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Die ersten Reaktionen auf MünchenWas sich jetzt gehört

Lin Hierse
Kommentar von Lin Hierse

In München rast ein Auto in eine Demonstration, tatverdächtig ist ein junger Afghane. Doch jetzt gehören sich keine politischen Migrations-Debatten.

Im Anbetracht der Geschehnisse sollte Menschlichkeit das Gebot der Stunde sein Foto: Michael Fischer/dpa

J etzt tue ich etwas, das wir hier eigentlich nicht tun. Denn in einem Zeitungskommentar gehört sich in der Regel kein „Ich“, es gehört sich eine möglichst ausgeruhte und fundierte Betrachtung, Analyse und Beurteilung der Dinge. Aber die Nachrichten lauten: Ein Auto rast in eine Menschenmenge. Mindestens 28 Personen sind verletzt, mehrere von ihnen schwer. Der Tatverdächtige wurde gefasst, es handelt sich um einen 24-jährigen Mann afghanischer Herkunft.

Der bayerische Ministerpräsident sprach sehr früh von einem „mutmaßlichen Anschlag“. Der Kanzler fordert, den Verdächtigen nach einem Gerichtsverfahren sofort abzuschieben. Die Bundesinnenministerin brüstet sich damit, dass Deutschland als einziges Land in Europa wieder nach Afghanistan abschiebe und das weiterhin tun werde. Was gehört sich, wenn etwas so Schreckliches geschieht, während alles auf Wahlkampf steht? Wenn der Schock, das Entsetzen, das Mitgefühl mit den Opfern sofort abgelöst und überschrieben werden von der Frage: Wem nützt diese schreckliche Tat, und wem schadet sie?

Ich finde, es gehört sich, ein Mensch zu sein. Es ist zu leicht geworden, das zu vergessen, bei all der Kurzatmigkeit und der neuen Geschwindigkeit des Weltgeschehens. Mensch zu sein ist wichtig – zuallererst und vor jeder weiterführenden politischen Analyse und Forderung, vor jedem Rechthabenwollen und vor jeder begründeten Sorge davor, wie eine solche Schreckenstat diese Gesellschaft formen wird. Das Menschsein wird gerade viel zu oft übersprungen.

Dabei gehört es sich, bei den Opfern zu bleiben, länger als für eine Eilmeldung. Es gehört sich, mit ihnen zu trauern und den Täter vor Gericht zu stellen. Es gehört sich, darüber nachzudenken, wie Sicherheit gewährleistet werden kann, während die Gefahr durch Anschläge steigt. Und es gehört sich ebenso, Präzision einzufordern und nicht einzuzahlen in die rassistische Verschränkung von Migrations- und Sicherheitsdebatten. Denn auch wenn es anders versprochen wird: Es gibt keine einfachen Antworten.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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12 Kommentare

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  • Zitat: "Doch jetzt gehören sich keine politischen Migrations-Debatten."

    Das "Nicht-darüber-reden-dürfen" ist übrigens einer der Vorwürfe rechter Populisten an uns.

    Ich halte das für keine gute Strategie.

  • Es gehört sich eine realistische Diskussion über Erwartungen, Defizite, Versäumnisse, Folgen und Notwendigkeiten. Auf allen Seiten. Und es gehört sich eine Betrachtung von Macht und dem Ausüben von Macht.

  • Nicht alleine aus Wahlkampfgründen wird sich die Debatte zuspitzen und es werden die altbekannten Versprechen gemacht, denn es gilt einzig vom Versagen der staatlichen Stellen abzulenken.

    Die Anzahl der Anschläge häufen sich und das in immer kürzeren Abständen. Da ist die Besorgnis und teilweise auch die Wut in der Bevölkerung nachvollziehbar. Sie trifft nur meist die Falschen. Nicht Migranten sind dafür in Haftung zu nehmen wenn der Staat seinen Aufgaben nicht nachkommt.

    Einige der Attentäter waren ausreisepflichtig, andere hatten psychische Auffälligkeiten. Beides war den jeweiligen Behörden bekannt, gehandelt wurde nicht.

    Ich finde es verabscheuungswürdig wie sich die ewig gleichen Protagonisten jetzt wieder positionieren, noch härtere und vorallem nutzlose Maßnahmen ersinnen und eine Zielgruppe als Sündenbock benennen, anstatt sich das eigene Versagen im stillen einzugestehen und die strukturellen Probleme überhaupt einmal anzugehen.

    Wenn den politisch Verantwortlichen dazu jedoch nicht mehr einfällt, als die Mittel für Integration zu kürzen, verwundert einen der Rest auch nicht mehr.

  • Es wird in der Tat angesichts solcher Anschläge langsam zu einer echten Herausforderung, den Argumenten der Gegner*innen von Zuwanderung und Integration etwas entgegenzusetzen. Trotzdem sollten wir immer unsere Menschlichkeit bewahren und allen Geflüchteten und Migrant*innen gegenüber weiterhin unsere Solidarität zeigen. Ich zumindest werde mich an diesen Grundsatz halten, auch wenn Kolleg*innen von mir durch den heutigen Anschlag zu Schaden kamen. Ihnen allen wünsche ich von Herzen eine gute und baldige Genesung!

  • Geltendes Recht muss endlich konsequent umgesetzt werden und nicht nur Absichtsbekundungen und Gerede und so gut wie Nichts passiert. Daran haben Linke und Grüne einen nicht geringen Anteil.

    • @Filou:

      Geltendes Recht ist zunächst mal, dass JEDER als unschuldig gilt, bis seine Schuld bewiesen ist. Kollektivbestrafung ist nicht "geltendes Recht" und Generalverdacht auch nicht.

      Man kann darüber diskutieren, inwieweit Jemand, der schutzsuchend ins Land kommt und sich hier schuldig macht, den Schutz verwirkt und ohne Weiteres abgeschoben werden kann. Aber dieser Staat tötet, foltert und ent-menschenrechtet niemanden zur Strafe für getanes Unrecht, also ist auch die Abschiebung in ein Land, wo ihm das absehbar passiert, keine mit geltendem Recht zu vereinbarende Lösung. Und solche Menschen einfach irgendwo abzukippen, geht aus diversen "geltenden" Rechtsgründen auch nicht.

      Die Forderung, endlich geltendes Recht umzusetzen, ist daher unterkomplex. Man müsste das Recht schon tiefgreifendend ändern. Dazu gehört aber mehr als nur der Wunsch, sich bestimmte Exzesse nicht gefallen zu lassen. Dafür muss man auch die Opfer bringen wollen, die eine Verabschiedung von grundsätzlichen Idealen und internationalen Verpflichtungen fordert. Wer A sagt, muss auch B sagen (und gegebenenfalls noch übler schmeckende Cs in die zunehmend hässliche Fresse kriegen).

      Meinten Sie das mit Ihrer Forderung?

  • "Was sich jetzt gehört" ?



    Ja was wohl. Das wenigsten die sich demokratisch nennenden Parteien verbal und politisch abrüsten. Es ist doch nicht mehr zum Aushalten, dieses Reindreschen auf Menschen, für mich als "Bio-Deutschen".



    Die USA unter Trump sind kein Vorbild.



    Da sind eine Horde Gesetzloser an der Macht.



    Angesichts dessen, was in Österreich passiert, Frau Weidel bei Orban, Merz mit der AfD.



    Wie verluderter kann's noch werden. Fragezeichen.

  • Immer die selben Worthülsen nach so einer Tat. Ich habe das Gefühl diesen Artikel schon zigmal gelesen zu haben.

  • Ich fühle mich nicht mehr sicher in diesem Land. Und das wird sich bei der Wahl wiederspiegeln.

    • @Wonneproppen:

      Da versuche ich gerne zu ihrer Beruhigung beizutragen. Das Risiko Opfer eines Attentats zu werden liegt bei 1:27,3 Millionen (0,0000037 Prozent).

      Hingegen kommt in Deutschland eine von 110 Personen (0,91 Prozent) an den Folgen einer ungesunden Ernährung ums Leben.

      Es liegt zwar in der Natur des Menschen, dass je öfter eine besondere Bedrohung visuell und informativ zur Verfügung steht, sie einem desto eher als real erscheint, der persönliche Fokus sollte aber doch eher auf die tatsächlichen Gefahren ausgerichtet sein.

      Das auch bitte bei der Wahlentscheidung berücksichtigen - hinsichtlich der Gefahr.

      Quelle Canada Life Studie 2019, Max Planck Institut 2023

    • @Wonneproppen:

      Inwiefern wird sich bei der Wahl widerspiegeln, dass Sie sich nicht mehr sicher fühlen? Hat Ihre Stimme mehr Gewicht als andere?

  • Was sich jetzt gehört? Auch wenn Kinder sterben und Menschen angefahren werden, muss die woke Haltung bewahrt werden. Nicht zurückweichen!