Putins irrationales Auftreten: Strategisch irre

Ist Putin verrückt geworden? Viel spricht dafür, dass er es nicht ist – und sich einer Strategie bedient, die schon Nixon und Trump genutzt haben.

Wladimir Putin schaut ernst zur Seite

Kalkuliert bei aller Irrationalität kühl: Wladimir Putin Foto: Mikhail Klimentyev/Sputnik/dpa

Wütend, paranoid, völlig geisteskrank oder doch kalt und berechnend: Über die Frage nach Putins Motiven für seinen Angriffskrieg wird heftig spekuliert. Doch wie es im Kopf des Kreml-Chefs aussieht, lässt sich nicht sagen. Mit Therapiesitzungen aus der Ferne, noch dazu von Laien, können keine seriösen klinischen Diagnosen erstellt werden. Die American Psychiatric Association etwa hat sich deshalb selbst die sogenannte „Goldwater Rule“ auferlegt, die Ferndiagnosen bei Politikern und Regierungschefs als unverantwortlich und unwissenschaftlich missbilligt. Keiner, der Putin nicht selbst auf die Couch gelegt und behandelt hätte, könnte Auskunft geben.

Objektive Anhaltspunkte für eine Persönlichkeitsstörung gibt es auch dem Bundesnachrichtendienst zufolge nicht. Wie aber dann sind Putins Eskalation, seine wirren Reden über den angeblich drogenabhängigen „Nazijuden“ Selenski und die überdrehten Drohungen bis zum Atomkrieg zu erklären? So unterschiedliche Leute wie der französische Staatschef Macron, der auch jetzt noch auf den Russen einredet und die ehemalige amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice, die mit ihm seit gut zwei Jahrzehnten regelmäßig verhandelt hat, sprechen übereinstimmend von seltsamen Veränderungen.

Möglicherweise sind Putins schrille Töne jedoch strategisch kalkuliert. Dies deutete beispielsweise der finnische Präsident Sauli Niinistö nach einem Telefonat mit Putin an. „Das könnte auch Absicht sein – nämlich um Verwirrung zu stiften“, sagte er gegenüber CNN. Putin wäre nicht der erste Politiker in der Geschichte, der nur verrückt spielt, um seine Gegner einzuschüchtern.

Ursprünglich stammt die Theorie des verrückten Mannes („Madman-Theorie“) von Henry Kissinger, dem Strategen hinter Nixons Außenpolitik. Bei der Taktik soll dem Gegner vorgespielt werden, dass man ungeachtet der Opfer zu allem fähig ist. Nixon und Kissinger wendeten die Taktik erstmals im Vietnamkrieg 1969 an. Mit einem rücksichtslosen Flächenbombardement und der Ankündigung, nötigenfalls Atombomben einzusetzen, sollten die Nordvietnamesen verunsichert und so zu Verhandlungen bewegt werden.

Putin lässt keine Verhandlungsoptionen

Trump, der übrigens persönlich mit Nixon befreundet war, ging mit Nordkorea rein verbal ähnlich um: Erst drohte er mit Atombomben, dann verhandelte er. Und auch gegenüber dem Iran passt Trumps Vorgehen zur Theorie. Unmittelbar nach der gezielten Tötung des iranischen Generals Soleimani 2020 kündigte er an, dass „keine Option vom Tisch ist“, er für Gespräche offen sei und „einen besseren Deal für alle“ wolle, der auch den „Iran wieder großartig machen kann“, wie Trump damals sagte.

Im Unterschied zu Nixon und Trump lässt Putin seinem Gegenüber offenbar keine Verhandlungsoption. Sollte er den verrückten Mann spielen, dann, um die USA und die Nato mit Maximal-Drohungen von weitreichenderer Unterstützung der Ukraine abzuhalten. Teilweise scheint er damit Erfolg zu haben. Das Angebot von Polen, Kampfjets an die Ukraine zu liefern, ist Washington zu riskant. Putin will, wie 2008 in Georgien, die politische Selbstbestimmung der Ukraine verhindern und ist dafür offenbar bereit, das Land in die Steinzeit zurückzubomben. Um seine Ziele zu erreichen, muss er nicht verhandeln. Er kann das Land so weit destabilisieren, dass politische Eigenständigkeit, geschweige denn ein Beitritt zur EU und Nato, faktisch unmöglich werden.

Putin als Verursacher von Krieg und Verbrechen für verrückt zu erklären, ist emotional nachvollziehbar, greift aber zu kurz. Putin kalkuliert bei aller Irrationalität kühl – davon sollte sich niemand verwirren lassen. Die geostrategischen Interessen der russischen Regierung sind eindeutig: Die Annäherung der Ukraine an den Westen soll verhindert werden. Mit „berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands“, wie manche behaupten, hat das nichts zu tun. Eher mit „großrussischem Chauvinismus“ wie Lenin sagen würde – den Putin zum historischen Hauptfeind erklärt hat, weil dieser für die Rechte der vom Zarenreich unterdrückten Völker eintrat und die erste staatliche Eigenständigkeit der Ukraine ermöglichte.

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