Palästinensischer Botschafter zu Gaza: „Die Welt schaut zu“

Der palästinensische Botschafter in Berlin, Laith Arafeh, wirft Israel in Gaza einen Genozid vor. Einer Verurteilung des Hamas-Terrors weicht er aus.

Botschafter Laith Arafeh

„Viele fühlen sich ausgegrenzt“, sagt der palästinensische Botschafter in Deutschland, Laith Arafeh Foto: Wolfgang Borrs

taz: Herr Arafeh, der israelische Botschafter war in den letzten Wochen im Bundestag und auf vielen Bühnen zu Gast. Sie stehen viel weniger in der Öffentlichkeit. Warum?

Laith Arafeh: Ich spreche mit Entscheidungsträgern auf allen Ebenen und mit fast allen relevanten Politikern verschiedener Parteien. Wichtig ist der Inhalt dieser Gespräche – nicht die Frage, ob sie in der Öffentlichkeit geführt werden.

Michael Roth, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, war kürzlich in Israel, aber nicht im Westjordanland. Was denken Sie darüber?

Ich kommentiere die Handlungen einzelner Politiker aus Prinzip nicht. Aber das Verhalten mancher deutscher Politiker kann nur so verstanden werden, dass sie die anhaltende, völkerrechtswidrige Besetzung der palästinensischen Gebiete und aktuell das massenhafte Abschlachten von Menschen in Gaza unterstützen und befürworten. Sie tun das auf Kosten unschuldiger Menschen sowie der Werte und des Ansehens Deutschlands in der Welt. Denn die Welt schaut zu, wie Deutschland sich in diesem Konflikt verhält, und sie wird das nicht vergessen.

Der Bundespräsident hat einige Deutsche palästinensischer Herkunft, die es aus Gaza heraus geschafft haben, kürzlich in Schloss Bellevue zum Empfang eingeladen.

Das ist eine Geste, die wir zu schätzen wissen.

Mangelt es ihnen an solchen Gesten?

Schauen Sie: Eine ganze deutsche Familie palästinensischer Herkunft wurde kürzlich bei einem israelischen Luftangriff getötet: ein Arzt, seine Frau und ihre vier Kinder. Niemand hat ein Wort darüber verloren, weder die deutsche Regierung noch die meisten Medien. Wie kann das sein? Sind Deutsche nicht gleich?

Sie sprechen viel mit palästinensischstämmigen Menschen in Deutschland. Was sagen die Ihnen?

Viele fühlen sich ausgegrenzt, verunglimpft und geächtet. Einige haben viele Familienmitglieder verloren. Menschen, die hier geboren sind und stolze deutsche Staatsbürger sind, sagen mir, dass sie das erste Mal in ihrem Leben das Gefühl haben, in diesem Land nicht mehr willkommen zu sein. Andere, die Angehörige verloren haben, sagen, sie hätten das Gefühl, dass ihnen nicht einmal das Recht zu trauern zugestanden wird.

Was sagen Sie ihnen?

Nichts kann Menschen, die Angehörige verloren haben, über ihren Verlust hinwegtrösten. Aber vielleicht können sie Trost finden in der Gewissheit, dass wir, die Palästinenser, eines Tages unsere legitimen Rechte, Freiheit, Staatlichkeit, Frieden und Sicherheit erlangen werden, egal, wie weit entfernt uns das heute erscheinen mag und wie trostlos und düster der Moment ist.

Im Moment wirkt das weiter entfernt denn je.

Wir erleben in Gaza einen Genozid und in Ost-Jerusalem und in der Westbank ethnische Säuberungen. Es ist der Welt über Jahrzehnte nicht gelungen, Israel dazu zu bringen, seine Besatzung zu beenden und dem palästinensischen Volk sein Recht auf Selbstbestimmung und einen eigenen Staat zu ermöglichen. Sie verrät damit ihren eigenen Anspruch an Menschenrechte und internationales Recht.

Warum sprechen Sie von einem Genozid?

Der frühere Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, und viele andere Experten, darunter 19 Experten der UN, haben das schon getan. Die israelische Armee hat seit dem 7. Oktober über 17.000 Menschen getötet, darunter über 6.000 Kinder und über 3.000 Frauen. Und haben Sie gehört, dass ein israelischer Minister gefordert hat, eine Atombombe auf den Gazastreifen zu werfen? Ich glaube nicht, dass das notwendig ist, denn die Zerstörung dort ist schon jetzt um ein Vielfaches höher, als eine Atombombe anrichten könnte. Der Gazastreifen wurde bereits nuklear vernichtet.

Hat Israel kein Recht, sich selbst zu verteidigen?

Wenn das Verbrechen, das Israel begeht, Selbstverteidigung ist, dann ist dieses Wort für immer verbrannt. Dieses Argument trägt nur dazu bei, internationales Recht zu diskreditieren, das nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert wurde, um genau solche Verbrechen zu verhindern.

Würden Sie den Angriff der Hamas vom 7. Oktober auch als Völkermord bezeichnen?

Das Einzige, was ich jetzt sehe, ist der Massenmord an meinem Volk und die Besatzung, die seit Jahrzehnten andauert. Hätte die Welt auf unsere Appelle gehört und internationales Recht durchgesetzt, dann wären wir heute woanders. Aber leider hat sie das nicht getan. Und jetzt lässt sie zu, dass weitere Gräueltaten an meinem Volk begangen werden, indem sie sich weigert, auf einen dauerhaften Waffenstillstand zu drängen, und die israelischen Gräueltaten als Selbstverteidigung bezeichnet.

Verurteilen Sie das Hamas-Massaker in Israel?

Unsere Position dazu haben wir mehrfach klar und deutlich ausgedrückt: Wir weisen alle Versuche zurück, die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht zu verletzen – unabhängig von der Nationalität oder der Herkunft des Opfers oder des Täters. Wir betrachten jedes menschliche Leben als gleichwertig. Das ist etwas, was meinem Volk gegenüber nicht erwidert worden ist.

Laith Arafeh, Jahgang 1979, ist seit Februar 2022 Palästinensischer Botschafter in Deutschland.

Verurteilen Sie den Terror der Hamas nun, ja oder nein?

Die roboterhafte Wiederholung dieser Frage ist nicht nur absurd, sondern hat auch rassistische Untertöne, wenn sie fast jedem Palästinenser, Araber und Muslim gestellt wird. Sie wird so zu einer inhaltsleeren Floskel – vor allem dann, wenn deutsche oder israelische Politiker nie gefragt werden, ob sie den seit über 70 Jahren anhaltenden Mord an den Palästinensern verurteilen. Den Versuch, das derzeit in Gaza geschehende Massaker so zu rechtfertigen, weise ich zurück.

Die Palästinensische Autonomiebehörde hat sich schon vor fünf Jahren erstmals an den Internationalen Strafgerichtshof gewandt. Sollte Chefankläger Karim Khan jetzt ermitteln?

Natürlich sollte er das tun. Deutschland und andere Länder, die sich normalerweise für die Einhaltung des Völkerrechts einsetzen, sollten das unterstützen. Der damalige Außenminister Heiko Maas hat damals leider die Ermittlungen hintertrieben – wie immer, wenn das Opfer Palästinenser und der Täter Israeli ist. Jetzt müssen wir mir den Folgen dieses eklatanten Versagens leben.

Deutschland schweigt leider auch, wenn der Täter ein Türke und das Opfer ein Kurde ist, oder wenn der Täter ein Aserbaidschaner und das Opfer ein Armenier ist …

Ich bin nicht in der Position, die deutsche Haltung gegenüber anderen Teilen der Welt zu beurteilen. Aber wenn es um Palästina geht, dann sprechen wir nicht nur von Schweigen, sondern von aktiver Unterstützung. Wie hätte Israel seine gewaltsame Besatzung so lange aufrechterhalten können ohne die Unterstützung anderer Länder, auch Deutschlands? Und mitten in dem Blutbad, das Israel in Gaza anrichtet, hat die Bundesregierung beschlossen, ihre Militärexporte dorthin um das Zehnfache zu erhöhen. Wie kann das sein, ohne dass es einen Aufschrei gibt?

Die USA wollen, dass die Palästinensische Autonomiebehörde nach dem Krieg wieder die Kontrolle in Gaza übernimmt. Was sagen Sie dazu?

Wir haben unsere Ver­ant­wor­tung gegenüber dem Gaza­strei­fen nie aufgegeben. Die Hamas hat die Herrschaft im Jahr 2007 gewaltsam an sich gerissen, das ist bekannt. Aber das ändert nichts daran, dass Präsident Abbas nach wie vor die oberste und legitime Autorität ist.

Heißt das, die Fatah könnte nach dem Krieg wieder die Macht in Gaza übernehmen?

Wir haben zwei Prioritäten: Erstens, die israelische Besatzung zu beenden. Zweitens, das palästinensische Volk in die Lage zu versetzen, sein Recht auf Selbstbestimmung in einem eigenen, freien und unabhängigen Land auszuüben.

Würde das bedeuten, Wahlen abzuhalten und Milizen wie die Hamas zu entwaffnen?

Erst einmal müssen diejenigen entwaffnet werden, die in Gaza und im Westjordanland unser Volk töten, indem die Besatzung beendet wird. Und dann sollte es in allen palästinensischen Gebieten nur eine Autorität geben und nur ein Gesetz gelten – und zwar palästinensisches Recht, sicherlich nicht israelisches Militärrecht.

Israel wird sich nicht zurückziehen, solange die Hamas nicht entwaffnet ist.

Sie wissen, dass die Siedler in den besetzten palästinensischen Gebieten zu den am stärksten bewaffneten Bevölkerungsgruppen der Welt gehören? Sie wissen, dass Israels sogenannter Sicherheitsminister, ein verurteilter Terrorist, kostenlos zusätzliche Waffen an Siedler verteilt hat? Allein in diesem Monat wurden im Westjordanland bereits über 250 Palästinenser getötet. Wir müssen die Siedler entwaffnen.

Premier Netanjahu hat gerade wieder erklärt, er sei der Einzige, der einen palästinensischen Staat verhindern könne. Kann es mit ihm einen Frieden geben?

Das offizielle Programm dieser Regierung besagt, dass das Land vom Fluss bis zum Meer ausschließlich jüdisch sein soll. Aber keine is­raelische Regierung der ver­gange­nen 14 Jahre hat einen palästi­nensischen Staat akzeptiert, und während wir hier sprechen, werden Menschen aus Teilen des Gazastreifens vertrieben. Nichtsdestotrotz werden wir nicht ruhen, bis wir nicht die Frei­heit in einem unabhängigen Staat Palästina im Rahmen der Zweistaa­ten­lösung erreicht haben.

Kann die Weltgemeinschaft Israel zu einer Zweistaatenlösung zwingen?

Sie kann das. Aber wird sie es tun? Das ist die Frage.

Anmerkung: In der Originalversion fehlte eine Rückfrage zwischen zwei Antworten. Wir haben das korrigiert.

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