Vom Winde verweht

Zwei Parteichefinnen in Weimar, und kaum jemand interessiert’s. Eine ausgewiesene Kritikerin in Schwerte, und der Platz ist voll. Die Linke hat ihre internen Streitigkeiten so lange öffentlich zelebriert, dass sich das Wahlvolk abwendet. Hilft jetzt die Union aus der Patsche?

Janie Wissler. Ihr Verhältnis zu Wagenknecht? „Freundlich, aber nicht eng“ Foto: M. Wehnert/Future/imago

Aus Weimar und Schwerte Anna Lehmann,
aus Schwerte Andreas Wyputta

Der Wahlkampfstand, den die Linke Ende August im Plattenbauviertel Weimar-West aufgebaut hat, steht etwas ungünstig. Die Leute gehen zum Einkaufen oder Geldabheben nicht am Stand der Partei vorbei. Und es zieht. Der Wind reißt irgendwann die rote Folie ab, die den Tisch umschließt. Zwei ältere Genossen bemühen sich, die Verkleidung wieder zu befestigen. Ihre Pappschilder vor Brust und Rücken mit der Aufschrift „Sparkasse Weimar-West muss bleiben“ behindern sie. Die Parteivorsitzende Susanne Hennig-Wellsow hantiert mit Kabelbindern. Es ist ihr Wahlkreis, sie will hier das Direktmandat holen. Zu Gast ist an diesem Tag auch ihre Co-Vorsitzende Janine Wissler. Die versucht erst gar nicht, mit handwerklichen Fähigkeiten zu glänzen.

Der Wind ist schließlich stärker. Die Ge­nos­s:in­nen geben auf. Rollen die Folie zusammen und packen sie in den Bus. Nun steht der Tisch ziemlich nackt da.

Irgendwie passt die Lage des Tischchens zur Situation der Linken. Die liegt seit Wochen hinter allen anderen im Bundestag vertretenen Parteien, mal ein, mal zwei Punkte über der 5-Prozent-Hürde. Und sie steht obendrein neuerdings im Sturm echter und gespielter Entrüstung. Mit ihrer Entscheidung, sich bei der Abstimmung über die Evakuierung afghanischer Ortskräfte zu enthalten, habe sich die Linke selbst ins Abseits geschossen, so die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Dann ging SPD-Kandidat Olaf Scholz auf noch mehr Distanz, verlangt ein Bekenntnis zur Nato. Und die CDU/CSU schießt sich nun auf Rot-Grün-Rot ein und warnt aktuell vor einem Linksrutsch.

Das alles könnte der Linken gelegen kommen, immerhin nimmt sie mal wieder jemand wahr. In der Bundestagsfraktion ist man schon fast so weit, Präsentkörbe für die Union zu packen. Doch die Mehrheit der Wäh­le­r:in­nen hat offenbar noch nichts davon mitbekommen, wie brandgefährlich die Linke ist. Wie festbetoniert stagnieren die Linken in den Umfragen. Die Spitzenkandidaten Janine Wissler und Fraktionschef Dietmar Bartsch bemühen sich bislang vergeblich, einen Hauch von Aufbruch zu erzeugen. Dass von Bartsch ausgegebene Ziel, zweistellig zu werden, ist derzeit so fern wie der Mars.

Sogar der Worst Case scheint nicht gänzlich ausgeschlossen. Die Partei könnte, wie schon 2002 zu Beginn der Ära Merkel, wieder aus dem Bundestag geweht werden.

Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler antwortet am Telefon schnell und entschieden. Das glaube er gar nicht. Die Stammwählerschaft bleibe der Linken treu. Was ihm eher Sorgen bereitet: „Wir schöpfen unser Wäh­le­r:in­nen­po­ten­zi­al bei Weitem nicht aus.“ Sechs Prozent seien fest entschlossen, die Linke zu wählen, doch 14 Prozent haben angegeben, sie könnten sich zwar vorstellen, die Linke zu wählen. Tun es aber nicht.

Ein wichtiger Grund heißt: Sahra Wagenknecht. Ein Gutteil der potenziellen Wäh­le­r:in­nen sage nämlich, sie könnten die Linke nicht wegen Sahra wählen. Und ein anderer Teil gebe an, die Linke nicht zu wählen, weil die so schäbig mit Sahra umgehe. „In der Situation kannst du es eigentlich niemandem recht machen, deshalb muss diese unproduktive Polarisierung raus“, meint Schindler.

Sahra Wagenknecht ist prominent, eloquent und kann Populismus. Sie ist die heimliche Spitzenkandidatin der Linken. Sie hat ein Buch geschrieben, in dem sie die Lifestyle-Linken anprangert. Viele Ge­nos­s:in­nen lesen es als Angriff auf Positionen der Partei. Aber sie zieht Leute, füllt Säle und Plätze.

Schwerte im Ruhrgebiet am vergangenen Donnerstag: Um 17 Uhr soll Wagenknecht hier auftreten – und schon eine Stunde zuvor ist der Markt, auf dem die Ge­nos­s:in­nen Bühne und Infostand aufgebaut haben, gut gefüllt. Weil viele Menschen stehen müssen, tragen Hel­fe­r:in­nen Bierbänke heran.

Mag die einstige Fraktionschefin mit ihren Positionen zum Asylrecht, zur Genderpolitik oder zum Klimaschutz auch polarisieren – auf die Straße bringt sie ihre Anhänger:innen, aber auch Kritiker.innen noch immer.

Scholz will Rot-Grün SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz hofft auf eine Mehrheit für eine rot-grüne Koalition. „Ich möchte gerne mit den Grünen zusammen regieren“, sagte er dem Tagesspiegel. Sollte es dafür nicht reichen, bevorzugt Scholz ein Bündnis aus SPD, Grünen und FDP. Eine Koalition mit Grünen und Linken kommt für Scholz hingegen kaum in Frage.

SPD gewinnt weiter Laut aktuellen Umfragen hätte eine rot-grüne Koalition allerdings keine Mehrheit. Insa ermittelte für die Bild am Sonntag 25 Prozent für die SPD, ein Punkt mehr als in der Vorwoche. Die Union verlor hingegen einen Punkt und lag bei 20 Prozent. Die Grünen verloren einen Punkt und lagen bei 16 Prozent, die AfD legte auf 12 Prozent zu. Die FDP blieb bei 13 Prozent, die Linke kam auf sieben Prozent.

Linke hofft Die Linkspartei selbst bereitet sich auf eine Regierungskoalition mit SPD und Grünen vor. Das Fenster für eine Regierungsbeteiligung sei so weit geöffnet wie noch nie, sagte Parteichefin Susanne Hennig-Wellsow der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. „Wann, wenn nicht jetzt?“, fragte sie. (afp, taz)

„Aus Neugier“ sei sie hier, sagt Gabriele Schmidt. Die 64-Jährige ist bekennende Unterstützerin der Linken, wählt die Partei wegen ihrer Sozialpolitik. „49 Jahre habe ich gearbeitet“, erzählt die gelernte Fleischfachverkäuferin. Zuletzt war Schmidt Hausmeisterin einer Schule. Gerade Rentnerin geworden, muss sie jetzt mit 1.100 Euro im Monat auskommen. „Für 49 Jahre harte körperliche Arbeit ist das ein Witz“, ärgert sie sich. Wagenknecht sei ihr „sehr sympathisch“.

Für mehr Klimaschutz ist die Rentnerin auch, nur müsse der bezahlbar bleiben, dürfe nicht überhastet eingeführt werden. Auf die Frage aber, ob Deutschland ein sicherer Hafen für Schutzsuchende bleiben solle, reagiert sie vorsichtig: „Das Thema Asyl ist sehr heikel“, sagt Schmidt.

Die Abiturientinnen Lea Gruner und Nele ter Jung hat dagegen die Skepsis auf den Schwerter Marktplatz gebracht. „Eigentlich finde ich die Linke sehr gut – aber von Wagenknecht bin ich nicht überzeugt“, sagt die 19 Jahre alte ter Jung diplomatisch. Den Satz „Wer Gastrecht missbraucht, hat Gastrecht verwirkt“, mit dem die damalige Fraktionschefin 2016 die Angriffe der Kölner Silvesternacht kommentierte, stößt die beiden Schülerinnen auch fünf Jahre später noch ab. „Das Asylrecht zu einem ‚Gastrecht‘ abzuqualifizieren, geht gar nicht“, sagt die 17-jährige Lea Gruner.

Wagenknechts Ablehnung einer geschlechtergerechten Sprache ärgert beide. Gegenderte Sprache sei ein Teil von Geschlechtergerechtigkeit – und „Gerechtigkeit ist doch wohl Kern der Politik der Linken“, sagt ter Jung. Für sie ist deshalb klar: „Wagenknecht repräsentiert die Linke nicht, widerspricht dem Parteiprogramm.“ Ähnlich kritisch blickt auch Daniel Kramer auf die NRW-Spitzenkandidatin der Partei: „Wagenknecht hat sich an ein Milieu angebiedert, das ich verachte“, sagt der 41-jährige Lehrer.

Als Wagenknecht mit 25 Minuten Verspätung in einer schwarzen Audi-Limousine vorfährt, wird trotzdem spürbar, für viele hier ist sie eine Ikone: Der Applaus beginnt bereits, als die Bundestagsabgeordnete aussteigt. „Die schönste Frau der Welt“, ruft eine Frauenstimme aus der Menge.

Auf der Bühne kommt Wagenknecht schnell zur Sache. Sie lobt das kategorische Nein ihrer Partei zu Rüstungsexporten. Danach folgt die soziale Frage in allen Facetten. Gerade die Christdemokraten hätten während der Pandemie plötzlich von „Solidarität“ geredet – und dabei Geringverdiener, auf Hartz IV Angewiesene, kleine Selbstständige vergessen. Mit 700 Millionen Euro an Kurzarbeitergeld beglückt worden sei dagegen der Daimler-Konzern. Und der habe die Millionen schnell wieder an seine Aktionäre ausgeschüttet. „Politiker, die so etwas zulassen, die muss man doch vom Acker jagen“, ruft Wagenknecht unter viel Beifall.

Weitere Klassiker der Linken folgen. Der Zwang, nach nur einem Jahr ohne Job den Großteil der Rücklagen aufzubrauchen, um überhaupt Hartz IV zu bekommen, sei „Enteignung“ – und nicht, wie von der Union behauptet, eine Vermögenssteuer „für Multimillionäre und Milliardäre“, donnert die NRW-Spitzenkandidatin. Auch für die Geringverdiener kämpfe die Linkspartei – mit ihrer Forderung nach einem Mindestlohn von 13 Euro.

Denn der Niedriglohnsektor sei „nicht vom Himmel gefallen“ – jetzt geht es gegen die Sozialdemokraten. Deren Kanzlerkandidat Olaf Scholz verspreche „stabile Renten“, habe aber offenbar noch nicht mitbekommen, dass „viele Menschen von ihrer Rente nicht leben können“.

Und die Grünen seien erst recht keine Alternative, donnert sie: „Grün ist die Farbe der Verteuerung.“ Den „schicken Tesla, das Niedrigenergiehaus“ könnten sich viele schlicht nicht leisten.

„Wir müssen jetzt unsere Konflikte nach hinten stellen und die Inhalte nach vorn. Wir müssen deutlich machen: Es geht um was“

Janine Wissler, Parteivorsitzende

Zum Thema Migration, zur gendergerechten Sprache, zum Schutz von Minderheiten dagegen kein Wort.

„Eine gute Rede – genau meine Themen“, sagt Rentnerin Gabriele Schmidt. „Sahra Wagenknecht hat viele gute Sachen gesagt – aber viel Kontroverse vermieden“, finden die Abiturientinnen Nele ter Jung und Lea Gruner. Allerdings: „Populistisch“ seien die Klimaschutzpassagen gewesen – natürlich müsse auch der individuelle Lifestyle verändert werden. Wohl auch deshalb ist Lehrer Daniel Kramer nicht mehr zu sehen. Schon vor Wagenknechts Rede hat er erklärt, er werde dieses Mal wohl die Grünen wählen.

Es gibt Genoss:innen, die glauben, ohne Wagenknecht stünde die Linken besser da. Sie sei die größte Hypothek für den Wahlkampf, meint ein Mitglied des Parteivorstands. „Sahra hat uns eine Million Wählerstimmen gekostet“, meint ein anderer Genosse aus der Fraktion. „Wir lagen 2017 in allen Großstädten vor den Grünen. Bis Sahra eine Debatte über Migrationspolitik vom Zaun gebrochen hat und Aufstehen gegründet hat.“ Die Grünen hätten sich bedankt.

Die Sammlungsbewegung Aufstehen, die Wagenknecht vor drei Jahren gemeinsam mit Po­li­ti­ke­r:in­nen von SPD und Grünen aus der Taufe gehoben hatte, ist inzwischen gescheitert. Dass eine Fraktionsvorsitzende eine Bewegung gründet, die dem eigenen Laden den Kampf ansagt, kann man bei vielen Linken bis heute nicht verwinden.

Doch Teile der Führung haben einfach so getan, als ob Wagenknecht und Aufstehen eine gutgelaunte Rasselbande seien, die man eben ertragen müsse. Bis Wagenknecht 2019 ausstieg. Kurz darauf trat sie auch als Fraktionschefin zurück, nicht ohne darauf zu verweisen, wie sehr sie die dauernden Angriffe auf ihre Person zermürbt hätten.

Doch es wäre zu einfach, die Probleme der Linken Sahra Wagenknecht in die Schuhe zu schieben. Tatsächlich haben sich die debattierfreudigen Ge­nos­s:in­nen in den letzten Jahren bevorzugt mit sich selbst beschäftigt und in endlosen Diskussionen verloren. Muss es „offene Grenzen“ oder „offene Grenzen für alle“ heißen? Gehören Klima, Gender, Antirassismus zu den eigenen Brot-und-Butter-Themen oder sollte man sie den Grünen überlassen? Will man grüner als die Grünen sein oder das Wort „grün“ lieber ganz aus dem Parteivokabular tilgen? Und – der alte Evergreen seit Gründung – will man überhaupt regieren?

4,3 Millionen Menschen gaben der Linken bei der letzten Bundestagswahl 2017 ihre Stimme. Doch die Ge­nos­s:in­nen gebärdeten sich zeitweise wie Gast­ge­be­r:in­nen einer Party, die sich nicht um die Gäste kümmern, sondern stattdessen darum streiten, ob der Grill links oder rechts steht und wer die Grillzange halten darf.

Diese Zerrissenheit führte dazu, dass die Linke in wichtigen Fragen Kompromisse schloss, die vor allem dem internen Frieden dienten, aber kaum vermittelbar waren. Jüngstes Beispiel: Die Linksfraktion enthielt sich im Bundestag bei der Abstimmung über die Evakuierung von Ortskräften, obwohl sie schon im Juni gefordert hatte, diese rasch auszufliegen. Ein Kompromiss zwischen den Pragmatikern und den orthodoxen Linken, für die eine Zustimmung zu Auslandseinsätzen ein Sakrileg ist.

Sahra Wagenknecht entsteigt in Schwerte ihrer Limousine. Beifall brandet auf. Doch intern ist die frühere Fraktions­chefin höchst umstritten Foto: Jan Hübner/imago

Diese inhaltliche Unentschiedenheit spiegelt sich auch in den aktuellen Wahlplakaten wieder. Diese changieren zwischen violett, rosa und dunkelgrün, mal mit, mal ohne Personen, die eh kaum ein Mensch kennt. Ein Ausdruck der neuen Diversität in der Partei, wie Bundesgeschäftsführer Schindler sagt. Ja, es habe Ge­nos­s:in­nen gegeben, die wollten lieber die alten Plakate zurück: Schwarze Großbuchstaben, weiß abgesetzt auf rotem Untergrund, „Hartz IV muss weg“.

Allein, das Rot hat die SPD für sich gebunkert, ebenso die schwarz-weiße Optik und die klaren Ansagen. Olaf Scholz hängt auch in Weimar an den Laternenpfählen und verspricht „Kompetenz für Deutschland“. Selbst die Parteivorsitzende der Linken, Hennig-Wellsow, muss zugeben, dass ihr die SPD-Plakate zusagen. „Kompetenz für Deutschland, das hat was“, murmelt sie. Zur Kampagne der eigenen Partei äußert sie sich lieber nicht.

Kompetenz für Deutschland, das würde Hennig-Wellsow, die sechs Jahre lang die Linke als Regierungspartei in Thüringen vertrat, auch gern versprechen. An diesem Montag wird sie zusammen mit Wissler und den Fraktionsvorsitzenden ein Sofortprogramm präsentieren: Mindestlohn von 13 Euro, eine Kindergrundsicherung, eine Anhebung des Rentenniveaus und die Kürzung der Rüstungsausgaben um 10 Milliarden Euro verlangt die Linke darin. Von der Abschaffung der Nato ist nicht die Rede. Doch statt Regierungswillen auszustrahlen, hat die Partei in den vergangenen Jahren vor allem nach ihrer Funktion in der Gesellschaft gesucht.

Die PDS war die Partei, die den Osten im wiedervereinigten Deutschland vertrat. Die mit der Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit zur Linken vereinigte Partei bot der Agenda 2010 die Stirn. Doch die Mitglieder, die die Partei durch die letzten 30 Jahre getragen haben, sterben langsam aus.

60.000 Ge­nos­s:in­nen zählt die Partei, der Stand hat sich in den letzten Jahren wenig verändert. Die Konstanz kaschiert, dass die Linke in dieser Zeit ein Drittel ihrer Mitglieder verloren hat. Die Verluste wurden durch neue Mitglieder ausgeglichen, zwei Drittel sind unter 35 Jahre. Viele sind sozial engagiert, finden aber Themen wie Gender, Race und Klimawandel mindestens genauso wichtig. Mit den heutigen Rent­ne­r:in­nen im Osten, die im Kleingartenverein und in der Volkssolidarität waren und Arbeitslosen beim Ausfüllen der Hartz-IV-Anträge halfen, haben sie wenig gemein.

„Die Linke muss den Schwenk von der Kümmererpartei zur Empowermentpartei machen, es geht darum, Menschen zu organisieren und deren Stimmen zu transportieren“, meint Tim Detzner. Der Stadtvorsitzende in Chemnitz gehörte zur Hausbestzer:innenszene, er war in der Anti-Atomkraft-Bewegung und bei Glo­ba­li­sie­rungs­kri­ti­ke­r:in­nen aktiv. Im Frühjahr, als die Partei ihre Listen für die Bundestagswahl wählte, schlug er Landeschef Stefan Hartmann beim Kampf um einen aussichtsreichen Listenplatz.

Das geschah mit Unterstützung einer ziemlich jungen, ziemlich kleinen und dennoch recht einflussreichen Strömung in der Partei, die sich „Bewegungslinke“ nennt. Die Gruppierung aus ehemaligen Wagenknecht-Anhänger:innen, Altlinken und Neumitgliedern fand sich ursprünglich aus Frust über die damalige Fraktionschefin zusammen.

„Wagenknecht repräsentiert die Linke nicht, widerspricht dem Parteiprogramm“

Nele ter Jung, Abiturientin

Auch die Bewegungslinke will die Partei erneuern. Sie hat fast die Hälfte der Sitze im Parteivorstand erobert. Ihre Frontfrau: Janine Wissler. Ihre politische Vita ähnelt der von Detzner: Die 39-Jährige Hessin fuhr mit 14 zu ihrer ersten Demo. Sie war Sprecherin von Attac in Frankfurt am Main. Obwohl Wissler seit 2008 im hessischen Landtag sitzt, bleibt sie den außerparlamentarischen Bewegungen bis heute treu: Von Blockupy bis Waldbesetzungen, von Black Lifes Matter bis Fridays for Future – keine Demo ohne Wissler.

Das sind Anliegen, die Wagenknecht als Probleme von Lifestyle-Linken bezeichnet, die anderen vorschreiben wolle, „wie sie zu leben, zu essen, zu reden haben“. Glaubt man ihr, dann seien diese Leute für den Niedergang der gesellschaftlichen Linken verantwortlich. Wissler widerspricht. „Ich glaube nicht, dass es am Gendern liegt.“ Aber natürlich müsse man sich überlegen, wie man die Menschen besser erreichen könne.

In einem Punkt hat Wagenknecht recht: Diejenigen, für die die Linkspartei Politik machen möchte, die in prekären Jobs arbeiten, auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, abgehängt sind, die wählen die Partei kaum noch. Viele wanderten zur AfD ab oder gehen gar nicht zur Wahl.

Im Plattenbaubezirk Weimar-West, dort wo die Linke ihren Stand aufgebaut hat, wohnen viele Menschen, die arm sind. Man sieht es an den billigen Klamotten, den klapprigen Kinderwagen, den fehlenden Zähnen. Da ist Rosi, Rentnerin, die für 450 Euro in einer Schule Mittagessen ausgibt. „Wir wurden bei den Coronamaßnahmen vergessen“, sagt sie. Ohne die Ersparnisse ihrer Mutter käme sie nicht über die Runden. Rosi ist Genossin und nimmt gleich noch eine Unterschriftenliste mit.

Wissler inspiziert die Flyer auf dem Wahlkampftisch. „Da liegen wir ja einträchtig nebeneinander“, sagt sie zu Hennig-Wellsow. Die lacht: „Da passt kein Blatt zwischen uns.“ Die Harmonie zwischen den beiden Spitzenfrauen ist echt. Eigentlich sind sie grundverschieden, die burschikose Thüringerin und die immer elegant gekleidete Hessin. Die eine ist pragmatisch und regierungserfahren, die andere mischte bis vor Kurzem beim trotzkistischen Zusammenschluss Marx 21 mit. Doch die prekäre Lage der Partei und persönliche Erfahrungen haben die beiden in den letzten Monaten zusammengeschweißt.

Letzte Woche in Schwerte: Der Wagenknecht-Auftritt zieht viel Publikum an Foto: Jan Hübner/imago

Als sie später am Abend mit 150 Mitgliedern in einer Videokonferenz sitzen, teilen sie sich einen Bildschirm. Die Ge­nos­s:in­nen wollen wissen, wie man denn mit den Konflikten in der Partei umgehen soll: „Ich sach mal, der Ortsverband ist gespalten, die Hälfte hat gar keine Lust auf Wahlkampf.“ Wissler und Hennig-Wellsow schauen sich an. „Wir müssen jetzt unsere Konflikte nach hinten stellen und die Inhalte nach vorn“, sagt Wissler und ihre Stimme wird laut und klar. „Wir müssen deutlich machen: Es geht um was.“

Die beiden Frauen vertrauen einander. Sie teilen sich die Aufgaben. Wissler, die begabte Rednerin, bestreitet Talkshows, Hennig-Wellsow, die Macherin, fährt ins Saarland und lotst Oskar Lafontaine und seine Frau Sahra Wagenknecht nach Thüringen.

Ende August, eine Woche nach Wisslers Ausflug in Weimar, sprechen Wagenknecht und Lafontaine gemeinsam mit Hennig-Wellsow in der Goethe-Stadt vor 700 Menschen. Dass es erstmals seit Jahren wieder zu einem gemeinsamen Wahlkampfauftritt einer Parteivorsitzenden mit Wagenknecht kommt, habe eine extreme Wirkung in der Partei, sagt ein Spitzengenosse. Die Debatten hätten sich entspannt.

Die Wege von Wissler und Wagenknecht, der offiziellen und der heimlichen Spitzenkandidatin, werden sich im Wahlkampf nicht kreuzen, es gibt keine gemeinsamen Auftritte. Doch dass Wagenknecht eher die kleinen Städte und Wissler eher die Metropolen bespielt, das kann man auch als eine Art von Aufgabenteilung betrachten. Wisslers Verhältnis zu Wagenknecht? Sie zuckt die Schultern. „Freundlich, aber nicht eng.“

In Weimar klappen die Ge­nos­s:in­nen später am Tag den Tisch zusammen und verabschieden die beiden Parteichefinnen. „Uns allen viel Erfolg“, ruft ein Mann mit grauem Schnurrbart. „Wir lagen hier schließlich mal bei 43 Prozent, jetzt sind wir noch bei 25. Aber wir werden das schon noch schaffen.“

Bis dahin ist es noch ein weiter Weg – für die Linke und ihre Führungsfrauen.