Energieexperte über AKW-Sicherheit im Krieg: „Handelsbeziehungen sind wichtiger“

Der Energieexperte Mycle Schneider kritisiert die UN-Atomagentur IAEO. Wegen ihrer Arbeit in der Ukraine werde es zur Normalität, im Krieg ein AKW zu betreiben.

Ein Mann steht gestikulierend vor einem Atomkraftwerk

Saporischschja im August 2022: Der Generaldirektor der IAEO, Rafael Grossi, besucht das AKW Foto: Sergei Malgavko/ITAR-TASS/imago

taz: Herr Schneider, wie sehen Sie die Rolle der Internationalen Atomenergieagentur IAEO in diesem Konflikt?

Mycle Schneider: Ich finde sie sehr problematisch. Nirgendwo in der Auslegung von Sicherheitsstandards für Atomanlagen steht etwas dazu, wie man damit umgeht, wenn rund um eine Atomanlage Krieg geführt wird. Oder dass ein Atomkraftwerk von feindlichen Truppen besetzt wird. Dass das Personal von der gegnerischen Seite gezwungen wird, ein Kraftwerk mit mehreren Reaktoren weiterzubetreiben. Dass deren Angehörige angeblich entführt und gefoltert werden.

Jahrgang 1959, berät als Energieexperte internationale Institutionen zur Atomsicherheit. 1997 wurde er mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Jährlich gibt er das Standardwerk „World Nuclear Industry Status Report“ heraus.

Warum finden Sie die Rolle der IAEO dabei so problematisch?

In einem aktiven Krieg kann niemand für die Sicherheit eines AKWs garantieren. Sie basiert auf einem System von komplexen Vorschriften, Inspektionen, Wartungen, regelmäßigen Kontrollen und gesundem, ausgeruhtem Personal. Aber in Saporischschja gibt es seit Monaten keine Kontrollen. Die Bedienungsmannschaften tun sicher, was sie können, aber sie arbeiten ohne normale Aufsicht und externe Kontrolle unter enormem Stress. Über die Bedingungen von Ersatzteillieferungen und Wartung ist nichts bekannt.

Sie werfen der IAEO vor, dass sie die Lage trotz dieser absoluten Ausnahmesituation als beherrschbar darstellt?

Die Vorgehensweise der IAEO birgt die Gefahr, dass es normalisiert wird, Atomkraftwerke in einem Krieg laufen zu lassen. Das ist extrem problematisch. Denn es gibt keine Basis für den sicheren Betrieb von AKWs in einer Kriegssituation. Sicherheit kann nur auf den normalisierten Stand gebracht werden, wenn die kriegerischen Handlungen eingestellt werden.

Haben wir uns schon daran gewöhnt, dass auch AKWs strategische Ziele sind?

Wir schrecken ja schon nicht mehr auf, wenn die Stromversorgung zum AKW unterbrochen wird, wie es bereits mehrfach passiert ist. Ohne Strom können die Reaktoren nicht gekühlt werden. Die Kühlung wird dann mit notorisch unzuverlässigen Dieselgeneratoren ermöglicht. Es ist erstaunlich, wie hoch der Gewöhnungseffekt inzwischen geworden ist.

Wie eng ist die IAEO mit Russland verbunden?

Ich bin verblüfft, dass die Frage der Governance der IAEO – nach welchen Regeln der Gouverneursrat Entscheidungen fällt – und die Rolle Russlands während der Generalversammlung im vergangenen Herbst nicht öffentlich thematisiert wurde. Der für Atomenergie zuständige stellvertretende Generaldirektor Mikhail Chudakov, also die zweithöchste Führungsebene der Organisation, ist Russe und ehemaliger Manager der Rosatom-Firma Rosenergoatom. Und die Rosatom-Leute sind aktiv beteiligt an der Besetzung des Kraftwerkes Saporischschja. Wie geht das? Ist das jetzt auch normal? Warum wird das nicht problematisiert?

Was bedeutet das für die IAEO?

Darauf habe ich keine Antwort. Aber man kann doch nicht so tun, als wäre nichts. Das hat ja Konsequenzen weit über die Ukraine hinaus. Nur Russland baut in sieben anderen Ländern Atomkraftwerke. Russland ist entscheidend für diesen Nischenmarkt. Wenn Rosatom in Ägypten, Bangladesch oder Belarus ein AKW errichtet, dann ist die IAEO ein entscheidender Wegbereiter. Die Organisation entwickelt Strategien für die Einführung von Atomkraft in Ländern, die sich ein Atomprogramm zulegen wollen. Sie erstellt Fahrpläne, wie starte ich ein Atomprogramm. Damit bereitet die IAEO, eine UNO-Agentur, dem russischen Atomsektor den Weg – einer Industrie, die gleichzeitig in der Ukraine in kriegerische Auseinandersetzungen involviert ist. Diese Firmen sind an Staatsterrorismus beteiligt – wie die ukrainische Regierung es ausdrückt – und die IAEO unterstützt sie weiter in anderen Ländern. Das kann man doch nicht ignorieren.

Was sollte die IAEO tun?

Man muss sich fragen, was im Gouverneursrat der IAEO diskutiert wird. Das ist ein politisches Gremium, da sitzen die Vertreter von Regierungen. Da muss doch mal jemand fragen, was die Optionen in einer solchen beispiellosen Situation sind, in diesem Fall gegenüber Russland. Zum Beispiel könnte der Posten des russischen stellvertretenden Generaldirektors wenigstens eingefroren werden.

Ist die internationale Atomgemeinde von Russland denn so dermaßen abhängig, dass sich da niemand bewegen will?

Es ist nicht mein Job, diese Schlussfolgerungen zu ziehen. Aber kann man durch die enge Verbindung erklären, dass die europäischen Sanktionen gegenüber Russland bisher den Atomsektor aussparen? Auch die US-Atom-Industrie hat sofort nach Kriegsbeginn bei der Biden-Regierung dafür Druck gemacht, den russischen Atomsektor von Sanktionen auszusparen. Da liegt der Verdacht nahe, dass die Handelsbeziehungen wichtiger sind als anderes.

Hat der Westen Alternativen zum Atomhandel mit Russland?

Es gibt einen Unterschied zwischen Handelsbeziehung und Abhängigkeit. Natururan bekommt man auch in Kanada oder Australien, das ist kein Ressourcenengpass, sondern eine Kostenfrage. Anders ist es etwa bei der Herstellung von Brennelementen, da hängen neben der Ukraine auch fünf EU-Länder am Tropf von Russland. Da gibt es kurzfristig keine Alternative, die den Bedarf decken könnte.

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