Debatte über die Energiepolitik: Mut zum Befreiungsschlag
Kernkraftwerke sind Marathonläufer, Erneuerbare Energien Sprinter. Eine kluge Klimastrategie setzt auf beide. Der Anti-AKW-Katechismus hat ausgedient.
M it dem Debattenbeitrag von Silke Mertins ist die Klima- und Atomdebatte nun auch in der taz angekommen, und sie hat recht: Wir müssen reden. Hätte Deutschland ab dem Jahr 2000 die erneuerbaren Energien ausgebaut und gleichzeitig Kohle- statt Kernkraftwerke vom Netz genommen, stünde unser Land bei den CO2-Emissionen heute da, wo die Bundesregierung 2030 sein will.
Die Jahresstromproduktion der drei letzten Kernkraftwerke Emsland, Neckarwestheim-2 und Isar-2 beträgt über 34 Milliarden Kilowattstunden. Würde man Kohlestrom (820 g CO2/kWh) dieser Menge durch Atomstrom (12 g CO2/kWh) ersetzen, ergäbe sich eine rund zehnmal größere CO2-Einsparung als durch ein Tempolimit 120, für das die Fridays for Future-Bewegung trommelt.
Technisch ist eine Laufzeitverlängerung möglich. Dass die AKW-Betreiber nun nicht mehr wollen, ist wenig verwunderlich: Industrie folgt Politik. Es ist die Politik, die solche Entscheidungen per Klimanotstandsverordnung durchsetzen müsste. Es wäre ein Befreiungsschlag für den vergrämt wirkenden Robert Habeck, sich vors Volk zu stellen und zu sagen: Tempolimit, Inlandsflugverbot und Laufzeitverlängerung. Wir verlangen nicht nur euch das Äußerste ab, sondern auch uns selbst. Wir verabschieden uns von unserer Anti-Atom-Identität, um das Klima zu retten.
Doch der Mut fehlt allenthalben, und die Koalitionsraison lässt keinen radikalen Klimaschutz zu. Die bemühten Versuche, den Geist der Rede über die Atomkraft wieder in die Flasche zu kriegen, klingen wie auswendig gelernt. Lassen wir mal die Framings des grünen BASE-Präsidenten Wolfram König beiseite, der die Atomkraft geschickt mit „verdächtiger“ Presse und AfD assoziiert. Was wir hören, ist eine Art Katechismus, dessen Glaubenssätze lauten: Atomkraft ist gefährlich, Atomkraft ist teuer, Atomkraft ist zu langsam, um noch Einfluss auf den Klimawandel zu nehmen. Obendrauf die guten alten Erzählungen aus der Frühzeit der Debatte: Sonne und Wind, sie schickten keine Rechnung.
ist Historikerin in Marburg. Für ihre Habilitationsschrift über die kerntechnische Moderne forschte sie mehrere Jahre lang in AKWs. Die ehemalige Atomkraft-Gegnerin war 2015 bis 2021 Beirätin der Heinrich-Böll-Stiftung. Aus dem Pro-Atomkraft-Verein Nuklearia ist sie wegen rechter Tendenzen einzelner Mitglieder ausgetreten.
Auch die Erde schickt uns übrigens keine Rechnung für das Uran, das sie uns schenkt. Die Rechnungen kommen vom Bergwerk, von der Urananreicherungsanlage und vom Reaktorbauer. Doch nicht anders ist es bei den Erneuerbaren: Hier steigen gerade die Rechnungen für den gigantischen Rohstoffbedarf dieser Energie-Ernte-Maschinen, der natürlich auch aus den Bergwerken kommt. Hier muss für Landflächen bezahlt werden und vor allem für den Schatten-Gaskraftwerkspark und die Speicher, die einspringen, wenn Sonnen- und Windkraftwerke nicht verfügbar sind.
Während sich Deutsche in den letzten Tagen trefflich über ausgefallene französische AKWs erregten, merkten sie gar nicht, dass ihre eigene Windkraft und Photovoltaik über Tage hinweg wetterbedingt bis zu 90 Prozent vom Netz waren. Dann übernehmen die Fossilen – und das ist die Lebenslüge der deutschen Energiewende.
Die deutsche Kerntechnik war nie gefährlich – es gibt kaum eine deutsche Industrie mit einer ähnlich geringen Umweltschadens- und Opferbilanz. Weder Fukushima noch Tschernobyl waren auf die deutschen Anlagen und ihr robustes Sicherheitskonzept übertragbar. Das bestätigte der Bundeskanzlerin Angela Merkel 2011 auch ihre eigene Reaktorsicherheitskommission. Follow the science? Nicht hier.
Atommüll ist nicht eine Million Jahre lang monströs gefährlich. Nach 500 Jahren Lagerzeit ist die intensive Gammastrahlung seiner schnell zerfallenden Bestandteile auf eine Dosisrate gesunken, welche für die Biosphäre kein signifikantes Risiko mehr darstellt. Es gibt einen hohen Forschungskonsens über die Art und Weise einer guten tiefengeologischen Langzeitlagerung, kein Anlass also, das Atommüllproblem zu überhöhen. Es müssen auch nicht Hunderttausende Jahre lang Wachleute um dieses Lager patrouillieren, wie immer wieder suggeriert wird. Im Gegenteil: Nach Verschluss des Lagerbergwerks gibt es ein Recht auf Vergessen, die Geostrukturen übernehmen die Wächterfunktion.
Ganz anders die Kohle, die der öko-konservative Solarprediger Franz Alt als kleineres Übel abtut. Hier wird in der Atmosphäre endgelagert. Schaut man sich, ganz abgesehen von der Klimafrage, die Gesundheitsfolgen von Kohleverstromung und die Opferbilanz der montanen Arbeitswelt an, so ist der Killer Nummer eins die Kohle – Hunderte Tschernobyls jedes Jahr. Und natürlich wusste man das, als man begann, sie sich zur harmloseren Alternative schönzureden. Nun rückt das Erdgas in die Funktionsstelle des kleineren Übels ein.
Kernkraftwerke sind nicht teurer als Erneuerbare, wenn man sie in Serie baut und ihnen eine sorgfältige Detailplanung angedeihen lässt – beides war im Falle der beiden Longbuilds in Flamanville und Olkiluoto nicht der Fall, wohl aber bei den deutschen Konvoi-Anlagen, deren Stromentstehungskosten auf Höhe der Windkraft liegen. Betrachtet man die Systemkosten und die Anlagenlebensdauern von Erneuerbaren, so schmilzt ihr scheinbarer Kostenvorteil dahin.
Kernkraftwerke sind teuer im Bau und bei den Kapitalkosten – aber wenn sie am Netz sind, sorgen sie 60 Jahre für gesicherte Leistung, und sie tun das mit Blick auf Klima, Naturschutz und Biodiversität minimalinvasiv. AKWs zu planen und zu bauen dauert nicht länger, als ein Erneuerbaren-System auf nettonull zu bringen, das man ja erst mal mit Wasserstoff von seinem fossilen Ballast befreien muss.
Kernkraftwerke sind Marathonläufer, Erneuerbare Sprinter. Eine kluge Klimastrategie würde auf beide setzen, statt Nullsummenspiele zu spielen und Gazprom-Gas zu verbrennen. Der „material footprint“ einer nuklear-erneuerbaren Strategie liegt weit unter dem einer Nur-EE-Strategie. Der Anti-AKW-Katechismus hat ausgedient, und in Europa weiß man das längst. Wollte Luisa Neubauer wirklich einen spektakulären klimapolitischen Move, dann müsste sie sich mit Greta Thunberg vor dem AKW Isar 2 anketten und für seine Laufzeitverlängerung streiken.
Dieser Kommentar ist Teil einer breiteren Diskussion zu Klimawandel und Atomkraft. Alle Texte finden Sie hier.
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