Klimaschutz-Aktivistin eingeschüchtert: Nackt bis auf die Mund-Nasen-Maske
Eine Klimaschutz-Aktivistin besetzt eine Straße in Osnabrück. In der Polizeidirektion muss sie sich zur Identitätsfeststellung ausziehen.
Lynn sitzt auf der rechten Fahrspur, und während Busse auf die Gegenfahrbahn ausweichen, holt sie einen Brief hervor, in dem Dinge stehen wie: „Ich bin dankbar für alles Schöne, was dieser Planet bereit hält und ich erleben darf. Aber was soll ich als Teil der Klimabewegung noch machen? Wir haben diskutiert, demonstriert, uns nicht entmutigen lassen. Ich bin verzweifelt. Ich habe Angst.“
Lynn sitzt unbewegt. Passanten bleiben stehen, zeigen Sympathie, diskutieren. Autos tasten sich vorsichtig voran. Der Standort ist keine richtige Verkehrsblockade, aber durch sein hohes Passantenaufkommen ein Ort größtmöglicher Öffentlichkeit.
Ein paar Gehminuten entfernt sitzt zeitgleich ein zweiter Rebellion-of-One-Aktivist auf der Straße, der sich „Emil“ nennt. Auch um ihn manövrieren Autos herum. Auch „Emil“ sitzt ernst, unbewegt. Auch hier ist alles friedlich. Wie Lynn hat er sich vorher in Deeskalation schulen lassen, hat ein Backup-Team, das eingreifen kann, falls es zu Konflikten kommt. Es kommt zu keinen.
Lynn wird festgenommen
Zu Emil kommt keine Polizei. Zu Lynn schon. Zwei Beamte in Zivil fordern sie auf, sich von der Straße zu entfernen. Tue sie es nicht selbst, werde man sie „wegschleifen“, erinnert sich Lynn. Lynn willigt sofort ein, steht widerstandslos auf. Beide Beamten greifen dennoch zu, heben sie hoch. Auf dem Bürgersteig fragen sie nach Lynns Personalien. Sie weigert sich, ihre Identität preiszugeben. Lynn wird festgenommen, muss mit auf die Wache.
Anderthalb Stunden ist Lynn in der Hand der Polizei. Was dort passiert, ist für sie ein Schock. „Ich wurde aufgefordert, mich auszuziehen, komplett“, erzählt sie der taz. „Ich konnte das erst nicht glauben, habe ein bisschen gezögert. Da hieß es dann, ziemlich barsch: Das sei kein Scherz, ich solle das jetzt einfach tun!“ Lynn zieht sich aus. „Ich habe das als sehr grenzüberschreitend empfunden“, sagt sie. „Zeitweilig stand ich da völlig nackt; das Einzige, was mir blieb, war meine Mund-Nasen-Maske.“
Warum das geschah? „Ich kann es mir nur so erklären, dass sie nach auffälligen Tattoos gesucht haben, Narben oder Muttermalen“, sagt Lynn. „Ich hatte den Eindruck, dass sie mich einschüchtern wollten, Macht demonstrieren. In dieser Situation bist du völlig ausgeliefert.“
Fingerabdrücke werden ihr abgenommen. Der Tatvorwurf wird ihr eröffnet: Nötigung im Straßenverkehr; eine Straftat. Der Kern aber ist die Identitätsfeststellung. „Man hat mir 24 Stunden Haft angedroht, in einer Zelle in Hannover“, sagt Lynn. Sie ist geschockt, fassungslos, verwirrt. „Generell war der Druck sehr hoch, der Ton wurde schnell scharf.“
„Unverhältnismäßige Mittel“
Lynn kann einen Telefonanruf machen. Sie ruft die Rote Hilfe an. Die Polizisten stehen direkt daneben, hören alles mit. „Und dann sagten sie, das nächste Mal solle ich besser einen richtigen Anwalt anrufen. Ich fand das frech. Es ist doch meine Entscheidung, wen ich zu Rate ziehe!“ Am Ende sei eine Kriminalbeamtin gekommen, fast triumphierend: Man wisse jetzt, wer sie sei. „Sie halten mich offenbar für eine Sarah“, sagt Lynn. „Danach konnte ich gehen.“
Marvin Wilke hat die Sitz-Aktion koordiniert
Besonders schlimm für die Aktivistin: „Da demonstrierst du für das, was uns zusteht und in der Verfassung festgehalten ist, dass der Staat Umwelt und Lebensgrundlage des Menschen zu schützen hat. Und du wirst wie eine Kriminelle behandelt.“ Das sei „unlogisch, fehlerhaft und Ausdruck davon, dass der Staat sich mit komplett unverhältnismäßigen Mitteln weigert, aktiven und ehrlichen Klimaschutz zu machen“.
„Das Verhalten der Polizei gegen die Klimagerechtigkeitsbewegung in Osnabrück halten wir für besorgniserregend“, sagt Marvin Wilke, der die Sitz-Aktion koordiniert hat, der taz. „Es werden Aktivist:innen aktiv eingeschüchtert, und es wird versucht, mit Repressionen der Klimabewegung zu schaden.“ Am Sonnabend sei die Polizei „in einer gewaltfreien Aktion mit unverhältnismäßigen Mitteln gegen eine Aktivistin vorgegangen“.
„Derzeit dauern die Ermittlungen an“, sagt Polizeikommissar Jannis Gervelmeyer, Sprecher der Polizeiinspektion Osnabrück, der taz. Danach werde das Verfahren der Staatsanwaltschaft übergeben. Das Hochheben von der Fahrbahn wertet er als „zuvorkommende Geste“: „Schließlich streckte die Frau den Beamten ihre Hände aus, und diese halfen der Aktivistin selbstverständlich auf die Beine.“ Lynn dazu: „Das ist gelogen!“
Parlamentarische Anfrage der Grünen
Die Entkleidung erklärt Gervelmeyer als Maßnahme zur Identitätsfeststellung. Die „Durchsuchung der Person des Verdächtigen und der von ihm mitgeführten Sachen“ seien zulässig, auch erkennungsdienstliche Maßnahmen.
„Offensichtlich wird der Umgang der Polizei mit den Klimaprotesten schärfer“, sagt Volker Bajus. Er ist Landtagsabgeordneter und Fraktionsvorsitzender der Grünen im Osnabrücker Stadtrat. „Das kann ich nur schwer nachvollziehen. In Osnabrück waren Klima-Aktionen bislang friedlich. Die Aktiven sind hier gut organisiert, diszipliniert und im Dialog mit der örtlichen Politik. Was soll das also?“
Die Polizei müsse sich fragen lassen, ob ihre Maßnahmen angemessen seien. „Warum muss sich eine junge Frau zur Identitätsfeststellung auf dem Revier nackt ausziehen? Den Vorwurf, hier werde gezielt eingeschüchtert, kann man von daher nachvollziehen. Ob die Maßnahme verhältnismäßig ist, werde ich in einer parlamentarischen Anfrage an die Landesregierung aufgreifen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“