Hass auf die Grünen in Ostdeutschland: Im Osten nichts Grünes?
Nirgendwo sind die Grünen so unbeliebt wie in Ostdeutschland. Mangelnde Bürgernähe, Realitätsferne und Wessitum. Woher kommt das?
E s ist eine Auflistung puren Hasses. Einmal, so berichtet Monique Hänel, kam ein Mann ins Büro und rief: „Ich wollte nur sagen, dass ihr scheiße seid!“ Ein anderer kündigte am Telefon an: „Ich komme ins Büro und hole mir mein Geld!“ – „Welches?“ fragte Hänel. „Das, was mir fehlt wegen euch Grünen!“ Ein anderes Mal kam ein Mann in die Geschäftsstelle gestürmt und bedrohte eine Mitarbeiterin mit einem Fahrradschloss. „Den haben wir angezeigt.“ Ein Anrufer brüllte: „Ihr elenden grünen Drecksäcke. Ich hasse euch. Am besten komm ich ins Büro und schlag euch tot!“ Hänel informierte die Kripo.
Empfohlener externer Inhalt
Dazu kommen die unzähligen Angriffe gegen das Büro selbst, die Farbattacken, die verkleisterten Türschlösser und die bespuckten Fensterscheiben. Monique Hänel leitet das Regionalbüro der Grünen in Görlitz, tief im Osten Sachsens an der Grenze zu Polen. Belastend seien die Attacken, sagt sie. Das alles nimmt man schließlich am Abend mit nach Hause. „Ich wollte schon Bäume umarmen.“
Die Anrufe kommen aus dem Landkreis, und die Eindringlinge sind Männer der Generation 50 plus. Themenhopping betreiben sie – Ukraine, Energiepreise, Flüchtlinge, Klima. Sie brandmarken alles Grüne, lassen Dampf ab, kippen ihren Unrat aus. Der letzte Winter war besonders heftig, im Frühjahr hat sich die Lage dann beruhigt. Die Frühlingssonne, vermutet Monique Hänel, habe manch aufgewühlte Seele entspannt.
Beruhigend, einerseits. Andererseits kann es bald wieder losgehen. Die Temperaturen fallen. Inzwischen gibt es Vorkehrungen. Die Eingangstür ist verschlossen. Erst nach Sichtkontrolle schließt Monique Hänel auf und bald werde der Außenbereich „kameratechnisch abgedeckt“, eine Empfehlung des sächsischen Landeskriminalamts.
Schubert ist eigentlich keine polarisierende Grüne
„Dass ich das mal erlebe, dass sich das Landeskriminalamt um Vorfälle kümmert, finde ich krass“, sagt Franziska Schubert. Alles Gift, was für das Görlitzer Büro bestimmt ist, soll auch sie treffen. Es ist ihr Abgeordnetenbüro in der Heimat. Jetzt sitzt sie in einem kahlen Besprechungsraum, irgendwo im Landtag in Dresden. „Es ist eine Enthemmung im Gange, die finde ich besorgniserregend.“ Es klingt nicht ängstlich, wie sie es sagt, doch nachdenklich.
Die 41 Jahre alte Grünen-Politikerin war bisher keine, die sich persönlich Sorgen machen musste. Schubert polarisiert nicht, sie führt zusammen. Den Grünen hat sie in Görlitz schon zum Höhenflug verholfen.
In der 56.000-Einwohner-Stadt, in der seit Jahren regelmäßig ein Drittel für die AfD stimmt, ist ihr 2019 ein Triumph gelungen. Bei der Oberbürgermeisterwahl hatten im ersten Wahlgang 28 Prozent für Schubert votiert, Platz drei, knapp hinter dem CDU-Mann. Der AfD-Anwärter allerdings hatte beide überflügelt. Erstmals in Deutschland hätte ein AfDler Oberbürgermeister einer Stadt werden können. Es kam anders. Schubert verzichtete, warb im zweiten Wahlgang für eine „offene Europastadt“ und unterstützte so den CDU-Kandidaten. Mit 55 Prozent zog der ins Rathaus ein.
Am Alltag der Menschen vorbei
Das verleitete Annegret Kramp-Karrenbauer, damals die CDU-Vorsitzende, den eher wackeligen Sieg ganz für ihre Partei zu reklamieren. „So far away from here“ sei die Parteispitze der CDU, so weit, weit weg von den tatsächlichen Verhältnissen, schimpfte Schubert über dieses Fehlurteil. „Das ist genau der Stil, der die Menschen wütend macht“, sagte sie damals der taz.
Möglicherweise kommen die Fehleinschätzungen inzwischen von den Grünen. Franziska Schubert, offener, freundlicher Blick, macht nicht den Eindruck, dass sie dieser Gedanke empört. Schuberts Eltern betreiben in dritter Generation eine Fleischerei in einem Dorf dreißig Kilometer südwestlich von Görlitz.
Was das Handwerk von Robert Habecks über Monate favorisierten Idee vom Industriestrompreis hält, dürfte ihr der Vater bereits erzählt haben. Nicht nur die Aluminiumindustrie braucht Energie, auch das Schlachthaus, das Kühlhaus und der Backofen.
Die Wirtschafts- und Sozialgeografin Schubert kam nach Abschlüssen in Osnabrück und Budapest nach Ostsachsen zurück. Sie, die überzeugte Katholikin, bezeichnet sich als Lokalpatriotin.
„Es gibt so ein paar Annahmen, vielleicht auch innerhalb der Bündnisgrünen, die nicht zum Alltag der Menschen passen“, überlegt sie. „Wir sind als Bündnisgrüne beispielsweise manchmal recht unfreundlich gegen Wohneigentümer.“ Hausbesitz werde schnell mit Reichtum gleichgesetzt. Dabei sind Wohnhäuser im ländlichen Raum Ostdeutschlands Lebensgrundlage und Altersvorsorge in einem, Kredite vor der Rente oft nicht abbezahlt.
Vorangehen, vorangehen
Fragen der energetischen Sanierung könnten da eben nicht nur technisch abgehandelt werden. Es gehe da schnell um Investitionen im sechsstelligen Bereich. Leute mit einem Einkommen, „die das so ohne weiteres stemmen können, die sehe ich im Osten nicht an jeder zweiten Hausecke“. Schubert hat das neunzig Jahre alte Haus ihrer Großeltern übernommen. Wenn Hausbesitzer zu ihr kommen, ahnt sie, was falsch läuft. „Gerade die Älteren haben eine Heidenangst, dass es kalt wird.“ Wer in so einem Moment über Wärmepumpen doziert, mag technisch auf der Höhe sein, sozial eher nicht.
Lösungen zaubert man nicht aus dem Hut. Das ist die Realität, und die Vorreiterrolle, die die Grünen beanspruchen, hat auch noch ihre Tücken. „Manchmal ist es bei uns Bündnisgrünen so, dass wir vorangehen, vorangehen, vorangehen und dabei vergessen, uns umzudrehen und zu schauen, ob die Leute mitkommen.“
Eigentlich wollte Franziska Schubert das Gespräch in ihrem Görlitzer Büro führen, dort, wo schon die Eingangstür von der Mühsal grüner Politik erzählt. Ihr Kalender, voll mit Terminen, hat das verhindert. Schubert blickt aus dem Fenster. An dem Parlamentsgebäude fließt die Elbe vorbei. Im Sommer sieht man in dem Fluss, einst nicht viel mehr als eine Kloake, immer wieder Menschen baden. Nicht nur für Grüne ein Lichtblick im tiefsten Osten.
Dabei sind in allen ostdeutschen Ländern die Bündnisgrünen seit Jahren im Parlament vertreten, in drei Landesregierungen stellen sie Minister und Staatssekretäre. Schlecht ist diese Bilanz nicht. Vor zwanzig Jahren war sie desaströs. Die Grünen waren damals aus den Parlamenten aller ostdeutschen Flächenländer geflogen, die ökologischen Erneuerer gescheitert.
Grüne haben es schwer, mit ihren Ideen durchzudringen
Paul Dörfler kennt diese Enttäuschung – und hat sie hinter sich gelassen. Dörfler führt durch den Garten hinter seinem Häuschen im Dörfchen Steckby an der Elbe. Der Garten ist ein Mix aus Streuobstwiese und Urwald, mittendrin Tisch und Bank.
„Schau mal da, Bienenfresser!“ ruft er. „Die fangen sich jetzt die Insekten, die aufsteigen, und fressen sich voll für ihre Reise in den Süden.“ Er deutet auf die farbenprächtigen Vögel, die direkt über seinen Kopf jagen. Eigentlich liegt ihre Heimat weiter im Süden. Doch seitdem es nördlich der Alpen stetig wärmer wird, fühlen sie sich auch hier wohl, besonders in Braunkohleregionen. Sachsen-Anhalt ist einer ihrer Favoriten. Die Bruchkanten für ihre Nistkolonien finden sie in Tagebauen.
Dörfler hat ein ganzes Buch, „Nestwärme“, über Vögel geschrieben, über ihr Verhalten, ihre Lebensweise, es stand lange auf Bestsellerlisten. Gerühmt wird Dörflers Beobachtungsgabe, und das betrifft nicht nur die Vogelwelt.
Dörfler kennt auch die Grünen in allen Ausprägungen – die vielen, die den kräftigen Westzweig bilden, die eigensinnigen Bürgerrechtler vom Schlage einer Vera Lengsfeld oder eines Werner Schulz, und die eher wenigen Grünen, die aus der DDR kommen, kennt Dörfler natürlich auch. Und er kennt auch den Menschenschlag, der es der Öko-Partei so schwer macht, mit ihren Ideen durchzudringen. Dörfler versucht das selbst seit vierzig Jahren.
Ein Buch gegen die Umweltpolitik der DDR
1986 hat Dörfler zusammen mit seiner Frau Marianne in der DDR das Buch „Zurück zur Natur?“ veröffentlicht – eine Sensation, da es erstmals die gewaltigen ökologischen Probleme des Arbeiter- und Bauernstaates thematisierte und sich heute noch liest wie ein Leitfaden für den ökologischen Umbau. Erstaunlicherweise im staatlichen Urania-Verlag erschienen, waren die 15.000 Exemplare binnen dreier Tage verkauft. Populär war die Einsicht, dass es für das menschliche Handeln planetare Grenzen gibt, dennoch nicht.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Paul Dörfler hat 1989 die Grüne Partei in der DDR mitgegründet, er war in der letzten Volkskammer Vorsitzender des Ausschusses für Umwelt, Energie und Reaktorsicherheit und war nach dem 3. Oktober 1990 Abgeordneter der Grünen in Bonner Bundestag.
Dörfler, ein promovierter Chemiker, war einer der profiliertesten Umweltexperten, als die SED angesichts der ökologischen Katastrophe, in die die DDR schlitterte, Umweltdaten noch als Staatsgeheimnis betrachtet hat. Umweltschützer galten schnell als Staatsfeinde, weil sie die Fortschrittsgeschichte des Sozialismus in Frage stellten, der Gesellschaftsordnung, die angetreten war, die gesamte Menschheit zu beglücken.
Damit war es 1990 vorbei, mit Umweltthemen allerdings auch. Mit dem „Aufschwung Ost“, dem milliardenschweren Konjunkturhammer der Kohl-Regierung, waren ökologische Fragen schnell wieder vom Tisch. Was zählte, waren Autobahnen, Wasserstraßen, Gewerbegebiete – kurzum: Fortschritt, diesmal im Gewand der Marktwirtschaft.
„Wir haben als Grüne gefragt, hat das Sinn? Ist das nachhaltig?“ erinnert sich Dörfler. So sollte die weitgehend naturbelassene Elbe als Trasse für Schubverbände vertieft werden, obwohl sie schon damals nicht mehr genügend Wasser führte.
Die Sündenböcke der 90er
Dazu kamen Reizworte von den Grünen wie: Weniger Auto, mehr Bahn! „Wir waren Staatsfeinde, und wir wurden Wirtschaftsfeinde“, fasst Dörfler zusammen. „Und als sich die ‚blühenden Landschaften‘ nicht einstellen wollten, waren wir die Sündenböcke.“ Das wirkt nach. Mit so einer Fama im Rücken ist Robert Habeck als Wirtschaftsminister ein passendes Feindbild, besonders bei der Generation 50 plus im Osten.
Vorsichtig nennt Dörfler diese Gruppe „die Sesshaften“. Das Gegenstück sind die Mobilen, die nach 1990 den Osten verließen und im Westen ihre Chance suchten. Menschen, die sich wahrscheinlich eher für grüne Themen interessieren, vermutet Dörfler. Wenn sie Grün wählen, dann heute in Baden-Württemberg oder Bayern.
Überhaupt könne man in dünn besiedelten Regionen auch ganz gut ohne grüne Vorstellungen leben. Verkehrslärm? Abgase? Feinstaub? Wenn man nicht gerade eine Schweinemastanlage vor der Nase hat, könne man Umweltprobleme einfach ignorieren.
Dabei profitiert auch das Dörfchen Steckby von urgrünen Konzepten wie nachhaltigem Tourismus. Der Elbe-Radweg, ein 1.280 Kilometer langes Band entlang der Elbe von ihrer Quelle im Riesengebirge bis nach Cuxhaven, führt direkt an Dörflers Haus vorbei. St. Nikolai mitten im Ort wurde zur Radfahrerkirche erhoben und Pensionen werben mit der naturbelassenen Flusslandschaft, mit Fischadlern, Störchen und Bibern.
Eine Mehrheit, die den Klimawandel komplett ignoriert
Dörfler, der Umweltpionier, hielt es nicht lange im Bundestag aus. Er trat zur Wahl im Dezember 1990 nicht wieder an. Dörfler hat gelitten, er zählt auf: die endlosen Sitzungen, die klimatisierten Räume, das künstliche Licht, falsche Ernährung und kein Draht mehr zur Natur. „Irgendwann nimmt dein Körper die Form eines Stuhls an.“
Allerdings war Dörfler auch politisch ernüchtert. Er packt einen Tausend-Seiten-Wälzer auf den Tisch, ein geradezu historisches Konvolut vom Oktober 1990 zum Thema „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“, verfasst von der gleichnamigen Enquete-Kommission des Bundestages, sein Appell: Sofort den Klimawandel bekämpfen, den CO2-Ausstoß verringern und die Energiewende anpacken! „Die Mehrheit hat das komplett ignoriert.“
Dörfler ist Autor geworden. Mit seiner jüngsten Veröffentlichung „Aufs Land“ schließt sich der Kreis, der 1986 in der DDR mit „Zurück zur Natur?“ begann. Es ist ein Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben auf dem Land, für ein Ende von Konsumzwang und Fremdbestimmung. Vor allem aber wirbt es für eine Versöhnung zwischen den urbanen Zentren und der Peripherie – vielleicht ist auch das ein versteckter Wink an die Grünen.
Dörfler ist 73 Jahre alt. Er wirkt wie ein weißhaariger Naturbursche. Zum Abschied zückt er ein Taschenmesser und schneidet eine Zucchini ab. Der Abstand zum politischen Geschäft hat ihm sichtlich gutgetan.
Die Ur-Grünen in Ostdeutschland
Das kann man von Lukas Beckmann auch sagen. Beckmann, ebenfalls 73, hat sich für die Grünen zuvor jahrzehntelang krumm gemacht. Er hat die Partei mitgegründet und -aufgebaut. Er war Bundesgeschäftsführer, Vorstandssprecher und Fraktionsgeschäftsführer, um nur einige Ämter zu nennen, jetzt schließt er das Herrenhaus von Zernikow in Brandenburg auf. 2017 hat sich Lukas Beckmann mit seiner Frau hier niedergelassen. Er und Ingrid Hüchtker gehören damit zu den Ost-Grünen, zwei von etwa 10.000 Mitgliedern, die die Partei in den ostdeutschen Flächenländern hat.
Neben Beckmann und seiner Frau, die sich in der hiesigen Gemeindevertretung engagiert, haben sich zwei Kommunalpolitiker eingefunden, Uwe Mietrasch und Reiner Merker, beide Endvierziger, die sich hier in Brandenburg wacker für grüne Ideen schlagen. Beckmanns Ankunft hat den Grünen zwischen Oranienburg und Rheinsberg einen Neuanfang beschert.
Reiner Merker, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Kreistag von Oberhavel
Lukas Beckmann inspiriert und motiviert wie vor Jahrzehnten. Und kaum einer überblickt die Geschichte der Grünen so wie der Bauernsohn aus der Grafschaft Bentheim ganz im Westen. 1979 – Habeck war ein Kind, Baerbock noch gar nicht geboren – da hat Beckmann mit Petra Kelly, Joseph Beuys und Rudi Dutschke Europa-Wahlkampf betrieben.
Nach 1990 hat er die Vereinigung der Grünen mit Bündnis 90 vorangetrieben. Er kannte DDR-Bürgerrechtler und Oppositionelle der Charta 77 aus der CSSR, Paul Dörfler hat bei ihm in Bonn übernachtet. Kurzum – Beckmann hat alles getan, damit die Bündnisgrünen zu einer länderübergreifenden, europäischen Kraft werden.
Gendern im Osten
Und jetzt sagt Reiner Merker, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Kreistag von Oberhavel: „Es gibt keine Partei im Parteienspektrum, die so sehr Westpartei ist wie die Grünen.“
Merker führt das gleich aus. Es seien nicht nur ganz oft die Zugezogenen, die sich politisch engagieren, sie kommen eben oft auch aus dem Westen. Merker selbst stammt aus Thüringen und sein Nachbar Uwe Mietrasch wuchs in Schwedt an der Oder auf. Aber sonst? Seine Fraktion hat sieben Mitglieder, sagt Merker, nur zwei davon sind aus Ostdeutschland, einer von ihnen ist nach 1990 geboren.
Merker, Landwirt und Obstbaumspezialist, ist der einzige hier, der die Sprache mit ihren versteckten Anspielungen, die die DDR geprägt hat, versteht. Die Sprache grüner Programmatik hingegen ist westdeutsch-akademisch. „Nehmen wir das Gendern“, sagt Merker. Es stamme aus dem feministischen Diskurs und sei ein folgerichtiger Schritt, die Gesellschaft zu sensibilisieren – für Westdeutschland.
In Ostdeutschland mit der Erinnerung von der Gleichberechtigung der Frau, ob propagiert oder tatsächlich gelebt, halten viele eine geschlechtergerechte Sprache für gegenstandslos. Ihr Argument: Wir hatten das doch schon. „Dann ist es nicht verständlich, wenn da die Grünen sich für dieses Thema stark machen.“ Natürlich wird in Merkers Fraktion trotzdem bei Vorlagen und Reden gegendert – als einzige Fraktion im Kreistag.
Für Ingrid Hüchtker, die 2002 nach einer fulminanten Rede des früheren Bürgerrechtlers Werner Schulz bei den Grünen eintrat, ein gutes Beispiel, „wie sehr sich der westdeutsche Feminismus und der ostdeutsche missverstehen“. Überhaupt, sagt Hüchtker, seien die Grünen in der Lokalpolitik, aber auch in Verwaltung und Wirtschaft schlecht verankert. „Die meisten Menschen haben gar keinen Kontakt zu Grünen. Deswegen kann man das so füllen mit irgendwas.“ Im Zweifelsfall auch mit Hass. Hüchtker, die in Berlin als Lehrerin arbeitet und neben dem Engagement in der Gemeindevertretung auch Sprecherin des Ortsverbandes Gransee ist, stammt aus Münster.
Die Grünen, eine geschichtslose Partei
Reiner Merker erinnert daran, dass es schon einmal die Grünen in der Region gab, stark geprägt von Leuten von Bündnis 90. „Die sind aber alle ausgetreten.“ – „Was war der Grund?“, fragt Beckmann. „Die ‚Kriegstreiberei‘ der Grünen“, sagt Uwe Mietrasch, „der Jugoslawienkrieg“. Und später auch Hartz IV. Der Ingenieur war Geschäftsführer von Stadtwerken in der Region. Jetzt ist Mietrasch selbstständig, hat Zeit für Familie, Haus und Hof – und für Politik. Er ist für die Grünen in der Stadtverordnetenversammlung Gransee, Parteimitglied ist er allerdings nicht.
Lukas Beckmann überlegt. Er sieht vor allem kulturelle Entfremdungen durch Sprache zwischen Stadt und Land. Es gehe um mehr als Gendern. „Eine Partei, die immer jugendlicher daherkommt, hat es schwer, Menschen zu überzeugen, die schon große Transformationen durchlebt haben.“
Ost und West hätten sich zwar vermischt, eines aber sei geblieben. „Die Grünen sind im öffentlichen Bewusstsein in Ostdeutschland im Kern immer noch die Westgrünen“, präzisiert er. „Viele Ostdeutsche verzeihen uns Geschichtslosigkeit nicht. Wir haben zwar für Europa geworben, bis 1989 endete es aber für viele im Westen an der Elbe. Alles, was östlich war, hat leider zu wenige interessiert.“
Für Beckmann sind Parteien ein zentrales Mittel, Demokratie zu leben und Freiheit zu ermöglichen. Bei den Grünen aber kommt eine Besonderheit hinzu. „Du kannst mitfahren, aber die Grünen wissen genau, wo es lang geht“, sagt er. „Und das ist einfach nicht sehr einladend. Wir isolieren uns dadurch selbst und ziehen kulturelle Grenzen ein.“
Anruf in Görlitz. „Alles ruhig“, sagt Monique Hänel entspannt, zur Zeit keine Beschimpfungen, keine Angriffe. Eine gute Nachricht, nicht nur für die Grünen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Der alte neue Präsident der USA
Trump, der Drachentöter
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens