Sahra Wagenknecht über linke Politik: „Rot-Rot-Grün ist tot“
Die Grünen sind eine bürgerliche Partei und die SPD hält an der Agenda-Politik fest, sagt die Fraktionsvorsitzende der Linken. Es brauche neue Optionen.
taz: Frau Wagenknecht, zimmert die SPD mit ihrem Ja zur Großen Koalition am eigenen Sarg?
Sahra Wagenknecht: Auf jeden Fall wird es weiter bergab gehen. Es zeugt schon von einer gravierenden Missachtung der Wähler, nach einer solchen Wahlschlappe einfach weiterzumachen, als wäre nichts passiert, und Merkel erneut ins Amt zu bringen. Von Erneuerung sollte die SPD-Führung jetzt lieber nicht mehr reden, das glaubt ihr ohnehin keiner mehr.
Die SPD tauscht die Parteispitze aus und Sie haben keine Hoffnung auf eine Erneuerung?
Diejenigen, die in den Führungsetagen der SPD von Erneuerung reden, bringen die alten Gesichter in neue Funktionen. Frau Nahles ist doch keine Erneuerung, sie war an allen falschen Weichenstellungen der letzten Jahre beteiligt.
Warum profitiert die Linke nicht stärker von der Krise der SPD?
Zum einen liegt das sicher an den internen Streitereien. Zum anderen führen unsere Positionen in bestimmten Fragen dazu, dass sich Geringverdiener und Benachteiligte von uns nicht ernst genommen fühlen.
Sie meinen die Flüchtlingspolitik der Linken.
Merkels Politik läuft darauf hinaus, dass die weniger Wohlhabenden die Hauptlast der Zuwanderung tragen. Wenn man den Betroffenen dann erzählt, es gäbe gar keine Probleme, muss man sich nicht wundern, dass sie einen nicht wählen. Klar, Konkurrenz um Niedriglohnjobs, Mangel an bezahlbarem Wohnraum und überforderte Schulen gab es schon vor Ankunft der Flüchtlinge. Aber all diese Probleme haben sich durch die Flüchtlingskrise erheblich verschärft. Und Leidtragende sind die Ärmeren. Am krassesten zeigt sich an den Tafeln.
Und die Linke ignoriert das?
Sahra Wagenknecht ist seit 2015 gemeinsam mit Dietmar Bartsch Fraktionsvorsitzende der Partei DIE LINKE im Bundestag.
Einige meinen, wer das anspricht, würde die Armen gegen die Flüchtlinge ausspielen. Aber es ist die herrschende Politik, die sie ausspielt, diese Konkurrenz ist die Realität. Wer das wegschweigt, treibt die Menschen in die Arme der AfD.
Wenn Sie der Meinung sind, dass in der Linkspartei vieles falsch läuft: Warum wollen Sie dann nicht selbst Parteivorsitzende werden?
Weil meine Aufgabe als Fraktionsvorsitzende mich ausfüllt.
Die jetzige Parteichefin Katja Kipping sprach bereits 2016 von einem gesellschaftlichen Lager der Solidarität, das sich dem Rechtsruck entgegenstellen müsse. Sie fordern eine neue linke Sammlungsbewegung. Wo ist der Unterschied?
Das müssen Sie Katja Kipping fragen. Ich möchte, dass es wieder Mehrheiten für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit gibt. Wer den Rechtsruck stoppen will, muss den Neoliberalismus ablösen. In der Bevölkerung gibt es Mehrheiten für eine Vermögensteuer, für höhere Löhne, für bessere Renten. Aber es gibt aktuell nur eine Partei, die diese Forderungen vertritt, die Linke, und die hat keine Chance, allein eine Regierung zu bilden. Lange Zeit haben wir deshalb auf Rot-Rot-Grün gesetzt. Aber diese Option ist tot. Die Grünen sind eine bürgerliche Partei geworden, die mit der Union regieren will. Und die SPD hält an der Agenda-Politik fest, während ihr die Wähler davon laufen.
Und deshalb also etwas ganz anderes, eine neue linke Sammlungsbewegung?
Ich möchte ein Angebot an all diejenigen machen, die früher mal SPD oder Grüne gewählt haben, aber der Linken bisher nicht ihre Stimme geben. Immerhin hat die SPD zwischen 1998 und 2017 10 Millionen Wähler verloren, die Linke hat aber nur 2 Millionen mehr als die damalige PDS.
Auch AfD-Wähler?
Es gibt nicht wenige, die bei der letzten Wahl nur aus Wut ihr Kreuz bei der AfD gemacht haben. Selbstverständlich möchte ich sie zurückgewinnen.
Der linke SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow gründet eine überparteiliche „Progressive soziale Plattform“. Gibt es jetzt zwei Sammlungsbewegungen – Ihre und die von Bülow?
Das zeigt doch, dass unsere Idee in der Luft liegt und hochaktuell ist. Darüber sollten die mal nachdenken, die sie in den letzten Wochen so fleißig zerredet haben. Natürlich macht es am Ende keinen Sinn, wenn jeder seine eigene Sammlungsbewegung aufmacht. Wir müssen zusammenarbeiten.
Was müssen wir uns denn unter der Sammlungsbewegung genau vorstellen? Eine neue Partei?
Zunächst einmal geht es darum, dass sich glaubwürdige Persönlichkeiten, die sich einen erneuerten starken Sozialstaat und ein Zurück zur Entspannungspolitik wünschen, zusammenfinden und ein gemeinsames Angebot machen. Es muss erst einmal etwas in Bewegung kommen, das ist das Entscheidende.
Aber wenn Sie zu Wahlen antreten wollen, müsste das ja in ein parteiförmiges Projekt münden.
Ja, nach deutschem Wahlrecht können leider nur Parteien zu Wahlen antreten. Das kann aber auch die offene Liste einer Partei sein, ähnlich wie 2005, als die PDS ihre Listen für die WASG-Mitglieder geöffnet hat.
Sie sind mit der Idee einer neuen linken Volkspartei relativ isoliert in der Linkspartei.
Die Resonanz, die ich bekomme, ist groß. Viele Leute sagen mir: Aus den und den Gründen wählen sie aktuell die Linke nicht. Aber ein solches Projekt würden sie sofort unterstützen.
Aber die Parteifunktionäre sind doch skeptisch, auch ihr Co-Fraktionschef Dietmar Bartsch.
Es gab am Anfang ein paar Missverständnisse, die sind ausgeräumt. Dietmar Bartsch sieht das gleiche Problem, das ich auch sehe: Zur Zeit gibt es nicht den Hauch einer Chance für linke Mehrheiten im Bundestag. Auch er möchte das verändern.
Parteichef Bernd Riexinger sagt, er halte von der Idee zum jetzigen Zeitpunkt nichts. Wenn ein Teil der Linkspartei Ja sagt, ein anderer Nein, läuft das doch auf eine Spaltung hinaus.
Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg. Wenn ein solches Projekt breite Resonanz bekommt, werden auch viele dafür sein, die ihm jetzt skeptisch gegenüberstehen.
Würden Sie auch eine Spaltung der Linkspartei in Kauf nehmen?
Noch mal: Es geht nicht um Spaltung. Es geht darum, dass wir uns breiter aufstellen. Sammeln ist das Gegenteil von Spalten.
Irgendwann muss das Ganze konkret werden: Wie stellen Sie sich das vor – mit einem Kongress zum Auftakt?
Es gibt Vorbilder in anderen Ländern. Als Jeremy Corbyn schon Labour-Vorsitzender war, aber die Partei am Boden lag, ist über das Internet die „Momentum“-Kampagne gestartet worden, die die Partei bei der Wahl auf 40 Prozent gebracht hat. Oder Frankreich: Vor den Präsidentschaftswahlen hat Jean Luc Mélenchon eine Bewegung, La France Insoumise (LFI), gegründet, die die dortige Linkspartei weder gespalten noch aufgelöst hat. Aber er hat auf dieser viel breiteren Plattform fast 20 Prozent bekommen.
Auch die 20 Prozent von Mélenchon sind doch keine gesellschaftliche Mehrheit.
Mit 20 Prozent würde zumindest die Opposition wieder von links dominiert und die Linke würde auch wieder die Themen setzen. Dann würde nicht mehr über Burkaverbot, sondern über sichere Jobs, gute Renten und die Rücknahme von Privatisierungen diskutiert. Das genau hat Mélenchon geschafft: Er, nicht Le Pen, ist heute das Gesicht der Opposition. In Zukunft geht dann vielleicht noch mehr.
Was wäre denn ein guter Zeitpunkt für die Gründung einer solchen Sammlungsbewegung? Würden Sie zu den Europawahlen 2019 mit einer eigenen Liste antreten?
Konkurrierende Listen sollte man vermeiden.
Eine Liste Wagenknecht zu den Europawahlen ist ausgeschlossen?
Ich war fünf Jahre im Europaparlament und habe den ausufernden Lobbyismus da erlebt. Mein Platz ist heute im Bundestag.
Und morgen?
Auch morgen und übermorgen.
Welche Inhalte sollte so eine linke Sammlungsbewegung haben: Würde sie national orientierter sein?
Der globalisierte Konzernkapitalismus ist ein neoliberales Projekt. Die alten Sozialstaaten sind innerhalb einzelner Länder erkämpft worden – globale Marktfreiheiten und transnationale Abkommen, auch die EU-Verträge, haben sie zerstört. Es geht darum, dass die einzelnen Länder die demokratische Souveränität zurückgewinnen, soziale Politik zu machen.
Würde sich die Wahlprogramm-Forderung der Linkspartei nach „offenen Grenzen für alle“ auch in der Sammlungsbewegung wiederfinden?
In der heutigen Welt kann es keine „Offenen Grenzen für alle“ geben. Voraussetzung dafür ist eine gerechte Weltwirtschaftsordnung, die zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse führt. Dafür müssen wir uns einsetzen. Eine Ausweitung der Arbeitsmigration bringt uns diesem Zustand aber nicht näher. Sie schadet den armen Ländern, weil es immer die besser ausgebildete Mittelschicht ist, die abwandert. Und sie geht zu Lasten der Ärmeren bei uns, weil sie die Konkurrenz im Niedriglohnsektor verstärkt. Der BDI trommelt für ein Einwanderungsgesetz, um die Löhne zu drücken. Das hat mit links nichts zu tun hat.
Was ist denn die Alternative zu einem Einwanderungsgesetz – alles bleibt wie es ist? Das bedeutet dann etwa für einen Studenten aus Ghana, dass er anderthalb Jahre nach dem Abschluss wieder weg muss, wenn er keinen Job findet.
Es ist sinnvoll, dass wir Menschen aus ärmeren Ländern ausbilden. Aber dafür, dass sie ihre Qualifikation zu Hause einsetzen. Das heißt aber auch: Schluss mit einer Außenwirtschaftspolitik, die die Anbieter in den Entwicklungsländern vom Markt verdrängt. Keine Abkommen mehr, die sie zwingen, ihre Zölle abzubauen und sich ungeschützt für internationales Kapital zu öffnen.
In der Linkspartei gibt es auch eine Debatte über ein Einwanderungsrecht, das nicht so sehr nach Nützlichkeit, sondern nach sozialer Verankerung entscheidet. Diesen Ansatz lehnen Sie auch ab?
Was heißt soziale Verankerung? Wer seine ganze Familie in Deutschland hat, sollte nachziehen können. Aber wenn es genügt, in ein Formular zu schreiben, dass man einen Kumpel beim FC Biringen hat – also dann kann man auch gleich sagen: Jeder, der will, kann kommen. In keiner Regierung würden diejenigen, die das jetzt mit großer moralischer Geste vertreten, so etwas durchsetzen, weil sie genau wissen, dass das nicht möglich ist.
Wie erklären Sie sich denn diese Popularität der offenen Grenzen in Teilen der Linkspartei?
Viele wollen helfen, schrecken aber davor zurück zuzugeben, dass Hilfe immer nur begrenzt sein kann.
Bei einem Teil ist die Forderung sehr populär. Resultieren die verschiedenen Haltungen, marxistisch gesprochen, aus unterschiedlichen Klassenlagen? Viele von denen, die offene Grenzen wollen, haben selbst positive Erfahrungen gemacht, etwa im Studium. Die niedrig qualifizierten sind eher skeptisch, weil sich der globale Arbeitsmarkt nicht für sie interessiert.
Ja, es hat viel mit der sozialen Stellung zu tun. Wenn die soziale Frage persönlich nicht im Mittelpunkt steht, weil man in einem wohlhabenden Elternhaus aufgewachsen ist, wenn man immer viel gereist ist und dank guter Ausbildung und Sprachkenntnissen global nach Arbeit suchen kann, dann fällt es leicht, sich auf der ganzen Welt zuhause zu fühlen. Die Oberschicht hat Wohneigentum in unterschiedlichen Ländern, ihr Nachwuchs studiert an den international besten Universitäten. Man ist nicht darauf angewiesen, dass es im Heimatland gute Schulen, gute Krankenhäuser, gute soziale Leistungen gibt. Für die weniger Wohlhabenden dagegen ist genau das elementar, denn es entscheidet über ihre Chance auf ein halbwegs gutes Leben.
Aber ist das nicht sehr schwarz-weiß gedacht, Frau Wagenknecht? Es gibt ja viele gut Ausgebildete auch hier in Deutschland, die in prekären Verhältnissen leben und arbeiten.
Ich habe von den Wohlhabenden gesprochen. Es gibt Berufe, bei denen sich die Konkurrenz durch Zuwanderer auswirkt, und andere, bei denen das nicht der Fall ist. Und es gibt Wohngebiete, in denen die Nachfrage nach Wohnraum massiv gestiegen ist. Im kernsanierten Altbau oder im grünen Einfamilienhausviertel ist davon eher weniger zu spüren.
Laut Wahlauswertung war für viele WählerInnen die Haltung der Linkspartei in der Flüchtlingspolitik wahlentscheidend.
Wo haben Sie das denn her? Laut Emnid hat die Flüchtlingsfrage ganze 4 Prozent unserer Wähler interessiert. Bei unseren Nicht-mehr-Wählern waren es allerdings über 20 Prozent.
Die Grünen legen in Umfragen gerade zu. Was machen sie besser als die Linkspartei?
Wir legen ebenfalls zu und liegen in einigen Umfragen mit den Grünen gleich auf.
Robert Habeck will das Soziale stärker wieder in den Fokus der Grünen rücken. Das könnte doch auch für die Linkspartei gefährlich werden.
Habeck regiert äußerst geräuschlos mit CDU und FDP, und bis jetzt haben sich die Grünen von der Agenda 2010 nicht verabschiedet.
Sehen Sie Potenzial für die Linke bei den Grünen?
Ja, denn die Grünen waren mal eine rebellische, systemkritische Partei mit starker pazifistischer Ausrichtung.
So wie die Linke gerne sein will…
Wir sind gegen Interventionskriege und für eine andere Wirtschaftsordnung. Gucken Sie sich doch an, was Jamaika damals verhandelt hatte, bevor Lindner es platzen ließ. Vermögenssteuer? Gleichbezahlung von Leiharbeit? Bessere Renten? Alles Fehlanzeige.
Enttäuschte Grüne sind ja auch eine Klientel, welche Katja Kipping für die Linke gewinnen will. Haben Sie und Dietmar Bartsch sich mit den Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger inzwischen zu viert getroffen und ausgesprochen?
Wir treffen uns regelmäßig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Plan für Negativ-Emissionen
CO2-Entnahme ganz bald, fest versprochen!
Human Rights Watch zum Krieg in Gaza
Die zweite Zwangsvertreibung