Pisa-Schock für deutsche Schüler:innen: Im freien Fall
Neuntklässler:innen schneiden in der Pisa-Studie so miserabel ab wie noch nie – in allen getesteten Bereichen. Corona erklärt den Trend nur zum Teil.
Und die sind tatsächlich drastisch: In keiner vorherigen Untersuchung schnitten deutsche Neuntklässler:innen so schlecht ab wie dieses Mal. Und das in allen drei getesteten Bereichen: Mathematik, Lesen, Naturwissenschaften. Von einem „Abfall in nie da gewesenem Ausmaß“ spricht Francesco Avvisati, einer der Autoren der Studie.
Am stärksten abgesackt ist die durchschnittliche Punktezahl in Mathe, dem Bereich, der bei dieser Studie im Fokus stand: In allen vorherigen Pisa-Tests erreichten die deutschen Schüler:innen im Schnitt mindestens 500 Punkte – nun 475. Auch die Leistungen in Lesen (480) und Naturwissenschaften (492) sind im Vergleich zur letzten Studie 2018 deutlich gesunken. Die Einbußen entsprechen in etwa dem Lernstoff eines ganzen Schuljahres. Mit diesen Ergebnissen liegt Deutschland im Durchschnitt der teilnehmenden OECD-Länder. Nur in den Naturwissenschaften schneidet Deutschland leicht besser ab. Zum Vergleich: Spitzenreiter Singapur erreicht im Lesen 543 und in Mathe sogar 575 Punkte.
Zu den Ursachen für das schlechte Abschneiden äußern sich die Autor:innen zurückhaltend. Die Pandemie dürfte die Ergebnisse aber beeinflusst haben, sagt OECD-Experte Avvisati. In Deutschland sei es zu monatelangen Schulschließungen gekommen, die Schulen seien auf den Distanzunterricht schlecht vorbereitet gewesen. Auch KMK-Präsidentin Günther-Wünsch verweist auf die hohen Lernrückstände wegen der Pandemie. „Corona alleine kann aber nicht alles erklären“, betont Avvisati. Schließlich war der negative Trend an deutschen Schulen schon vorher zu sehen.
Das sieht man auch bei dem großen Anteil von Schüler:innen, die die Basiskompetenzen verfehlen. In Lesen und Naturwissenschaften ist das mittlerweile rund jeder vierte, in Mathe sogar fast jeder dritte. In den letzten zehn Jahren ist diese Gruppe in allen drei Fächern um rund elf Prozent gewachsen. Die obersten beiden der insgesamt sechs Niveaustufen erreichten nur je zwischen acht und zehn Prozent der Schüler:innen und damit jeweils weniger als noch vor zehn Jahren. Die Leistungsstarken werden also weniger und die Leistungsschwachen, die selbst grundlegende Aufgaben nicht lösen können, immer mehr.
Was aber gleich geblieben ist: Ob jemand gut oder schlecht abschneidet, liegt vor allem am sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund der Schüler:innen. Die Leistungen zwischen Jugendlichen der sozialen Ober- und Unterschicht klaffen weit auseinander, zum Teil stärker als in der Vergangenheit. Als „Skandal“ bezeichnete das die Bildungsgewerkschaft GEW. Auch Jugendliche mit Migrationshintergrund, deren Anteil mittlerweile 39 Prozent beträgt, schneiden deutlich schlechter ab als solche ohne.
Ähnliche Befunde haben in den vergangen Monaten auch schon die Iglu-Studie für Grundschulen und die IQB-Bildungstrends für die vierte bzw. neunte Klasse gezeigt. Manche Bildungspolitiker:innen gaben sich deshalb am Dienstag wenig überrascht: „Die Ergebnisse waren zu erwarten“, sagte etwa der Hamburger Schulsenator Ties Rabe (SPD) zu den Pisa-Ergebnissen.
Auch für Bildungsforscher Kai Maaz kommen sie nicht komplett unerwartet. Dass deutsche Schüler:innen in allen Bereichen so schlecht abschneiden, hätte Maaz aber nicht angenommen. Neben der Pandemie und der gestiegenen Heterogenität in Klassen sieht Maaz noch weitere Gründe für das schlechte Abschneiden. „Jahrelang hat die Politik den Fokus ausschließlich auf die Unterrichtsqualität gelegt, ohne Schule als Ganzes zu betrachten“, sagt Maaz zur taz. Etwa Konzepte zur Sprachförderung: Das seien gute Programme. Offenbar reiche guter Unterricht allein aber nicht mehr aus, um alle Schüler:innen mitzunehmen.
Als Beispiel nennt Maaz das Bundesprogramm „Schule macht stark“, das er wissenschaftlich begleitet. „Ich höre oft von Schulleitungen: Was bringt mir mehr Mathe, wenn die Schüler nicht im Unterricht erscheinen“. Aus seiner Sicht müsste die Politik ihr Augenmerk stärker auf die Schulentwicklung richten. Mit dem „Startchancenprogramm“, das Bund und Länder zur Unterstützung von Brennpunktschulen auflegen wollen, besteht für Maaz nun „die einzigartige Möglichkeit, Schulen systemisch zu entwickeln und Maßnahmen der Unterrichtsentwicklung mit denen der Schulentwicklung kohärent zu verzahnen“.
Als zweiten Punkt nennt der Geschäftsführende Direktor des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation den Ausbau der frühkindlichen Förderung. Bei Kitas stehe der Bildungsauftrag bislang oft nicht im Zentrum der Debatten: „Wir drehen uns viel stärker um die Frage, ob wir den bestehenden Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz einlösen können.“ Hier brauche es ein Umdenken in der Politik, etwa über verbindliche Sprachtests im Kita-Alter und eine entsprechende verbindliche Förderung. Bisher ist das so erst in Hamburg und Berlin der Fall.
Auch die Autor:innen der Pisa-Studie sehen hier Handlungsbedarf. „Wir brauchen eine systematische, bedarfsgerechte Förderung von Kindern bereits im Vorschulalter“, sagt Doris Lewalter, die nationale Pisa-Projektleiterin, bei der Studienvorstellung. Weiter empfiehlt sie der Politik, die Ressourcen an Schulen „bedarfsgerecht“ zu verteilen und Unterrichtsangebote weiterzuentwickeln, um Jugendliche zum Lernen zu motivieren.
Bei den Bildungspolitiker:innen stoßen diese Forderungen weitgehend auf offene Ohren. KMK-Präsidentin Günther-Wünsch räumt ein, dass das Bildungssystem bundesweit eine gezielte Sprachförderung brauche, „die in der Frühen Bildung ansetzt und die Lernenden begleitet“. Auch wiederholt sie, was die Bildungsminister:innen schon als Reaktion auf die Grundschulstudie Iglu im Frühling verlauten ließen: Nämlich, dass sich die Schulen künftig stärker auf die Basiskompetenzen konzentrieren sollen.
Ob dafür ausreichend Lehrer:innen und andere Fachkräfte zur Verfügung stehen, wie Lehrerverbände und Gewerkschaften anmahnen, steht allerdings auf einem anderen Blatt.
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