Rede zur Staatsräson: Heiland Habeck. Echt jetzt?
Robert Habeck sagte, was immer wieder gesagt werden muss und immer wieder gesagt wird. Er hätte aber auch ansprechen müssen, was gerade abgesagt wird.
D onnerstag früh erwache ich und denke zuerst: Echt jetzt? Denn das Erste, was ich höre, ist „Wääääääääääääää! Ööööööö! Äääääää!“ – ein Laubbläsegerät. Echt jetzt?, denke ich nicht, weil mich das Geräusch stört. Sondern weil der Laubbelag auf meiner Kreuzberger Straße das verdeckte, was durchs Wegblasen nun wieder freigelegt ist: Drogenbestecke, blutige Taschentücher und menschengemachte Kackhaufen.
Als ich in der Küche das Radio anmache, denke ich schon wieder: Echt jetzt? Anlass ist die Nachricht: „Wirtschaftsminister Robert Habeck hat eine viel beachtete Rede gehalten, in der er den Antisemitismus verurteilte.“
Echt jetzt?, denke ich, weil ich Robert Habeck bisher nicht für einen extremistischen Hassprediger hielt, der sich jetzt überraschend vom Antisemitismus distanziert, und weil ich ahne, dass nun wieder vollkommen überdrehte Heiland-Habeck-Rufe ertönen. Und so kommt es: Verzückung, Kniefälle, das ganze Programm. Besonders lustig sind die Expert*innen und Kolleg*innen, die den Blood-Sweat-and-Tears-Vergleich machen. Während der bisher bei jeder „großen“ Rede Habecks gemacht wurde, hielt Winston Churchill diese Rede bekanntlich nur ein Mal, am 13. Mai 1940. Robert „Alter“ Habeck aber scheint für viele den britischen Meister politischer Rhetorik längst in die Tasche gesteckt zu haben.
Was mich am meisten „Echt jetzt?“ denken lässt, ist die Behauptung der Expert*innen, Dr. phil. Habeck sei der erste Politiker, der die Formulierung: „Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson“ nicht als Leerformel benutzt, sondern ausbuchstabieren kann. Ich verstehe ja, dass man das glauben möchte. Und ich verstehe am allermeisten, dass der Zentralrat der Juden die Rede Habecks lobt, denn vielen Jüdinnen und Juden in Deutschland wird die Rede mutmaßlich und zumindest für einen kurzen Moment lang gutgetan haben.
Wie genau sieht Schutz aus?
Was ich aber nicht verstehe: Was daran ist rhetorisch so sensationell, dass Robert Habeck die deutsche Haltung zu Israel mit den eigenen Großeltern begründet?
Das Argument, Deutschland müsse die Juden in Israel und in Deutschland besonders schützen, weil es sie mal fast komplett ausgelöscht hat, nutzen auch Antisemiten seit 1945 für ihre Zwecke. Das macht es nicht falsch. Aber dem Vorwurf, Schuldgefühle leiteten die deutsche Politik, sollte man in so einer Rede in so einer Zeit schon auch begegnen.
„Deutschland ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland frei und sicher leben können“, sagte Habeck. Mal abgesehen von der Selbstverständlichkeit, die jedem Bürger in Deutschland zusteht: Wie genau sieht das aus?
So wie Žižeks Buchmessenrede war auch Habecks Rede keine große, weil er sagte, was zwar immer wieder gesagt werden muss, er aber auch verschwieg, was es noch zu sagen gäbe. Zu einer wirklich großen Rede nämlich hätte neben der Versicherung der Staatsräson gehört, dass der Vizekanzler die Zivilgesellschaft, den Medien- und Kulturbetrieb, das gesamte Land zur Räson gerufen hätte. Es hätte dazugehört, alle aufzufordern, damit aufzuhören, Preisverleihungen zu verschieben, Journalisten zu entlassen, Theaterstücke auszusetzen und Diskussionsveranstaltungen abzusagen nur aus dem Grund, weil man Angst hat, es könne irgendetwas gesagt werden, was andere aufregt.
Die Frage, die Jüd*innen wie die Schriftstellerin Deborah Feldman seit dem 7. Oktober verstärkt aufwerfen – ob Israel die Sicherheit für alle Juden wirklich noch gewährleisten kann –, muss in Deutschland so selbstverständlich diskutiert werden können wie der Vorwurf Feldmans an Habeck in der Sendung „Lanz“, „Sie schützen Juden selektiv.“ Statt nachzufragen, was sie damit konkret meinte, kommentierte Habeck das mit Relativierung: Er habe mit Juden gesprochen, die das anders sehen. Und ich dachte nur wieder: Echt jetzt?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen