Militärsprecher zum Krieg in Gaza: „Diesmal zu Ende bringen“

Der Angriff am 7. Oktober war ein „Mini-Holocaust“, sagt Arye Sharuz Shalicar. Dass in Gaza jetzt so viele Menschen sterben, sei allein Schuld der Hamas.

Soldaten stehen eng umschlungen im Kreis

Israelische Soldaten kurz vor der Invasion des Gazastreifens Foto: Ronen Zvulun/reuters

taz: Herr Shalicar, wann wird der Krieg in Gaza enden?

Arye Sharuz Shalicar: Die Hamas könnte den Krieg sofort beenden, wenn sie die Waffen niederlegt und die Geiseln freilässt. Aber ich nehme an, er wird noch eine Weile dauern.

Die israelische Armee hat in Gaza in rund zehn Wochen über 19.000 Menschen getötet. Warum kostet dieser Krieg so viele Opfer?

Niemand kann diese Zahlen derzeit verifizieren. Wir haben fast einen Monat gebraucht, um zu überblicken, wie viele Menschen die Hamas bei ihrem Angriff am 7. Oktober getötet oder entführt hat. In Gaza herrscht eine ganz andere Situation, und wir haben in den letzten zweieinhalb Monaten über 7.000 Terroristen getötet.

geboren 1977 in Göttingen, ist deutsch-israelischer Politologe und Publizist. Er arbeitet für die israelische Regierung und ist seit 2009 offizieller Sprecher von Israels Verteidigungsstreitkräften (IDF).

Wenn das stimmt, wären das immer noch 12.000 tote Zivilisten. Ist das verhältnismäßig?

Jeder tote Zivilist ist einer zu viel. Schuld daran trägt aber allein die Hamas: Sie hat am 7. Oktober die Waffenruhe gebrochen. Wir haben das Recht, uns zu wehren, und laut Völkerrecht ist jeder Ort, von dem aus geschossen wird, ein legitimes Ziel. Das heißt nicht, dass wir Lust darauf haben, Unschuldige zu treffen

Das israelische +972 Magazine berichtet, dass die israelische Armee die Zahl ihrer Ziele stark ausgeweitet habe und künstliche Intelligenz einsetze, um diese auszuwählen. Stimmt das?

Wir setzen alles ein, was uns hilft, Luftschläge so präzise wie möglich durchzuführen. Wir setzen aber auch Bodentruppen ein und verlieren jeden Tag Soldaten, weil wir sie reinschicken in diese Hölle. Die Hamas ist dort im Vorteil, ihre Leute können aus jedem Fenster schießen.Wir haben es mit einem asymmetrischen Krieg zu tun. Und die Hamas hat in den vergangenen Wochen mehr als 11.000 Raketen auf Israel abgeschossen. Stellen Sie sich vor, die Taliban hätten ähnlich viele Raketen auf Deutschland abgeschossen: Würden Sie sich das gefallen lassen? Wir gehen langsam, besonnen und so präzise wie möglich vor. Aber das kostet seine Zeit – und es heißt nicht, dass sich zivile Opfer vermeiden lassen.

Die New York Times schreibt, eine so hohe Zahl an Opfern in so kurzer Zeit sei ziemlich einmalig. Was sagen Sie dazu?

Wollen Sie sagen, die Armee des jüdischen Staats sei schlimmer als die aller anderen Staaten dieser Welt?

Muss man jede Kritik mit diesem Vorwurf abwehren? Netanjahu hat jüngst Ermittlungen gegen Israel wegen möglicher Kriegsverbrechen als „reinen Antisemitismus“ bezeichnet.

Kein anderes Land wurde in den letzten Jahren mit so vielen Raketen beschossen wie Israel, kein anderes Land hat so einen 7. Oktober erlebt. Wir kämpfen nicht am Hindukusch, wir kämpfen vor unserer Haustür. Das bekommt einfach nicht genug Aufmerksamkeit, und das ist traurig.

In der UN-Vollversammlung haben jüngst 150 Staaten für einen sofortigen Waffenstillstand gestimmt. Die USA drängen Israel, den Krieg schnell zu beenden, um weitere zivile Opfer zu vermeiden, und Joe Biden warnt, Israel könne sich sonst international isolieren. Sehen Sie diese Gefahr?

Das eine ist, was man sagt. Das andere ist, was man tut – und das, was wir tun, wird von sehr vielen unterstützt. Sie können es bloß nicht immer offen sagen. Die Amerikaner haben volles Verständnis für unsere Situation und stimmen sich eng mit uns ab, auch ein großer Teil der arabischen Welt führt hinter verschlossenen Türen gute Gespräche mit uns. Sie alle sehen die Hamas und ihre Hintermänner als Bedrohung an, genau wie wir.

Sie nehmen die Abstimmung in der UN-Generalversammlung nicht ernst?

Die Menschen wollen ihre Ruhe. Ich kann das verstehen. Aber zuerst will ich meine Familie zurückhaben. Da ist es mir egal, was andere Leute sagen. Diese falsche Ruhe hatten wir bis zum 7. Oktober – dann haben wir gesehen, was passiert ist.

Die Hamas hat Israel mit ihrem Angriff überrascht. Wie konnte das passieren?

Wir haben den Feind unterschätzt. Diese Menschen haben sich monatelang vorbereitet und wussten genau, wohin sie gehen und was sie tun wollen. Und wir haben die Brutalität unterschätzt, mit der sie nach Israel eingedrungen sind und dort friedliche Menschen abgeschlachtet haben.

Warum haben die Geheimdienste so versagt?

Das wird nach dem Krieg untersucht werden. Aber am Ende sind das auch nur Menschen und keine Roboter. Es war menschliches Versagen, das wird sicher Konsequenzen haben. Wir müssen uns aber auch fragen, wo das Geld für diesen Angriff herkam.

Was vermuten Sie?

Deutschland ist der zweitgrößte Geldgeber der Palästinenser. Wenn Deutschland sie mit Geld unterstützt, muss es sicherstellen, dass das Geld nicht über Umwege bei der Hamas landet.

Die Bundesregierung hat ihre Hilfszahlungen überprüft. Mit dem Geld werden Schulen und Krankenhäuser finanziert. Glaubten Sie das nicht?

Unter fast jedem Krankenhauskomplex und Schulgelände, das wir bis jetzt betreten haben, befinden sich Terrortunnel und andere Terrorinfrastrukturen. Dazu habe ich Fragen.

Die Hamas wird aus Katar finanziert. Die New York Times berichtet, dass Israels Premier Benjamin Netanjahu diese Geldflüsse unterstützt hat, weil er einen palästinensischen Staat verhindern wollte. Ist das nicht Teil des Problems?

Ich bin Militärsprecher, kein Politiker. Aber wir haben in den letzten Jahrzehnten alles dafür getan, um einen Konflikt zu vermeiden. Diese Ruhe wurde durch die Hamas gebrochen, auch, weil die Hintermänner im Iran das so wollten. Das hat mit Israels Annäherung an Saudi-Arabien zu tun, aber auch mit Antisemitismus und Judenhass.

Ruhe herrschte schon vorher nicht. Aber Israels Regierung hat die Raketen aus dem Gazastreifen in Kauf genommen und regelmäßig „das Gras gemäht“, wie es hieß. Hat man geglaubt, dass man die Situation im Griff hat?

Das war eine Illusion. Wir haben vor diesem Krieg nur halbe Sachen gemacht. Aber der 7. Oktober hat alles verändert. Dieser Mini-Holocaust ist mit nichts zu vergleichen. Deswegen müssen wir es diesmal zu Ende bringen und die Infrastruktur der Hamas komplett zerstören: ihre Raketenabschussrampen, ihre Terror-Tunnel, ihre Waffenlager. Wenn nicht, kommt der nächste 7. Oktober, und dann könnte meine Tochter unter den Opfern sein. Das will ich nicht.

Wären Verhandlungen nicht der bessere Weg? Dadurch hat die Hamas einige Geiseln freigelassen.

Militärischer Druck hat dazu geführt, dass sie Geiseln freigelassen hat. Aber die Hamas hat die siebentägige Feuerpause auch genutzt, um sich zu reorganisieren, die Geiseln innerhalb Gaza zu verschleppen und wieder auf uns zu schießen. Sie hat die Feuerpause gebrochen. Und ohne militärischen Druck wird die Hamas keine weiteren Zugeständnisse machen.

Bei den Kämpfen sind auch Geiseln gestorben. Angehörige fürchten, dass jeder weitere Kriegstag das Leben weiterer Geiseln gefährdet.

Zu Recht! Wir wollen weder Geiseln noch unschuldige Palästinenser treffen. Aber Krieg ist Krieg, und dieser Krieg wurde uns aufgezwungen.

Im Norden Gazas soll jedes dritte Haus zerstört sein, und die israelische Armee hat auch leere Gebäude in die Luft gesprengt – die Universität und das Parlament zum Beispiel. Welchen strategischen Nutzen hat das?

Wenn jedes zweite Gebäude zur Infrastruktur der Hamas gehört und wir nur jedes dritte zerstört haben, dann waren wir schlecht. Ein Krieg kann niemals ganz sauber und präzise sein – schon gar nicht in einem dicht besiedelten Ort wie Gaza, wo die Terroristen die Infrastrukturen infiltriert haben und sich in Krankenhäusern, Schulen und Moscheen verschanzen.

Über 60 Journalisten sind in den vergangenen Wochen durch israelische Luftschläge getötet worden. Wie erklären Sie sich diese hohe Zahl?

Sind unter diesen „Journalisten“ auch Leute, die während des Massakers am 7. Oktober die Morde und Entführungen live aufgenommen haben?

Nein, wir beziehen uns auf eine Zählung des Committee to Protect Journalists in New York.

Es versteht sich von selbst, dass Journalisten und andere Zivilisten nicht unser Ziel sind, sondern ausschließlich die Terroristen der Hamas und des Islamischen Dschihad. Aber wenn sich Journalisten in unmittelbarer Nähe von Terroristen aufhalten, dann ist das ein Problem. Denn wenn man auf uns schießt, dann reagieren wir darauf.

Seit dem Krieg in Gaza hat sich auch im Westjordanland die Lage verschärft: Dort wurden in diesem Jahr fast 500 Palästinenser getötet, viele schon vor dem 7. Oktober. Warum?

Weil Hamas und Islamischer Dschihad dort in den letzten Monaten ihren Terror intensiviert haben, weil sie die Macht auch dort an sich reißen wollen.

Die Gewalt geht auch von Siedlern und der israelischen Armee aus. Können Sie nicht für Sicherheit und Ordnung sorgen?

Die IDF ist laut den Friedensverträgen von Oslo in den B- und C-Gebieten von Judäa und Samaria beauftragt, als rechtmäßige Sicherheitskraft für Ordnung und Sicherheit zu sorgen. Wenn sich die israelische Armee von nur einen Zentimeter zurückziehen würde, dann würde die Hamas auch dort die Macht übernehmen. Mahmud Abbas hat großes Glück, dass unsere Armee dort mit seinen Sicherheitsbehörden zusammenarbeitet – sonst wäre er der Nächste, der aus dem elften Stock fliegen würde – so wie seine PLO-Freunde in Gaza im Jahr 2006, als die Hamas dort die Macht ergriff. Die israelische Armee ist seine Lebensversicherung.

Die USA wollen, dass der Palästinenserpräsident nach dem Krieg wieder die Kontrolle im Gazastreifen übernimmt. Ist das eine gute Idee?

Theoretisch ja, praktisch nein. Abbas besitzt unter seinen eigenen Leuten keinerlei Legitimität. Was soll es bringen, wenn man im Gazastreifen so eine „Puppe“ aufstellt?

Hat die Zweistaatenlösung nach dem Krieg eine Chance?

Wir wollen keine Besatzung. Aber erst einmal müssen wir die Hamas schlagen. Und dann sprechen wir mit allen, die ein Interesse daran haben, dass es den Palästinensern besser geht. Das ist nicht allein eine israelische Angelegenheit. Wir werden uns mit Ägypten und den USA abstimmen, dass es nach diesem Krieg im Gazastreifen wieder ein normales Leben ohne Terrororganisation an der Macht geben wird. Das muss das Ziel sein. Das ist Aufgabe des Staates und nicht des Militärs.

Was gibt Ihnen die Hoffnung, dass der Hass auf palästinensischer Seite angesichts so vieler getöteter Zivilisten abnehmen wird?

Als die Alliierten die Nazis besiegt haben, wer hat da die toten Zivilisten gezählt? Wer hat die zivilen Opfer in Rakka oder Mossul gezählt, als der Islamische Staat besiegt wurde? Das passiert nur, wenn die Juden sich wehren. Und solange die Geiseln festgehalten werden und die Hamas sich nicht ergibt, geht jedes zivile Opfer auf ihr Konto. Was sollen wir tun? Mit Streicheleinheiten zwingt man eine Terrororganisation nicht in die Knie. Menschen leiden – aber nicht, weil Israel das will.

Hilft es gegen den Hass, wenn in Gaza riesige Menora-Leuchter aufgestellt werden oder wenn in Dschenin in einer Moschee ein jüdisches Gebet abgehalten wird?

Sicher gibt es den einen oder anderen Soldaten, der Mist baut. Soldaten sind auch nur Menschen. Da muss es Gespräche geben, damit so etwas nicht noch einmal passiert.

Hilfsorganisationen klagen, dass nicht genug Hilfe in den Gazastreifen gelangt. Warum lockert Israel die Blockade nicht?

Das Problem ist, dass die Hamas Treibstoff und Strom für sich abzweigt. Du gibst doch dem, der dich ermorden will, nicht auch noch das Messer in die Hand. Wir lassen in Absprache mit Ägypten aber kontrolliert Lastwagen in humanitäre Zonen hinein, und das funktioniert. Es ist nicht genug, aber noch einmal: Das Massaker der Hamas am 7. Oktober ist die Ursache dafür.

Manche fürchten, Israel wolle die Menschen aus Gaza in den Sinai vertreiben. Sind diese Ängste unbegründet?

Ägypten ist einer unserer engsten Verbündeten, wir haben seit 1979 Frieden. Stellen wir uns vor, zwei Millionen Menschen aus Gaza, von denen nicht wenige der Hamas oder dem Islamischen Dschihad angehören, würden sich auf dem Sinai ansiedeln – wo wären wir dann in einer Generation? Dann würden sie uns aus Ägypten beschießen, und das wollen wir nicht.

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