Politologe zu Putins Eskalation: „Das Angebot hat nicht gereicht“
Johannes Varwick hat lange für Entspannungspolitik geworben. Und jetzt? Seinen Ansatz hält er nicht für gescheitert, Sanktionen für wirkungslos.
taz: Herr Varwick, in den vergangenen Wochen haben Sie Zugeständnisse gegenüber Russland gefordert. In einem Aufruf unter dem Titel „Raus aus der Eskalationsspirale“ warben Sie für Entspannung. Lagen Sie falsch?
Johannes Varwick: Auch wenn jetzt alles dafür spricht, dass mit Putin kein Interessenausgleich möglich war, war der Versuch durchaus vernünftig. Der Westen hätte die Frage der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine klarer ausschließen müssen. Versäumnisse gibt es auf allen Seiten und im Ergebnis sehen wir ein Versagen der Diplomatie.
54, ist Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Im Dezember 2021 initiierte er einen Appell zur Deeskalation, den Wissenschaftler, Militärs und Diplomaten unterschrieben.
Erst vergangene Woche hatte Olaf Scholz in Moskau klargestellt, dass ein ukrainischer Nato-Beitritt nicht auf der Tagesordnung stehe. Am Sonntag vereinbarte Emanuel Macron mit Putin weitere Gespräche. Warum dann gerade jetzt die Eskalation?
Offenkundig hat das Angebot nicht gereicht, um Moskau eine Brücke zu bauen. Man kann jetzt natürlich sagen, es habe ein Drehbuch gegeben, das von vornherein feststand. In dem Sinne sei die Annahme naiv gewesen, dass man noch Einfluss auf die russische Positionierung hatte. Ich glaube aber, dass es ein Fenster gab, in dem man einen Interessenausgleich hätte hinbekommen können. Es kam jetzt anders und die Historiker werden entscheiden, wer welche Verantwortung trägt.
In Putins Rede am Montag wurde klar, dass es ihm nicht nur um Sicherheitsgarantien geht, sondern vor allem um imperiale Interessen: Er sieht die Ukraine als Teil Russlands an. Warum sind Sie sich auch rückblickend so sicher, dass ihn stärkere Zugeständnisse der Nato vom Einmarsch abgehalten hätten?
Zunächst sind Identitätsfragen in der internationalen Politik immer die gefährlichsten und die am schwierigsten zu lösenden. Das ist gar keine Frage. Aber unterschiedliche Ordnungsvorstellungen sind in der internationalen Politik eben keine Ausnahme, sondern eher die Regel. Das sollte man einfach illusionslos zur Kenntnis nehmen. Was gewesen wäre, wenn wir klüger verhandelt hätten, wissen wir nicht. Aber im Ergebnis sehen wir ein Versagen auf allen Ebenen und wir sollten den Fehler jetzt nicht nur bei den Anderen suchen. Wir sollten auch selbstkritisch sein. Der böse Bube ist Russland, das ist überhaupt keine Frage. Aber wir hätten die Brücken, die es sicherlich hätte geben können, besser ausloten müssen.
Das russische Verhalten erleichtert Selbstkritik nicht gerade. Nehmen wir mal den Vorwurf, die Nato-Erweiterungen der letzten 25 Jahren seien ein Fehler gewesen: Wurden Putins imperiale Bestrebungen denn erst dadurch provoziert? Oder waren sie nicht schon immer vorhanden und osteuropäische Staaten lagen richtig, als sie den Schutz der Nato gesucht haben?
Das ist sicher richtig, dieses imperiale Bestreben war immer da. Wir hätten es aber besser einhegen müssen. Es wurde zu wenig erkannt, dass die Ukraine ein Sonderfall ist. Sie ist nicht Polen und auch nicht das Baltikum, sondern stellt für die russische Identität eine Kernfrage von vitalem Interesse dar. Das hätten eigentlich alle sehen können, und dann hätte es nur zwei Möglichkeiten gegeben.
Entweder hätte man die Ukraine radikal schützen müssen und sie ins westliche Camp ziehen, so wie die Amerikaner es 2008 wollten: eine Nato-Mitgliedschaft und die Bereitschaft, für die Ukraine zu kämpfen. Dann hätte man einen harten Kalten Krieg gehabt, der mit einer relativ großen Wahrscheinlichkeit heiß geworden wäre. Die zweite Möglichkeit wäre gewesen, dass man eine Pufferzone oder eine neutrale Ukraine als Schlüssel zur Lösung akzeptiert. Diesen Weg war man nicht bereit auszuloten.
Der Mittelweg war zum Scheitern verurteilt?
Es war ein hilfloser Versuch und wir müssen ganz nüchtern konstatieren, dass er nicht erfolgreich war.
Eine andere Deutung wäre, dass der gewählte Weg richtig war und die Angebote an Russland ausreichend – aber die Drohung mit enormen Sanktionen nicht glaubwürdig genug.
Doch. Ich glaube, sie war und ist glaubwürdig. Es werden jetzt Sanktionen kommen, die Russland hart treffen. Aber solange Russland glaubt, dass es in der Ukraine ein vitales Interesse verfolgt, werden Sanktionen nicht wirken. Sie sind trotzdem alternativlos, weil man jetzt nicht einfach kopfschüttelnd daneben stehen kann. Aber man sollte nicht die Hoffnung haben, dass man Russland mit den Sanktion in seinem Risikokalkül beeinflusst. Und man sollte jetzt aufpassen, dass man Russland nicht noch mehr in die Enge drängt.
Inwiefern?
Was wird jetzt passieren? Russland wird für die Sanktionen einen harten Preis zahlen und sich innenpolitisch weiter radikalisieren. Jetzt ist also die Stunde, um darüber nachzudenken, wie wir von diesem Baum wieder runterkommen. Eine dauerhafte Eskalation kann ja nicht die Lösung sein. Ich würde vielmehr dafür plädieren, über so was wie Minsk III nachzudenken. Die Abkommen Minsk I und Minsk II zur Lösung des Ostukraine-Konflikts sind gescheitert. Aber wir müssen versuchen, jetzt wieder Diplomatie ins Spiel zu bringen, und mit Russland über den Donbass und die Einhegung dieses Konflikts reden. Das wäre alle Mühen wert. Nichts wird davon besser, dass man die Dinge treiben lässt.
Wie sollte so ein Minsk-III-Abkommen denn aussehen?
Man bräuchte eine Lösung des Konflikts im Donbass, die für Russland und für den Westen akzeptabel ist. Nur zu sagen, dass wir den neuen Stand niemals anerkennen, wird die Situation am Boden ja nicht verändern. Wir müssen den Konflikt also einfrieren, dadurch die Lage stabilisieren und bessere Zeiten intellektuell vorbereiten. Das passiert in der westlichen Politik im Moment überhaupt nicht. Man tut so, als ob Sanktionen das Problem lösen würden. Aber das Problem fängt damit erst an, weil ein Staat, der in seinem Kern getroffen ist, nicht nach unseren Regeln spielen wird.
Das Vertrauen in Zusagen aus Moskau hat mit dem Einmarsch stark gelitten. Wie soll man in dieser Situation Gespräche über ein neues Abkommen in Gang bringen?
Das wird jetzt auch stark davon abhängen, wie sich die Dinge am Boden entwickeln. Wenn es Russland beim Einmarsch in den Donbass belässt, wäre das eine andere Basis, als wenn es entscheiden würde, einen Regime Change in Kiew zu initiieren – auf welchem Weg auch immer. An die russische Strategie müssen wir unsere dann anpassen. Daraus kann man auch folgern, dass wir bei den Sanktionen noch was im Köcher behalten sollten für den Fall, dass Russland noch weiter eskaliert. Man muss unterscheiden zwischen Wirtschaftssanktionen, die jetzt kommen werden, und Finanzsanktionen, die Russland noch härter treffen würden. Stichwort: Swift.
Selbst wenn ihr Ansatz Erfolg hätte und es vorerst zu einer Verhandlungslösung käme: Woher hätte Kiew die Garantie, dass Russland seine Zusagen nicht erneut bricht und irgendwann einen Angriff über den Donbass hinaus startet?
Man muss bei der Wahl seiner Strategie davon ausgehen, welche Möglichkeiten man selber hat und welche Mittel man bereit ist einzusetzen. Wie man es auch dreht und wendet: Die Ukraine ist im russischen Einflussgebiet, solange wir nicht bereit sind, für sie in den Krieg zu ziehen, sie jetzt also schnell in die Nato aufzunehmen und dann daraus einen Bündnisfall zu machen. Im Übrigen auch zu Recht, weil dann eine nukleare Eskalation drohen würde. Es bleiben also nur sanftere Mittel. Die sind alle nicht schön für die Ukraine, gar keine Frage. Aber von allen Varianten wäre eine Stabilisierung durch einen Neutralitätsstatus noch die beste, letztlich auch für die Ukraine.
Waffenlieferungen wären ein Mittelweg ohne direkte militärische Beteiligung des Westens.
Bei einem so eindeutigen Gefälle wie im Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland – zwei Millionen Soldaten gegen 200.000 Soldaten – wird man durch Waffenlieferungen nie ein militärisches Gleichgewicht hinbekommen, das stabilisiert. Wenn Russland entschlossen ist, militärische Lösungen zu suchen, dann wird es die machen können. Waffenlieferungen würden den Konflikt nur blutiger, länger und schmerzhafter machen. Wenn ich der Meinung wäre, die Ukraine könnte sich mit Waffenlieferungen gegen Russland verteidigen, dann wäre ich sofort dafür. Aber das ist ein falsches Bild der Lage.
Wie sicher sind Sie, dass Sie richtig liegen und der Krieg nicht weiter eskaliert, wenn der Westen Russland so entgegenkommt, wie Sie es gerade skizziert haben?
Ich bin mir nicht sicher. Aber ich bin mir sehr sicher, dass es zu einem offenen Krieg kommt, wenn wir es nicht machen. So zu tun, als ob der westliche Weg bisher Erfolg hätte, ist genauso blauäugig wie der Vorwurf, dass meine Position letztlich naiv wäre. Wir sollten nicht in diesen Extrempositionen denken, sondern nüchtern schauen, was wir aus dieser sehr unschönen Lage noch machen können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Koalitionsvertrag in Brandenburg steht
Denkbar knappste Mehrheit
Verfassungsrechtler für AfD-Verbot
„Den Staat vor Unterminierung schützen“