Bundestagswahl: Sollten wir strategisch wählen?
Die Linke ist im Aufwind. Dennoch erwägen manche, eine Partei mit höheren Erfolgsaussichten zu wählen. Woher das kommt und wohin es führt.
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Z wischen Rauchschwaden und Resignation zirkulieren durch linke Kneipen zurzeit zwei Ideen: Angesichts der düsteren Aussichten setzen manche schon aufs Preppen. Gemeint ist damit nicht, Konserven und Waffen für einen Tag X zu horten, wie es Neonazis tun, sondern sich selbst zu organisieren: Wie schützen wir uns vor Hochwasser, wenn der Staat es nicht tut, wie führen wir Schwangerschaftsabbrüche durch, wenn der Staat diese verbietet, und so weiter. Dem Ansatz lässt sich durchaus etwas abgewinnen. Auf das Schlimmste vorbereitet zu sein, kann nicht schaden. Es schließt keineswegs aus, im Hier und Jetzt noch etwas zu versuchen.
Die zweite Frage, die derzeit viele beschäftigt, lautet: Sollte man bei der Bundestagswahl am 23. Februar „strategisch wählen“? Diese schräge Idee geistert durch Köpfe von globalisierungskritischen Rentner:innen genauso wie von israelsolidarischen Gewerkschafter:innen. Leute, die seit Jahren gute Gründe nennen, warum sie Die Linke wählen: weil es die einzige Partei sei, die sich für echte Umverteilung einsetze, die den Klimawandel sozialverträglich abschwächen wolle, die niemanden im Mittelmeer ersaufen ließe. Und so weiter.
Diese Linken verachten das bürgerliche Bündnis 90/Die Grünen, das Dörfer wie Lützerath für den Kohleabbau zerstört, mit autoritären Machthabern wie in Katar verhandelt und das mit seiner Zustimmung zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) auch den letzten Rest Menschlichkeit zugunsten des Machterhalts geopfert hat.
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Sie schimpfen über das von der SPD durchgedrückte Sondervermögen fürs Militär – 100 Milliarden Euro –, die in ihren Augen besser für Soziales, Frauen, Bildung, Klima oder Kultur ausgegeben worden wären. Sie sind sauer, dass die Ampel weder eine ordentliche Kindergrundsicherung hinbekommen noch Paragraf 218 abgeschafft hat. Die Liste ließe sich fortsetzen. Und ausgerechnet von diesen Leuten erwägen nun manche, die Grünen oder die SPD, also ebenjene an der katastrophalen Ampelregierung beteiligten Parteien, zu wählen.
Politisch ist das schwer nachzuvollziehen. Psychologisch könnte man von kognitiver Dissonanz sprechen. Erklären ließe sich der Widerspruch vielleicht mit der Sehnsucht dieses gebildeten Milieus, auf keinen Fall naiv, sondern pragmatisch zu wirken. Eine andere Motivation könnte der Glaube sein, eine Niederlage besser zu verkraften, je früher man beginnt, sie zu akzeptieren.
SPD und Grüne sind zu einer Koalition unter Merz bereit
Fragt man die Leute selbst, begründen sie ihre fixe Idee oft damit, etwas gegen den „Rechtsruck“ tun zu wollen. Sie meinen, um ein Gegengewicht zu CDU und AfD bilden zu können, müssten SPD und Grüne möglichst viele Sitze bekommen. Dabei sind diese beiden Parteien doch zu einer Koalition unter Merz bereit! Ob der Juniorpartner ein paar Sitze mehr oder weniger hat, wird da keinen großen Unterschied machen. Zudem haben Grüne und SPD in der Ampel nicht einmal gegenüber der kleineren FDP mit Durchsetzungsfähigkeit geglänzt.
Wirksamer gegen rechte Politik wäre eine linke Kraft, die SPD und Grüne an die guten Punkte aus ihren Wahlprogrammen erinnert – etwa den Mindestlohn von 15 Euro, Pflegegeld und Steuererleichterungen für Alleinerziehende. Damit solche Forderungen umgesetzt werden, braucht es Druck von links. Grüne und SPD müssen davon abgehalten werden, sich weiter rechten Diskursen zu unterwerfen, so wie der Kanzlerkandidat der Grünen Robert Habeck es tut, wenn er vorschlägt, Syrer auszuweisen.
Ganz unabhängig von Inhalten: „Strategisch“ zu wählen ist auch deshalb unklug, weil der Bundestag den tatsächlichen Willen der Wählenden widerspiegeln sollte. Sonst ist bald gar niemand mehr zufrieden und die Demokratie wird immer unbeliebter. Gerade in Zeiten einer erstarkenden extremen Rechten braucht ein Parlament eine demokratische Opposition.
Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass es bei der Linkspartei Probleme gibt. Während sie im Wahlkampf geschlossen auftritt und Soziales in den Mittelpunkt stellt, täuscht das nicht über die vielen ungelösten Konflikte hinweg. Zu lange duldete die Partei in ihren Reihen Anti-Israel-Aktivisten wie Ramsis Kilani, der das Massaker vom 7. Oktober verteidigte.
Politischer Richtungsstreit ist auch nach dem Weggang von Sahra Wagenknecht mitnichten verschwunden. Die Linke, die besonders häufig wegen ihrer Haltung in der Außenpolitik abgelehnt wird, hat keine Lösung für die Kriege in dieser Welt. Aber die hat auch keine der anderen Parteien! Einige Linkseingstellte wählen die Partei nicht (mehr), weil sie Waffenlieferungen, auch an die Ukraine, kritisch sieht. Dabei gilt zu bedenken: Das von Putin überfallene Land würde keine Patrone weniger kriegen, wenn Die Linke weiterhin im Bundestag säße.
Sehr wohl aber würde die Welt weiterhin erfahren, wie viele Patronen und Waffen deutsche Neonazis horten. Denn diese Art von Kleinen Anfragen stellt die Linkspartei. Je stärker die extreme Rechte wird, desto wichtiger wird dieses Wissen. Antifaschist:innen schätzen, unabhängig von der eigenen Parteipräferenz, die Arbeit von linken Abgeordneten wie Martina Renner oder Clara Bünger.
Wie wichtig eine linke Opposition ist, zeigen auch Beispiele aus anderen Politikfeldern: Es war der Linkenchef Jan van Aken, der im Interesse der gesamten Öffentlichkeit die Geheim-Dokumente zum Transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP geleaked hat. Und nicht zuletzt ist es die Rosa-Luxemburg-Stiftung der Linkspartei, die politische Bildung fördert, von der das gesamte progressive Lager profitiert.
Sorge, dass die Stimme verloren ist
Trotzdem ist in der aktuellen Debatte zur Bundestagswahl die Sorge zu hören, Stimmen an die Linke könnten verschenkt sein, da diese vielleicht gar nicht in den Bundestag komme. Was auf Anhieb logisch klingt, ergibt näher betrachtet keinen Sinn: Wenn die Leute deshalb eine andere Partei wählen, hat diese nur eine Stimme mehr. Wenn Die Linke aber wegen dieser einen fehlenden Stimme nicht einzieht, gehen Millionen Stimmen verloren.
Ja, es wird knapp, aber es gibt eine echte Chance, dass Die Linke es schafft. Entweder, weil sie genug Zweitstimmen erhält, wonach es in Umfragen teils aussieht, oder durch Direktmandate. Gute Chancen hierauf haben nicht alle alten Herren der Mission Silberlocke, sondern am ehesten Gregor Gysi in Berlin und Bodo Ramelow in Erfurt und Weimar sowie darüber hinaus Sören Pellmann in Leipzig.
Die Linke ist im Aufwind, seit Mittwoch treten täglich 1000 neue Mitglieder ein. Auch der Bundesparteitag hat Zuversicht ausgestrahlt. Und nach der kämpferischen Rede der Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek im Bundestag erwägen nun sogar einige Anhänger:innen von Grünen und SPD, ihr Kreuz bei der Linken zu setzen. Die Partei könnte den Einzug in den Bundestag also schaffen. Vor allem, wenn ihre Anhänger:innen sie auch wählen.
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