Stagnierende Impfquote in Deutschland: Peitsche statt Zuckerbrot
Noch immer sind 30 Prozent der Erwachsenen nicht gegen Covid-19 geimpft. Dabei könnten wir längst viel weiter sein. Wo Aufklärung ins Leere läuft, braucht es Druck.
S eit Ende Juni ist ausreichend Impfstoff in Deutschland vorhanden. Alle Erwachsenen können sich impfen lassen, vorausgesetzt, es sprechen keine gesundheitlichen Gründe dagegen. Allein die Tatsache, dass sich Menschen nicht impfen lassen können, nimmt die, die es können, in die moralische Pflicht, es auch zu tun.
Wir hätten schon viel weiter sein können. Aber gut zwei Monate nach dem Ende der Impfpriorisierung liegt die Quote der vollständig Geimpften knapp über 60 Prozent. 90 Prozent braucht es, wie der Virologe Christian Drosten rät, um die Pandemie Pandemie sein zu lassen und sich wieder schöneren Dingen des Lebens zu widmen. Stattdessen drohen uns bei steigenden Neuinfektionen im Herbst neue Einschränkungen.
Hätten die 30 Prozent, auf die wir noch immer warten, das Impfangebot wahrgenommen, könnten wir das neue Schuljahr entspannt in Angriff nehmen. Stattdessen diskutieren wir über Quarantäneregeln für SchülerInnen. Sollen nur die positiv Getesteten, die ganze Klasse oder doch nur das direkte Umfeld der Infizierten nach Hause geschickt werden? Und für wie lange?
Allein in Nordrhein-Westfalen sitzen, kaum dass die Ferien vorbei sind, 30.000 quarantänisiert daheim vor Glotze, PC, Tablet oder Handy. Und viel zu lange hat die Stiko mit ihrer Empfehlung für die Impfung von Jugendlichen gewartet.
Wir hätten schon viel weiter sein können. Aber weil 30 Prozent der für eine Impfung infrage Kommenden sich aus Nachlässigkeit verweigern, aufgrund unbestimmter Angst, vielleicht auch aus der schrägen Überzeugung heraus, Corona sei ein Mythos – nur deshalb müssen wir jetzt über 2 G und 3 G reden, über Persönlichkeitsrechte am Arbeitsplatz und ob MitarbeiterInnen ihren Impfstatus preisgeben müssen.
Ich möchte wissen, wer von meinen KollegInnen noch nicht vollständig geimpft ist, um dann entsprechend auf Abstand zu gehen oder meine FFP2-Maske hervorzukramen. Zu viel verlangt? Viel zu wenig! Die Ungeimpften sollten ins Homeoffice verwiesen werden oder auf eigene Kosten so lange beurlaubt, bis sie infiziert, erkrankt und wieder genesen sind. Beim US-Fernsehsender CNN gibt es schon Kündigungen – hart, aber verständlich.
Es könnte ein Vielfaches sein
Bei der Auskunft über den Impfstatus, den wir im Übrigen bei jedem Restaurantbesuch oder beim Haareschneiden preisgeben, wenn wir unsere Covid-19-App vorlegen oder ein aktuelles Testergebnis, wird die Privatsphäre nicht maßgeblich verletzt. Schließlich geht es nicht darum, Informationen über eventuelle psychische Probleme zu enthüllen, über Geschlechtskrankheiten, Alkohol- oder Drogenabhängigkeiten, Dinge, die man lieber für sich behalten mag und die niemanden etwas angehen, weil sie keine Gefahr bergen.
Von Verhältnismäßigkeit ist die Rede. 92.301 Todesfälle in Zusammenhang mit Covid-19 meldete das Robert-Koch-Institut am Freitagmorgen. Klar, werden jetzt viele sagen, der eine oder die andere wäre auch ohne Pandemie nicht mehr unter uns. Stimmt vermutlich, nur ist es kein schöner Tod, über viele Tage langsam zu ersticken, weit ab von allen Lieben, weil niemand ans Krankenbett darf. 92.301!
Von besserer Aufklärung ist die Rede, dabei erklären uns im Radio, in Talkshows, Zeitungen und Magazinen die ExpertInnen mantraartig viel mehr, als wir wissen müssen. Rund 200.000 Impfungen finden täglich statt. Es könnte ein Vielfaches sein. Aufklärung und Werbung haben ihr Ziel nicht erreicht. Von Impfprämien ist jetzt die Rede. Das fatale Fehlverhalten noch zu belohnen, wäre nicht zuletzt den Geimpften gegenüber ungerecht.
In den USA erhöht eine Krankenversicherung die Beiträge für Ungeimpfte, StudentInnen müssen Testgebühren selbst tragen, Krankenhäuser wollen bei Bettenknappheit zuerst geimpfte Intensivpatienten unterbringen. Wenn es mit Zuckerbrot nicht geht, muss die Peitsche ran.
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