Essay zum Angriff der Hamas: Einfach weitermachen ist unmöglich

Seine genozidale Botschaft unterscheidet den 7. Oktober von früheren Angriffen auf Israel: Sie steht in direktem Zusammenhang mit dem Holocaust.

Eine Gruppe von Frauen bei einer beerdigung, eine junge Frau weint bitterlich, eine ander schaut sehr ernst

Angehörige beim Begräbnis von Albert Miles, einem Opfer der Angriffe vom 7. Oktober Foto: Bernat Armangue/ap

Am 7. Oktober 2023 wurde etwas zum unauslöschlichen Teil israelischer Erfahrung, das sinnbildlich für das Leben außerhalb Israels gestanden hatte: Bilder entgrenzter und demütigender Gewalt und Begriffe wie Pogrom oder Massaker, die das Gesehene und Erlittene dennoch nicht annähernd fassen konnten. Viele Einwohner des Landes waren am Morgen mit Sirenenalarm aufgewacht. Schnell war klar, dass dieser Angriff aus dem von der Hamas kontrollierten Gaza-Streifen anders war als frühere Auseinandersetzungen.

Es folgten Nachrichten von Terroristen, die durch den mit neuester Sicherheitstechnologie ausgestatteten Grenzzaum eingedrungen waren. Handelte es sich dabei um einzelne, potenzielle Selbstmordattentäter wie jene, die seit Mitte der 1990er Jahre Israel mit willkürlichen Terroranschlägen überzogen hatten? Schnell wurde klar, dass dieses Mal hunderte Terroristen gefolgt von weiteren, überwiegend männlichen, Palästinensern aus Gaza nach Israel eindrangen und nicht nur völlig überraschte und erschreckend schlecht ausgestattete israelische Militärposten überrannten, sondern zahlreiche Ortschaften und ein Musikfestival angriffen.

Zielstrebig und mit militärischer Genauigkeit machten die Terroristen Sicherheitsanlagen unschädlich, durchkämmten Straßen, durchsuchten Häuser, zerstörten, plünderten und legten Feuer. Sie töteten nicht allein möglichst viele Bewohner, neben Juden auch Araber, Beduinen sowie thailändische und nepalesische Arbeiter, sondern verübten bis dahin zumindest in diesem Konflikt unvorstellbare Grausamkeiten, die der israelische Historiker Dan Diner als eine „Gewaltorgie“ beschrieb. Die unter Zuhilfenahme von Bodycams, Livestreams und einer wahren Flut von demütigenden Selfies und Videos verstärkte Gewalt vermittelte eine eindeutige Botschaft. Diese „genozidale Botschaft“, so Diner, verstanden die Israelis sofort.

Seit vielen Jahren beschäftigen wir uns mit der Geschichte des Holocaust, ihren Folgen und ihrer Vermittlung. Wir arbeiten mit Lehrenden, Jugendlichen und Studierenden, sowohl in Deutschland als auch in Israel. Noch immer sind wir geschockt, wenn wir uns die Gräueltaten vergegenwärtigen, die die Hamas am 7. Oktober begangen hat.

Deborah Hartmann ist Direktorin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin.

Tobias Ebbrecht-Hartmann ist Professor für Medienwissenschaft und deutsche Kulturgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem.

Was uns, die wir diesen Tag außerhalb Israels, in Deutschland, erlebten, aber am meisten überraschte und noch immer zutiefst beunruhigt, ist, dass viele Menschen, insbesondere kritische Intellektuelle, nicht einen Moment innehielten, sondern erstaunlich schnell zur Tagesordnung des israelisch-palästinensischen Konflikts übergingen. Sie mahnten zur Verhältnismäßigkeit, verwiesen darauf, dass ein Massaker kein anderes rechtfertige, und dass die palästinensische Bevölkerung in Gaza nicht den Preis für die Verbrechen der Hamas bezahlen solle – über die sie aber erstaunlich schnell hinweggingen, während wir noch dabei waren, die Bilder und Geschichten von Ermordeten, Überlebenden, Verschleppten und Rettern zu verarbeiten.

Hatten sie denn die erniedrigenden Filmaufnahmen nicht gesehen und die Bilder von Hunderten unschuldiger Israelis, Juden und Nichtjuden, jeden Alters, die an diesem Tag nach Gaza entführt wurden? Hatten sie denn nicht die Berichte der Überlebenden des Massakers beim Supernova-Musikfestival gelesen, in denen junge Menschen beschrieben, wie sie sich unter Leichen versteckten, während sie Zeuge von Vergewaltigungen und willkürlichem Morden wurden?

So viele Menschen wie möglich töten

Die Gräueltaten vom 7. Oktober waren anders als die teilweise sehr brutalen Angriffe und Attentate von Palästinensern und Juden vor der Gründung des Staates Israel. Sie unterscheiden sich von Gräueln, die im Rahmen der israelisch-arabischen Kriege geschehen sind. Sie unterscheiden sich auch von den schrecklichen Selbstmordattentaten, mit denen palästinensische Terroristen willkürlich israelische Zivilisten ermordeten, und sind nicht mit den Entführungen und Geiselnahmen der 1970er Jahre zu vergleichen.

Das bedeutet nicht, dass diese Gewalt weniger grausam gewesen wäre, und es schmälert auch nicht den Wert unschuldiger Menschen, die auf israelischer wie palästinensischer Seite ihr Leben verloren haben. Jedes getötete Leben ist einzigartig, und jede Form von Gewalt hat unterschiedliche Folgen. Was jedoch am 7. Oktober geschah, war anders. Dokumente, die bei getöteten und gefangen genommenen Terroristen gefunden wurden, enthielten den Befehl, so viele Menschen wie möglich zu töten, und belegen gezielte Angriffe auf Schulen.

Allem Anschein nach sollten diese abscheulichen Verbrechen die israelische Bevölkerung ganz ausdrücklich an den Holocaust erinnern. Hamas-Führer Yahya Sinwar und andere an der Planung und Durchführung der Massaker beteiligte Terroristen hatten viele Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht, sich intensiv mit der israelischen Gesellschaft auseinandergesetzt und waren sich sicher auch der besonderen Bedeutung des Holocaust für das Selbstverständnis und die Identität der in Israel lebenden Juden bewusst.

Bei den durch die Gräueltaten evozierten Assoziationen handelte es sich also nicht um die eher zufällige Beschwörung der Vergangenheit wie in Entebbe 1974, als palästinensische und deutsche Terroristen jüdisch-israelische Geiseln separierten. Der 7. Oktober sollte der israelischen Öffentlichkeit ganz explizit und unmittelbar vermitteln, dass sich ein neuer Holocaust jederzeit wiederholen kann.

Zerstörung des individuellen und kollektiven Gefühls von Sicherheit

Die neue Qualität und das Ausmaß dieser Massaker sollten zu einer völligen Zerstörung des individuellen und kollektiven Gefühls von Sicherheit führen, wozu auch das Versagen der politisch Verantwortlichen in Israels rechter Regierungskoalition und der Sicherheitsorgane beitrug. Neben dem massenhaften Töten, neben der Erniedrigung, dem Sadismus und der Unmenschlichkeit, zielten die Verbrechen auf den Kern des menschlichen Grundvertrauens, sich in der Welt sicher zu fühlen – eine Erfahrung, die Dan Diner einmal im Zusammenhang mit der Shoah als „Zivilisationsbruch“ bezeichnet hat.

Der israelische Soziologe Natan Sznai­der sieht diesen Tag nicht nur als Zäsur in der israelischen Geschichte, sondern als „Teil des globalen jüdischen Schicksals.“ Es ist unmöglich, nach den Ereignissen des 7. Oktober einfach weiterzumachen, ohne – zumindest für einen Moment – über die Bedeutung und das Wesen dieser Verbrechen nachzudenken.

Die leider allzu oft praktizierte Form öffentlicher Rede, in einem Satz die israelischen Opfer zu benennen und die Hamas zu verurteilen, nur um gleich darauf die israelische Reaktion anzuprangern und die zivilen Opfer in Gaza zu betrauern – wie es beispielsweise der slowenische Philosoph Slavoj Žižek bei der Buchmesse in Frankfurt getan hat – negiert diese Bedeutung des 7. Oktober.

Moment des Innehaltens

Selbstverständlich braucht es einen Ort und eine Zeit, um Mitgefühl für die unschuldigen Opfer in Gaza zu zeigen, die durch israelische Militärschläge gegen die Hamas und verirrte Raketen der beteiligten Terrororganisationen sterben oder verletzt werden. Es muss auch Platz und Zeit für die kritische Auseinandersetzung mit der Verantwortung der israelischen Regierung geben. Es sollte geben und gibt viel Raum für Kritik an der israelischen Besatzung und dem Schicksal der Palästinenser. Aber all dies sollte an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit geschehen als in diesem Moment des Innehaltens, um über die neue Qualität dieses erneuten Zivilisationsbruchs nachzudenken.

Den Schmerz anderer zu begreifen, kann nicht bedeuten, die schmerzhaften Erfahrungen der einen dadurch auszublenden, dass man im nächsten Atemzug reflexhaft auf das Leiden der anderen umschwenkt. Wer sich nicht einen Moment vor Augen führen kann, was den 7. Oktober von den vielen anderen schrecklichen Daten des israelisch-palästinensischen Konflikts unterscheidet, sondern sogleich mit den Gedanken abschweift, um sich seines universellen Humanismus durch den Hinweis auf die Opfer unter der palästinensischen Zivilbevölkerung zu vergewissern, verkennt den fundamentalen Angriff, den die Gräuel dieses Tages auf jeden Humanismus und jede Form menschlicher Emanzipation bedeuteten.

Das Verständnis für den Schmerz der anderen sollte nicht dazu führen, solche Verbrechen und die dadurch ausgelöste Erschütterung jeglicher Gewissheit einfach in den Kontext einer langen Geschichte von Konflikten und Gewalt einzufügen und so unsichtbar zu machen.

Spezifische Qualität von Unmenschlichkeit

Eine solche Form der Kontextualisierung führt zum glatten Gegenteil eines universellen Humanismus und ist schließlich nicht mehr in der Lage, die spezifische Qualität von Unmenschlichkeit zu unterscheiden. In diese Richtung weist „Der Kompass der Trauer“, mit dem die US-amerikanische Phi­lo­so­phin Judith Butler die Gräueltaten der Hamas in eine Geschichte unterschiedsloser Gewalt einordnet. Das Traktat, das die von der Hamas verübte Gewalt „ohne Einschränkung“ verurteilt, um dann in langen und sehr explizit gehaltenen Abschnitten die Untaten Israels aufzuzählen, ist eine philosophische Anleitung dafür, sich gerade nicht mit den existenziellen und erkenntnistheoretischen Folgen des 7. Oktober zu befassen und schnell zu den alten Koordinaten des israelisch-palästinensischen Konflikts zurückzuführen.

Kontextualisierung der Gräueltaten vom 7. Oktober, die nicht in Relativierung mündet, sollte sich zunächst die ideologischen Grundlagen der Hamas und ihrer staatlichen und nichtstaatlichen Unterstützer bewusst machen und diese als solche benennen. Trotz der offenen Bekenntnisse der Hamas, beispielsweise in ihrer berüchtigten Charta, wird hierzulande ungern von ihrem Antisemitismus, der Verhetzung und Propaganda gesprochen, oder aber – wie in der völlig deplatzierten Formulierung des israelischen Verteidigungsministers, der von der Hamas als „menschliche Tiere“ sprach – die Essenz der Verbrechen derealisiert.

Es waren eben keine menschlichen Tiere, keine Barbaren, die solche Taten begingen, sondern hochideologisierte, gut ausgebildete menschliche Täter, die ihre Mission des systematischen Mordens, Folterns und Erniedrigens von Jüdinnen und Juden und anderen Bewohnern im Süden Israels aus voller Überzeugung und ohne Zögern durchführten.

Außerdem bedeutet Kontextualisierung anzuerkennen, dass die Geschichte des Holocaust keine ferne Erinnerung ist, sondern dass die Bezüge zur NS-Vergangenheit zum explizit eingesetzten Bestandteil einer neuen genozidalen Gewalt geworden sind. Die daraus resultierenden Analogien sind daher nicht einfach strategisch eingesetzte Instrumente im politischen Diskurs des Vergleichens oder der Gleichsetzung, sondern werden performativ durch die praktizierte Form der Unmenschlichkeit, Demütigung und verheerenden Gewalt in Kfar Aza, Be'eri, Nir Oz und anderen Orten in Südisrael bewusst evoziert.

Daher handelt es sich nicht lediglich um eine weitere Runde in einem anhaltenden Konflikt. Der 7. Oktober markiert einen Bruch, der dadurch charakterisiert ist, dass den Menschen, die an diesen Orten lebten und starben, jede Möglichkeit der Emanzipation und der universellen Gerechtigkeit genommen wurde. Als Manifestation der neuen Qualität genozidaler Gewalt im 21. Jahrhundert macht es der 7. Oktober daher unmöglich, einfach weiterzumachen.

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