Erster Jahrestag des Ukrainekriegs: Wie der Krieg enden könnte

Was sind die roten Linien Russlands? Welche Interessen haben die USA? Der Versuch einer Vorschau auf schmerzhafte Entwicklungen und schmutzige Deals.

Eine ukrainische Frau kniet neben dem Sarg ihres gefallenen Mannes

Für viele Menschen kommt das Ende des Krieges zu spät Foto: Emilio Morenatti/AP/dpa

Natürlich lässt sich nicht mit Bestimmtheit voraussagen, wann und wie der Ukrainekrieg endet, und nur Scharlatane geben vermeintlich sichere Prognosen ab. Über wahrscheinliche Szenarien, die Kerninteressen und „rote Linien“ der zentralen Akteure ins Visier nehmen, muss dagegen sehr wohl geredet werden.

Dass es Interessen sind, die vorrangig das Handeln von Großmächten bestimmen, ist nichts Neues. Egon Bahr hat es trefflich in folgende Sentenz gekleidet: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“

Fragt man nach Russland und den USA, so kann man beiden ein zentrales Interesse attestieren, ein so großes europäisches Land wie die Ukraine mit solchen Ressourcen an Menschen und Bodenschätzen, mit landwirtschaftlichem, aber auch Hightech-Potenzial ausgestattet, dauerhaft nicht dem politischen Gegner zu überlassen.

Für die Russische Föderation gilt die Ukraine zudem als sicherheitspolitisch notwendige, „eigene“ Einflusssphäre. Eine imperiale großrussische Ideologie unterlegt diesen Anspruch, umgesetzt wird er von einem skrupellosen Schlägertyp. Offensichtlich hat Russland das „Wegkippen“ der Ukraine ins westliche Lager als rote Linie definiert und deshalb einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen.

Ebenso ist das Festhalten an den bereits seit 2014 – ebenfalls völkerrechtsverletzend – besetzten Gebieten, eventuell sogar dem ganzen Donbass, für Russland nicht verhandelbar. Bei der Krim jedenfalls sind sich auch die westlichen Analytiker einig, würde die Russische Föderation zumindest alle zur Verfügung stehenden konventionellen Waffen einsetzen, um die Halbinsel nicht zu verlieren.

Schaut man sich die zentralen amerikanischen Interessen aus übergeordneter Warte an, so ist nicht Russland, sondern China der Hauptkonkurrent in einer erweiterten bipolaren Weltordnung. Russland steht dabei auf der Seite des autokratischen Chinas, wird aber, wie es Barack Obama schon 2014 formulierte, als „Regionalmacht“ nicht wirklich ernstgenommen (von der Tatsache abgesehen, dass das riesige russische Nuklearwaffenpotenzial nicht außer Acht gelassen wird).

Wenn sich also der kleine Bruder Chinas bei beschränktem eigenem Risiko schwächen lässt, dann ist das geostrategisch gesprochen – neben der Macht- und Markterweiterung durch ein neues Bündnismitglied – eine Gelegenheit, die sich die USA aus realpolitischer Sicht nicht nehmen lassen.

Die Schuldfrage ist zweifelsfrei geklärt

Die Schuld- und Verantwortungsfrage für diesen Angriffskrieg ist nach internationalem Recht allerdings zweifelsfrei geklärt: Die Russische Föderation ist der Täter und die Ukraine das überfallene Opfer, das alles Recht auf seiner Seite hat, sich zu verteidigen.

Dass sich das nicht wiederholt, hat der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin schon unmittelbar nach Beginn des jüngsten Ukrainekriegs im April 2022 als Ziel der USA formuliert. Es liege in ihrem Interesse, Russland in einem solchen Maße zu schwächen, „dass es die Art von Dingen, die es mit dem Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr machen kann“, und dazu ergänzt: „Wir wollen, dass sie nicht in der Lage sind, diese Ressourcen schnell zu ersetzen.“

Die Lieferung von immer schwereren westlichen Waffen an die Ukraine, in der nächsten Stufe – wenn notwendig – sogar mit Kampfflugzeugen, dient also der Aufrechterhaltung des militärischen Gleichgewichts, welches aus realpolitischer Sichtweise gegenwärtig notwendig und ohne sich abzeichnende Alternativen ist.

Ein beißender Euphemismus für massive Zerstörung

Ebenso dient sie der militärischen Schwächung Russlands: Die Waffenindustrien des Westens können den Verlust an geliefertem militärischem Material in einem Abnutzungskrieg wesentlich schneller wieder ausgleichen als die russischen. Dass „Abnutzung“ ein beißender Euphemismus für massive Zerstörung und unermessliches menschliches Leid ist, soll hier explizit erwähnt werden.

Die waffenmäßige Ausstattung der ukrainischen Armee samt logistischer Unterstützung in dem Maße, dass die russische Armee die sogenannte Kontaktlinie des Minsker Abkommens nicht mehr halten kann, würde jedoch höchst wahrscheinlich eine zentrale russische rote Linie überschreiten. Das Eskalationsrisiko stiege damit unermesslich an, woran auch die USA kein Interesse haben, geschweige denn die Europäer. Ein „Sieg über Russland“ ist daher höchst unwahrscheinlich.

Diese roten Linien sind, je länger der Krieg andauert und je mehr an Material und Menschenleben zerbombt wird, auf beiden Seiten unverhandelbar geworden, wie sich auch auf westlicher Seite zeigen lässt: Wäre ein schneller Sieg der russischen Armee vor einem Jahr von vielen noch achselzuckend als „Was kann man erwarten, wenn der russische Bär sich das ukrainische Karnickel einverleiben will?“ abgetan worden, so haben sich die Wetteinsätze drastisch verändert. Das Halten der nichtbesetzten Ukraine ist für den Westen zwischenzeitlich zu einer Position geworden, von der nicht mehr abgerückt werden kann.

Wie 1948 bei der Blockade West-Berlins, welches mit größtem finanziellen und logistischen Aufwand vom Westen per Luftbrücke gehalten wurde, so ist jetzt eine vollständige russische Besetzung der Ukraine und deren Verwandlung zu einem zweiten Weißrussland nicht mehr duldbar. Der Preis, den der Westen und vor allem Europa bezahlt, von der dauerhaften Erhöhung der Militärausgaben über die Energiekrise bis hin zu einer wohlstandsvernichtenden Inflation, hat einen Point of no Return überschritten: Die Ukraine muss jetzt mit praktisch allen Mitteln als eigenständiger Staat mit einer West-Option erhalten werden.

Die Frage nach dem längeren Atem

Wie also könnte der Krieg ausgehen? Lässt man einmal das niemals auszuschließende Risiko einer nuklearen Eskalation außer Acht, wird sich aus realpolitischer Sicht der Elend, Leid und Flucht bringende Krieg hinziehen. Wenn man davon ausgeht, dass Russland nicht besiegt werden kann, die Ukraine aber nicht verlieren darf, ist die Frage, wer den längeren Atem hat, ausschlaggebend.

Der Westen kann sicherlich noch lange immer schwerere Waffen liefern und wird dies voraussichtlich auch tun. Die russische Armee hat allem Anschein nach ebenfalls noch genügend konventionelle Waffenlagerbestände sowie ein Vielfaches an Menschen, die zum Militärdienst (zwangs-)verpflichtet werden.

In der Ukraine ist allerdings der Nachschub an kampffähigen und -willigen Menschen beschränkt. Wenn der Westen keine Soldaten in den Ukrainekrieg schickt, wovon im Moment auszugehen ist, wird, so die Grundlage für das kommende Szenario, die Kampfkraft der ukrainischen Armee über kurz oder lang abnehmen.

Spätestens in dem Moment – und bis dahin kann der Krieg unglücklicherweise noch länger sehr blutig und zerstörerisch weitergehen –, in dem die westlichen Militärführungen, informiert von insbesondere den amerikanischen Geheimdiensten, zur Überzeugung kommen, dass eine ukrainische Kapitulation droht, geschieht, was historisch nicht selten passiert: Der Interessenausgleich wird hinter verschlossenen Türen diplomatisch ausgehandelt.

So wie bei der Kubakrise 1962, als der Sowjetunion für den Verzicht auf die Stationierung von Raketen auf Kuba unter Ausschluss der Öffentlichkeit der Abzug von amerikanischen Jupiter-Raketen aus der Türkei zugesichert wurde, so ist mit guten Gründen zu mutmaßen, dass ein solcher Deal auch dieses Mal kommt.

Verhandlungen in Hinterzimmern

Insofern hat der Philosoph Jürgen Habermas – auch von einem realpolitischen Blickwinkel aus – recht, wenn er, aktuell in der Süddeutschen Zeitung, „aus näherliegenden Gründen wie der Erschöpfung von personellen Reserven“ ableitet, es „drängt die Zeit zu Verhandlungen“, wenngleich diese nicht auf offener Bühne, sondern in Hinterzimmern ablaufen.

Voraussetzung dafür ist, dass Russland an einer Absicherung seiner zentralen Ziele und roten Linien interessiert sein wird, und das wird es sein, weil es die roten Linien des Westens ebenfalls kennt und selbst nicht daran interessiert ist, dass die allerschwersten konventionellen westlichen Waffen zum Einsatz kommen oder die Nato direkt mit eigenem Personal eingreift.

Bevor man sich im hier skizzierten Szenario auf ein Schweigen der Waffen einigt, wird möglicherweise vereinbart werden, dass die Waffenstillstandslinie dann nicht mehr wie beim Minsker Abkommen dauerhaft Kriegsfront bleibt, sondern von Blauhelmsoldaten aus Nichtkonfliktparteien samt beidseitiger Demilitarisierungszone überwacht wird.

Zugleich wird man Russland eventuell zusichern, dass die Ukraine auf einen geraumen Zeitraum hin, sagen wir 25 Jahre, verlässlich nicht in die Nato aufgenommen und nur begrenzt militärisch ausgerüstet sein wird – abgesichert durch ein robustes Beistandsabkommen der EU und Großbritanniens.

Die Krim und der besetzte Teil des Donbass werden dann als dauerhaft russische Einflusssphäre akzeptiert, wenngleich die völkerrechtliche Anerkennung versagt wird, ähnlich wie 1967 bei der Besetzung der syrischen Golan-Höhen.

Im Gegenzug wird der Westen sicherlich in einem Memorandum of Understanding die Zurückhaltung Russlands bei einem eventuell kommenden China-USA-Krieg einfordern. All dies nur in Geheimabkommen – denn natürlich würde man das niemals öffentlich zugeben. Und die Ukraine und Russland könnten sich gesichtswahrend als „im Felde“ unbesiegt und standhaft darstellen.

Solche „schmutzigen Abkommen“, welche die roten Linien genauso respektieren, wie sie die Interessen der Großmächte zumindest in zentralen Aspekten berücksichtigen, sind realpolitische Wirklichkeiten, nicht völkerrechtliche Normvorstellungen. Dennoch muss gesagt werden, dass sie, so paradox das klingen mag, wünschenswerter sind als eskalierende Alternativszenarien.

Die Vorstellung, dass das Führen von Verhandlungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt etwas anderes bedeuten könnte, als solche dirty deals abzuschließen, gehört ins Reich des naiven Wunschdenkens.

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lehrt Politik­wissenschaft und -didaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Er studierte Soziologie und Politik an der FU Berlin und der New School for Social Research in New York.

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