechleuthner. Auf taz-Nachfrage räumt eine Sprecherin der Johanniter Köln ein, dass Lechleuthner nie offiziell informiert wurde.

Die taz hat im Juli 2022 in den zwanzig größten Städten gefragt, ob es bei den dortigen Rettungsdiensten rassistische oder sexistische Vorfälle gab. Die jeweiligen Ärztlichen Leiter des Rettungsdienstes müssten es erfahren, wenn gegen ein:e Sa­ni­tä­te­r:in Disziplinarmaßnahmen eingeleitet wurden. Wer die Antworten aus den Rathäusern liest, könnte sich denken: Alles bestens. Denn dort sind so gut wie keine Vorfälle bekannt.

Nur Bremen, Berlin, Düsseldorf und Dresden listen ein paar Dinge auf. In Berlin wurde strafrechtlich ermittelt wegen rechtsextremer Verdachtsfälle bei der Feuerwehr. Über einen Mitarbeiter in Düsseldorf wurde bekannt, dass er Mitglied der Neonazi-Vereinigung „Bruderschaft Deutschland“ war, er wurde in ein Aussteigerprogramm für Rechtsextreme geschickt.

Es ist kein Zufall, dass vor allem dort Fälle genannt werden, wo Medien bereits berichtet hatten. In Hamburg hat es demnach „mehrere wenige Fälle“ gegeben, in denen sich Mitarbeitende in beleidigender und sexistischer Art auch gegenüber Pa­ti­en­t:in­nen und nicht nur gegenüber Kol­le­g:in­nen äußerten.

Wir haben die Kommunen auch gefragt, ob die Begriffe „Morbus Bosporus“ oder „Morbus Mediterraneus“ im Rettungsdienst gebraucht werden. Alle antworten: nein. Aus Dresden heißt es, die Begriffe seien „weder bekannt, noch werden sie im Rettungsdienstbereich Dresden verwendet“. Ein Sprecher der Stadt Bochum schreibt, den Begriff „Morbus Bosporus“ gebe es bei ihnen nicht, daher müssten die Mitarbeitenden dazu auch nicht geschult werden.

Es klingt so, als hätten viele Verantwortlichen noch nie mit den Hilfsorganisationen gesprochen. Und schon gar nicht mit denen, die täglich im Rettungswagen unterwegs sind.

Auch Alex Lechleuthner behauptet: „Morbus Bosporus ist kein gängiger Begriff unter Mitarbeitern des Rettungsdienstes in Köln.“ Versucht er, Dinge unter den Tisch zu kehren? Oder weiß er wirklich nicht, was in dem Dienst vorgeht, den er verantwortet?

Für Letzteres spricht, wie Lechleuthner seine Aufgabe definiert: „Mir ist es wichtig, dass die Mitarbeiter im Rettungsdienst wissen, dass ich nicht derjenige bin, der sie nur negativ beurteilt“, sagt er. Bei den vielen belastenden Einsätzen könne es schonmal sein, dass die Rettungsdienstleute nicht souverän reagieren. „Aber so etwas müssen Sie im Gesamtkontext beurteilen, ich will da nicht der Schiedsrichter sein.“

Aber wer dann? Die Hilfsorganisationen selbst haben kein Interesse daran, Probleme offenzulegen und am Bild des Rettungsdienstes zu kratzen. Sie wollen ja auch in Zukunft beauftragt werden – und Geld verdienen. In Köln bekommen die Johanniter allein für den Rettungsdienst rund 11 Millionen Euro im Jahr überwiesen.

Lebensretter:innen, das sind eigentlich die Guten. Aber es gibt eben auch die Rettungsrambos, denen es gefällt, Macht zu haben. Das ist ein Begriff, den wir tatsächlich von Sa­ni­tä­te­r:in­nen selbst hören. Mit Blaulicht und Martinshorn durch die Stadt heizen. Dass Menschen auf sie angewiesen sind. Mächtig sein wie ein:e Po­li­zis­t:in oder Soldat:in. Ohne Waffe zwar, aber mit der Entscheidungsgewalt über Leben oder Tod. „Manche glauben, sie seien Gott“, sagt eine Rettungsdienst-Mitarbeitende.

Die Hilfsorganisationen, das sind keine kleinen Vereine, auch wenn es so klingen mag. Faktisch sind sie große Konzerne. Die Johanniter etwa machen mehr als 1,5 Milliarden Euro Umsatz im Jahr, mehr als ein Drittel davon mit dem Rettungsdienst und Krankentransporten. Ein gutes Image ist wichtig. Die Sa­ni­tä­te­r:in­nen sind in gewisser Weise immer auch Werbefiguren, wenn ein Rettungswagen mit leuchtendem Schriftzug auf der Straße steht, bringt das womöglich den einen oder die andere dazu, an die Organisation zu spenden.

Und noch entscheidender: der Personalmangel. Bundesweit fehlen rund 20 bis 25 Prozent der benötigten Rettungskräfte, schätzt die Gewerkschaft für die Beschäftigten der Kommunen. Von Schleswig-Holstein bis Bayern klagen die Verbände über Fachkräftemangel – bei steigenden Einsatzzahlen. Die Situation dürfte sich in den kommenden Jahren mit einer Gesellschaft, die immer älter wird noch verschlimmern.

Das oberste Ziel der Rettungsdienst-Organisationen ist es, die Schichten besetzt zu bekommen – erst der Dienstplan, dann die Moral. Jemanden zu kündigen, können sich die Organisationen kaum leisten. Deswegen können sich die Mitarbeitenden viel herausnehmen. Das fängt beim Zuspätkommen an, geht über schlampiges Desinfizieren des Rettungswagens und endet mitunter bei offenem Rechtsextremismus.

NS-Marschmusik

Martin N. (Name geändert) fängt im März 2021 als Rettungssanitäter in Frechen an, einer Mittelstadt im Rheinland, im Nebenjob. Er bleibt nicht einmal drei Tage, dann kündigt er. Er hält es einfach nicht aus.

Die Wache Frechen ist ein graubrauner Klotz am Stadtrand, eröffnet 2017, nebenan das Gymnasium. Das alte Gebäude war zu klein geworden, in der modernen Wache ist alles unter einem Dach: die freiwillige und die Berufsfeuerwehr, der Rettungsdienst. Auf den Wägen steht: „Wir fahren – damit Sie leben“. Für den Rettungsdienst ist hier die Feuerwehr zuständig, die der Stadtverwaltung untersteht.

Es gab in den vergangenen Jahren einige Rechtsextremismus-Skandale bei deutschen Feuerwehren – den wohl schwersten in Bremen: Im Herbst 2020 flogen dort Chatgruppen mit Hakenkreuzen, rassistischen, antisemitischen und sexistischen Sprüchen auf. Eine Sonderermittlerin des Bremer Senats sprach von gravierenden Missstände bei der Berufsfeuerwehr und von einer zum Teil „rückständigen, autoritären und angstbesetzten Führungskultur“. Ein Beamter ist nach wie vor suspendiert, bei vollen Bezügen. Die Staatsanwaltschaft hatte wegen Volksverhetzung gegen ihn ermittelt, das Verfahren aber mittlerweile eingestellt. Drei weitere Beamte mussten disziplinarische Geldbußen bezahlen, arbeiten aber bis heute weiter zusammen auf der Problemwache. Gegangen ist nur die Frau, die den Skandal öffentlich gemacht hatte.

Auch auf der Wache in Frechen fällt Martin N. sofort auf, dass seine neuen Kollegen rassistische und frauenverachtende Wörter nutzen. Ausschlaggebend für seine Kündigung sei gewesen, was sich schon an seinem zweiten Tag bei Dienstantritt abgespielt habe.

„Die Verharmlosung (wenn nicht gar Verherrlichung) nationalsozialistischen Gedankenguts erlebte ich, als das Handy eines Beamten klingelte“, schreibt er in seiner Kündigung an seinen Vorgesetzten. „Als Klingelton erschallte ein nationalsozialistisches Marschlied.“

Im Gespräch mit der taz beschreibt N. die Situation so: Es ist Dienstagfrüh, die Übergabe von der einen Wachabteilung zur anderen läuft, die Besatzungen der Rettungs- und Krankenwagen sowie der Löschfahrzeuge, treffen sich. Von der anderen Seite des Raums habe er Musik gehört und erst gedacht, es sei ein Klingelton, vielleicht habe aber auch jemand absichtlich etwas auf dem Handy abgespielt: das NS-Marschlied „Erika“, mit Text. „Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein, Und das heißt: Erika“, heißt es darin.

Er habe das Lied erkannt, sagt Martin N., weil er kurz zuvor eine Doku über rechte Symbolik angeschaut habe, in der das Lied vorgekommen sei. Tatsächlich wird es im Internet häufig zur Untermalung rechter Inhalte verwendet. Komponiert hat es Herms Niel, Hitlers musikalischer Oberzeremonienmeister. Das Lied ist nicht verboten, aber es ist unzweifelhaft ein Propagandawerk der Nazis. Als das Lied auf der Wache losging, hätten aus allen Ecken Leute schallend gelacht, sagt N. Auch der Feuerwehr-Chef sei im Raum gewesen, „er müsste das mitbekommen haben.“

Guido Schäpe, der nach seinem Protest gegen rechtsextreme Neigungen im Rettungsdienstkollegium erst krank und dann fristlos gekündigt wurde

„Ich möchte, dass sich im Rettungsdienst wirklich etwas ändert“

Martin N. hat seine Kündigung auch an mehrere Mit­ar­bei­te­r:in­nen der Stadtverwaltung geschickt. Und betont: Das Verhalten seiner Kollegen sei nicht mit seinen Wertvorstellungen zu vereinbaren, „gerade in einem Berufsfeld, welches dadurch geprägt wird, jedem Menschen in Not zur Hilfe zu eilen“.

Gab es Konsequenzen? Der Feuerwehrchef ist für die taz nicht zu erreichen, er sei längerfristig erkrankt, heißt es. Sein Vertreter meldet sich von sich aus, als er mitbekommt, dass wir recherchieren, und verweist auf den Pressesprecher der Stadt. Der schreibt per Mail, dass man dem Hinweis nachgegangen sei und Gespräche mit Vorgesetzten und Mitarbeitenden geführt habe. Im Ergebnis sei man zu der „gesicherten Erkenntnis“ gekommen, dass es sich bei dem Klingelton nicht um das NS-Marschlied gehandelt habe. Es sei das „Steigerlied“ gewesen, das „in unserer Region der Tradition des Bergbaus/Kohleabbaus zugeschrieben wird“. Ein Lied, das ganz anders klingt und einen völlig anderen Text hat. Auf die mehrfache Nachfrage, wie genau man zu der „gesicherten Erkenntnis“ gekommen sei, antwortet der Sprecher nur, es sei alles gesagt.

Immer noch da

Nach dem Vorfall mit dem Geburtstagskalender lässt sich Guido Schäpe krank schreiben. Im Juni 2021 wird er fristlos gekündigt. Dagegen klagt er vor dem Arbeitsgericht. Er erhält eine Abfindung und verlässt die Johanniter. Nun hat er sich entschieden, an die Öffentlichkeit zu gehen, mit seinem vollen Namen, denn: „Ich möchte, dass sich im Rettungsdienst wirklich etwas ändert“. Die internen Beschwerden hätten ja nichts bewirkt. Er sagt, er möchte andere ermutigen, ebenso den Mund aufzumachen, wenn sie etwas mitbekommen, das nicht in Ordnung sei. Auch er selbst habe zu lange geschwiegen.

Guido Schäpe ist nicht der einzige, der sich in seiner Zeit bei den Johannitern gemobbt fühlt. Andere Kollegen haben ebenfalls deswegen die Wache verlassen. Einer beklagt sich, er sei von Vorgesetzen angeschrien und beleidigt worden.

Doch auch die Problemfälle gehen: Der Mann, der die Nazi-Namen in den Kalender geschrieben haben soll. Der Mann mit der Reichsbürgerproganda, der mit allen möglichen Verschwörungserzählungen aufgefallen ist: Er hat im Kol­le­g:in­nen­kreis von Reptiloiden erzählt und ist auch schon mal nach einem Einsatz mit dem Rettungswagen auf eine Wiese gefahren, um „Chemtrails“ am Himmel zu fotografieren. Er wechselte zum Roten Kreuz in einen Nachbarkreis. Es kursieren Erzählungen, was er dort gemacht haben soll: Impfbescheinigungen zerrissen, die Radmuttern eines Dienstfahrzeugs gelöst, gedroht, etwas anzuzünden. Auf taz-Anfrage schreibt er, dass er sich nicht äußern möchte. Eine Sprecherin des DRK-Verbandes sagt, die Vorwürfe seien ihr nicht bekannt. Fakt ist, dass der Mann auch diese neue Stelle wieder verlassen hat.

Die Johanniter in Köln antworten schließlich doch noch auf manche unserer Nachfragen. Leider habe man die Person, die die Namen in den Kalender geschrieben hat, nicht feststellen können, schreibt die Sprecherin. Und: „Aus heutiger Sicht müssen wir konstatieren, dass es im Sommer 2020 erkennbar Fehlentwicklungen und Fehlverhalten in der Rettungswache gegeben hat“. Sie kündigt eine „engagierte Untersuchung“ des Vorgehens von 2020 an und dass man sich „intensiv Präventionsmaßnahmen widmen“ werde.

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Grundsätzlich wird Ärger im Rettungsdienst gern geräuschlos geregelt. Im Zweifel gibt es eine Abfindung. Aber das ist offenbar gar nicht immer nötig: Mitarbeitende, die negativ aufgefallen sind, wechseln einfach den Arbeitgeber. Sie werden schließlich überall gebraucht.

Auch die beiden Rettungsdienstmitarbeitenden von der Feuerwache 9, die für ihre Nähe zur Identitären Bewegung bekannt waren, sind nicht mehr bei den Johannitern in Köln beschäftigt. Sie sind nun im Rheinisch-Bergischen Kreis tätig, immer noch gemeinsam, immer noch bei den Johannitern. Als wir einen der beiden Männer anrufen, sagt er, er kenne die Identitäre Bewegung nicht und wolle nicht in eine Schublade gesteckt werden. „Ich habe kein Interesse an dieser Fragerei“, sagt er und legt auf.

Laut den internen Regularien der Johanniter müssen beide Regionalverbände zustimmen, wenn Angestellte von einem in den anderen wechseln. Offenkundig Rechtsradikale können also einfach weiterziehen, es scheint keinen zu interessieren.

Der Notfallsanitäter, der die Nazi-Größen in den Wandkalender eintrug, einen Hass auf Türken hegt und der offenbar nicht alle Pa­ti­en­t:in­nen gleichermaßen behandeln will, arbeitet inzwischen wieder für die Johanniter auf der Feuerwache 9 in Köln-Mülheim. Die dortige Mitarbeitervertretung hat der Wiedereinstellung zugestimmt. Er ist als Praxisanleiter auch für die Ausbildung neuer Kol­le­g:in­nen zuständig.

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