Mobilmachung der Ukraine: Mehr Soldaten braucht das Land
Die Regierung in Kyjiw versucht, mit Gesetzesänderungen neue Rekruten heranzuziehen. Auch auf Ukrainer im Ausland will man zugreifen können.
Sie sorgt derzeit für Debatten in der Ukraine, die Rekrutierung von zusätzlichen Kräften für die Armee. Ende August sagte Präsident Wolodimir Selenski bei einem Treffen mit Abgeordneten: „Das Militär hat sich an mich gewandt, um entsprechende Möglichkeit zu schaffen.“ Für die Ukrainer*innen kam die Ankündigung nicht überraschend, denn die Behörden hatten die Öffentlichkeit schon lange darauf vorbereitet, dass der Krieg gegen Russland noch Jahre dauern könnte.
Im Sommer leiteten die Behörden Strafverfahren wegen Korruption in Rekrutierungszentren und medizinischen Kommissionen der Armee ein. Darüber hinaus wollen die Regierung und das Parlament jetzt Gesetzeslücken schließen, die es bislang ermöglicht haben, sich der Mobilisierung zu entziehen.
So brachte Fjodor Wenislawski, Abgeordneter der Präsidentenpartei „Diener des Volkes“, diesen Monat einen Gesetzentwurf ein, der einen Aufschub der Einberufung für Männer über 30 Jahre, die gerade eine zweite Hochschulausbildung absolvieren, aufheben könnte.
Bislang machten nicht nur Schulabgänger von dieser Möglichkeit Gebrauch, sondern auch diejenigen, die die Schule schon vor langer Zeit verlassen, ihre erste Hochschulausbildung abgeschlossen sowie Kinder oder Enkel haben. Diese Wehrpflichtigen verfügten in der Regel über gute Einkommen und könnten daher für ein Studium bezahlen, um automatisch einen Aufschub der Einberufung gewährt zu bekommen.
Studieren, statt kämpfen
Das Bildungsministerium der Ukraine veröffentlichte Ende August dazu folgende Daten: So gab es vor dem Krieg etwa 40.000 Studierende über 25 Jahre. 2022 belief sich deren Anzahl bereits auf 106.000, in diesem Jahr nähert sich der Wert ebenfalls der 100.000-Marke an. „Das bedeutet, dass etwa 60.000 Männer beschlossen haben, diese Gelegenheit zu nutzen, um der Einberufung zu entgehen“, glaubt der Abgeordnete Wenislawski.
Mittlerweile haben auch Abgeordnete anderer regierungsnaher Parteien entsprechende Gesetzentwürfe vorgelegt. Ein Aufschub soll nur noch für Studierende unter 30 Jahren gelten, die sich zum ersten Mal einschreiben oder ihre Qualifikation verbessern wollen. Auch wissenschaftliches und pädagogisches Personal unterliegt weiterhin nicht der Wehrpflicht.
Der Rest der „neuen Studenten“ über 30 Jahre müsste im Falle einer Einberufung dienen. Zu Einwänden, damit würden verfassungsrechtliche Normen verletzt, sagte Wenislawski: „In Kriegszeiten ist die Einschränkung einiger Menschenrechte möglich.“
Schon im August 2022 untersagten die Behörden jungen Studierenden, die einen Studienplatz an europäischen Universitäten erhalten hatten, Reisen ins Ausland. Dies sorgte bei den Betroffenen und ihren Eltern für Unmut. Viele erfuhren erst beim Grenzübertritt von dieser Neuerung.
Werden bald Auslieferungsanträge an Bulgarien gestellt?
Die Entscheidung der Behörden wurde damit begründet, dass die Zahl der Ukrainer, die im Ausland studieren möchten, dramatisch angestiegen sei. Unter den Studienanfängern an ausländischen Hochschulen waren nicht nur junge Menschen, sondern auch solche über 40 oder 50 Jahre.
Dieser Tage sind von der Regierungspartei weitere drastische Äußerungen zur Mobilisierung zu vernehmen. Wehrpflichtige, die die Ukraine mit gefälschten Wehrunfähigkeitsbescheinigungen verlassen haben, sollen zwangsweise in ihre Heimat zurückgeschickt werden können. Zu diesem Zweck könne die Ukraine bei anderen Ländern einen Auslieferungsantrag stellen, sagte der Vorsitzende der Fraktion „Diener des Volkes“, Davyd Arachamija.
Jurist*innen melden Bedenken an. Für jede „Flucht“ ins Ausland wegen gefälschter Dokumente müssten sich ukrainische Strafverfolgungsbeamte an das entsprechende Land wenden und nachweisen, dass sich die Person dort illegal aufhält und versteckt. Erst dann könne ein Auslieferungsverfahren eingeleitet werden. Aufgrund europäischer Rechtsnormen könnten Betroffene vor Gerichten, zum Beispiel Bulgariens, Polens oder Rumäniens, jedoch klagen.
Laut ukrainischem Grenzschutz wurden seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 über 20.000 wehrpflichtige Männer an der Flucht aus dem Land gehindert. „Insgesamt haben die Grenzer seit dem 24. Februar vorigen Jahres etwa 14.600 Personen festgenommen, die illegal die Ukraine verlassen wollten“, sagte Grenzschutzsprecher Andrij Demtschenko am Dienstag im Nachrichtenfernsehen. Zusätzlich seien rund 6.200 Männer mit gefälschten Ausreisegenehmigungen erwischt worden.
Bisschen krank geht jetzt auch
Das Verteidigungsministerium hat derweil den Kreis mobilisierungspflichtiger Personen ausgeweitet. Dazu gehört auch eine aktualisierte Liste von Erkrankungen sogenannter „eingeschränkt wehrfähiger Männer“. Dem Dokument zufolge können nun auch Personen mit Diagnosen wie geheilter Tuberkulose, Virushepatitis oder Erkrankungen des endokrinen Systems mit geringfügigen Funktionsstörungen einberufen werden.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen