Neues Buch von Sahra Wagenknecht: Früher war alles besser
In „Die Selbstgerechten“ malt Sahra Wagenknecht die 70er-Jahre als Heimstatt des Gemeinsinns. Und jagt die linksliberalen Gespenster von heute.
Die US-Theoretikerin Nancy Fraser hat in dem Bündnis von Neoliberalismus und Linksliberalen eine Voraussetzung für den Aufstieg des Rechtspopulismus identifiziert. Ein „dröhnender Dauerdiskurs über Vielfalt“, so Fraser, habe die Forderungen nach sozialer Gleichheit verdrängt. Die Linke müsse sich wieder sozialer Gerechtigkeit zuwenden, aber ohne Minderheitenrechte zu vergessen.
Auch Sahra Wagenknecht treibt die Frage um, warum die gesellschaftliche Linke partout nicht mehrheitsfähig wird. Sie knüpft in ihrer Streitschrift „Die Selbstgerechten“ an Frasers Kritik an und radikalisiert sie bis zur Unkenntlichkeit. Denn bei ihr sind der giftige Neoliberalismus und der nur scheinbar menschenfreundliche Linksliberalismus fast das Gleiche.
„Die linksliberale Erzählung ist nichts als eine aufgehübschte Neuverpackung der Botschaften des Neoliberalismus. So wurde aus Egoismus Selbstverwirklichung, aus Flexibilisierung Chancenvielfalt, aus Verantwortungslosigkeit gegenüber den Menschen im eigenen Land Weltbürgertum.“ Wagenknecht will soziale Gerechtigkeit und Minderheitenrechte nicht verbinden. Minderheitenrechte erscheinen hier als linksliberale Marotte, die auf dem Weg zum Ziel stören. Das ist eine sozial und ethnisch homogene Gesellschaft mit viel Gemeinsinn.
Der Linksliberalismus, dessen toxische Wirkungen hier mannigfach besungen werden, bleibt dabei eine vage Erscheinung. Mal wird er mit radikaler Identitätspolitik gleichgesetzt, mal mit urbanen Milieus, mal mit allen Mitte-links-Parteien. So werden alle Katzen grau. Sogar Gerhard Schröder taucht mal als Stammvater der Lifestyle-Linken auf, die „hypersensible Rücksichtnahme in Sprachfragen“ mit der „Entfesslung von Renditemacherei“ verbanden.
Die EU als unbrauchbare Agentur des Neoliberalismus
Da wird dem Ex-Kanzler, der Frauenpolitik für Gedöns hielt, zumindest zur Hälfe Unrecht getan. Wagenknecht wirft einen Panoramablick auf Staat, Demokratie und Wirtschaft und fragt, wie aus übler Gegenwart lichte Zukunft werden kann.
Die EU erscheint als unbrauchbare Agentur des Neoliberalismus und soll zu einer „Konföderation souveräner Demokratien“ zurückgebaut werden. Diese Wortwahl erinnert an rechtskonservative EU-Skeptiker. Auch das Loblied auf den Nationalstaat als einziges Gefäß, in dem Gemeinsinn gedeihen kann, hat Schnittmengen mit konservativen Ideen. Das Gleiche gilt für die Ablehnung von Migration, die, so die These, sowohl in armen als auch in reichen Ländern Schaden anrichten würde.
Sahra Wagenknecht: „Die Selbstgerechten: Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt“. Campus, Frankfurt a. M. 2021, 345 Seiten, 24,95 Euro
In der Welt, die uns hier als bessere empfohlen wird, haben Nationalstaaten das Sagen, die Ökonomie funktioniert eher national denn global. Und Migration gibt es kaum. Wagenknechts Arkadien ist eine Republik ohne Moscheen, Genderpolitik und Quoten und ähnelt stark der Bundesrepublik vor 50 Jahren. Daran ändert auch die pflichtschuldige Anmerkung nichts, dass die Losung „Zurück in die Siebziger“ als „Zukunftsentwurf“ nicht so recht tauge.
Wie sehr es die Autorin in die Vergangenheit zieht, zeigt ihr Bild des Wandels von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. In den goldenen Zeiten des Industriekapitalismus wurden noch sinnvolle Produkte hergestellt und es regierten Tugenden wie „Arbeitsethos, Gründlichkeit, Zurückhaltung und Disziplin“. Die creative economy hingegen sei „nutzlos und vielfach schädlich“ und produziere bloß Marketing und Überwachungstechnologien.
Konservative Verfallserzählung und Ungleichheitskritik
Verfall also überall. In den ordentlichen 60er und 70er Jahren regierten noch echte Volksparteien, und „Maß und Mitte“ galt noch etwas. Alles perdu. In dieser Deformationserzählung kommen auch die 68er nicht gut weg. Die seien „wohlhabende Bürgerkinder“ gewesen, die „den Leistungsgedanken verächtlich“ machten. Das wiederholt rechtskonservative Kritik der Studentenbewegung. So fließen konservative Verfallserzählung und Ungleichheitskritik zu einer Retro-Vision kommunitaristischer Gemeinschaftlichkeit zusammen.
Recht paradox mutet dabei an, dass der Gemeinsinn, der hier als Heilmittel gegen Spaltungen beschworen wird, mit einer ätzenden, ja spalterischen Kulturkampf-Rhetorik gegen Linksliberalismus bewaffnet wird. Völlig aus dem Blick gerät, dass die Aushandlungsprozesse in einer individualisierten Gesellschaft, in der ein Viertel der Bevölkerung Migrationshintergrund hat, komplexer sein müssen als in der BRD 1970.
Wagenknecht ist eine eloquente Autorin. Doch auch das Nachdenkenswerte, wie die Skizze einer Marktwirtschaft mit strikt regulierten Eigentumsrechten, wird von einem sirrenden Pfeifton der Rechthaberei übertönt. Folgen wir der Ex-Chefin der Linksfraktion, dann blockieren Minderheitenpolitik und eine Horde Moralapostel, die die Grünen, die SPD und seit ihrem Rückzug auch die Linkspartei gekapert haben, eine erfolgreiche gesellschaftliche Linke.
„Fridays for Future“ und „unteilbar“ werden im Vorbeigehen als lächerliche Wohlfühlbewegungen von Bürgerkindern verhöhnt, Coronaproteste hingegen mit freundlichen Worten bedacht. Diese Sympathieverteilung ist für eine Spitzenpolitikerin der Linkspartei erstaunlich. Eine Bewegung fehlt dabei übrigens – „Aufstehen“. Diese von Wagenknecht mit initiierte Bewegung kam ihrem sozialkommunitaristischem Programm nahe und scheiterte kläglich. Warum? Dazu findet sich auf 345 Seiten kein Wort.
Das Buch heißt „Die Selbstgerechten“. Wenn man den Plural streicht, ist dies ein zutreffender Titel.
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