Sarah Wagenknecht sprichtvor einer Menschenmenge

Foto: Jean MW/imago

Neue Partei:Wer würde sie wählen?

Sahra Wagenknecht findet Zustimmung auch unter Menschen, die bisher Linke, SPD oder Grüne gewählt haben. Was sind die Gründe dafür, was bewegt sie?

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24.9.2023, 18:58  Uhr

Auf dem Parkplatz vor dem Werktor merkt Frank Loock, dass er nicht mehr richtig dazugehört. Loock arbeitet als Führungskraft bei einem Automobilkonzern in Niedersachsen, seit über 30 Jahren ist er in der Firma. Sonst konnte Loock morgens wie alle anderen durch das stählerne Werktor auf das Gelände fahren. Jetzt aber darf er das nicht mehr. Frank Loock muss den Wagen vor dem Werk parken, sich in eine Schlange stellen und warten.

Es ist November 2021, die Delta-Variante geht gerade um. Alle Ungeimpften müssen beim Wachdienst einen Coronatest vorweisen. Das Werktor hat ein Dach, aber das reicht nicht bis hinaus auf den Parkplatz. Da stehen sie, jeden Morgen, auch bei Regen, mal 40, mal 80 Leute, während die Kol­le­g*in­nen an ihnen vorbeifahren.

Als Führungskraft kennt man ihn, so viele gibt es am Standort nicht. Alle, die vorbeikommen, wissen nun: Der Loock hat sich nicht impfen lassen. Frank Loock, promovierter Chemiker, drahtig und nicht besonders groß, stellt sich in diesen Momenten extra gerade hin. Sollen sie ihn doch sehen.

So erzählt er es knapp zwei Jahre später. An einem Dienstag im August hat Frank Loock wieder vor dem stählernen Tor geparkt, jetzt am Abend ist es geschlossen. Längst gelten keine Coronaauflagen mehr. Doch die Situation geht ihm immer noch nach. „Ich habe das als eine Entwürdigung meiner Person empfunden“, sagt er. Seiner Firma gibt er nicht die Schuld, sie habe nur Vorgaben umgesetzt, sie sei ein „Spiegel der Politik“ gewesen.

Frank Loock, 58, stammt aus einer Arbeiterfamilie, die SPD war wichtig, Willy Brandt, Helmut Schmidt. Nun sagt er: „Die SPD mit Scholz an der Spitze ist für mich unwählbar geworden.“

Er ist sich noch nicht sicher. Aber sollte Sahra Wagenknecht tatsächlich eine neue Partei gründen, könnte es schon sein, dass Frank Loock, der lange durch und durch Sozialdemokrat war, für sie stimmt. Und das hätte dann ein wenig auch mit der Situation vor dem Werktor zu tun.

Seit Monaten wird über die Gründung einer Wagenknecht-Partei spekuliert, wie sie die Parteienlandschaft in Deutschland verändern könnte. Offiziell sagt Sahra Wagenknecht, sie wolle sich bis zum Jahresende entscheiden, die Pläne klingen aber längst konkret. Naheliegend wäre, dass sie bei der Europawahl im Juni 2024 das erste Mal mit eigener Partei antritt.

Wie viele Menschen Wagenknecht wirklich wählen würden, ist schwer abzuschätzen. In einer Mitte August veröffentlichten Forsa-Umfrage sagten 3 Prozent der Befragten, sie würden eine Wagenknecht-Partei „auf jeden Fall“ wählen, 18 Prozent gaben an, die Wahl in Erwägung zu ziehen. Rund ein Fünftel der Befragten zeigte sich also – wie in anderen Umfragen zuvor – mehr oder weniger offen für eine solche Partei.

Sahra Wagenknecht kommt vor allem bei Wäh­le­r*in­nen der Linkspartei und der AfD gut an. Glaubt man den Umfragen, könnten aber auch alle anderen Parteien Stimmen an sie verlieren. Demnach zieht je­de*r siebte SPD- und Grünen-Wähler*in zumindest in Erwägung, das Kreuz bei Wagenknecht zu machen. Wer mit dem Gedanken spielt, eine neue Partei zu wählen, tut das am Ende nicht unbedingt. Aber schon das Gedankenspiel drückt etwas aus: Offenbar findet Wagenknecht nicht nur unter Wäh­le­r*in­nen der Ränder Anklang, sondern bis in die Mitte der Gesellschaft. Und bis in Milieus, die auch der taz nahestehen.

Wer sind die Menschen, die bislang Linke, SPD oder Grüne gewählt haben und die jetzt überlegen, für eine Wagenknecht-Partei zu stimmen? Was bewegt sie, warum wenden sie sich von den etablierten Parteien ab?

Um das herauszufinden, haben wir im Juni eine Mail über den Genossenschaftsverteiler der taz verschickt, also an etwa 18.000 Adressen. Schnell wurde deutlich, wie sehr das Thema polarisiert. Rund 20 Ge­nos­s*in­nen rieten davon ab, sich mit dem Thema näher zu beschäftigen. Die einen hielten das Vorhaben für „gefährliches Terrain“, ein anderer hatte Sorge, die taz würde „Wirrköpfen“ ein Forum bieten. Die Angst vor unliebsamen Meinungen sollte in der Recherche tatsächlich eine Rolle spielen – aber anders als von dem Genossen gedacht.

Rund 60 Personen, die sich angesprochen fühlten, meldeten sich zurück. Der Erste war Frank Loock, schon nach einer Viertelstunde schickte er eine Mail. Auch Shannon Mesing, eine 32-jährige Ingenieurin aus Schleswig-Holstein, schrieb zurück. Sie habe bisher die Grünen oder die Linke gewählt. „Ich sehe meine Ansichten bei keiner der größeren Parteien mehr vertreten.“ Hartmann Vetter, der jahrzehntelang Geschäftsführer des Mietervereins in Berlin war, mailte: „Ihr sucht Gesprächspartner*innen, die bei Wagenknecht andocken könnten. Ich bin so jemand.“

Wie sich im Laufe der Gespräche herausstellen sollte, haben Frank Loock, Shannon Mesing und Hartmann Vetter teils gegensätzliche Meinungen zu den großen Themen der Zeit, zu Corona etwa oder zum Krieg in der Ukraine. Und doch gibt es Gründe, warum sich alle drei bei Sahra Wagenknecht wiederfinden. Gründe, die weit über das Phänomen Wagenknecht hinausweisen.

„Hier entlang!“, ruft Shannon Mesing und winkt den Besuch durch den Garten auf die Terrasse. Es ist ein sonniger Samstag im August, der Wind pustet dicke weiße Wolken über den Himmel. Shannon Mesing, im schulterfreien Sommerkleid, stellt geschnittenes Obst auf den Holztisch. Wir unterhalten uns draußen, das Wohnzimmer ist noch eine Baustelle. Shannon Mesing und ihr Mann haben das rote Klinkerhaus am Rand von Neustadt in Holstein vor einiger Zeit gekauft, für sich und die zwei Kinder. Das Haus stammt aus den 1960er Jahren, sie renovieren gerade. Ein Anbau ist geplant, auch Mesings Mutter soll einziehen. Sie überlegen, Solarzellen auf das Dach zu montieren.

Mesing will die Gesellschaft verbessern, im Kleinen und im Großen, so viel wird im Gespräch schnell klar. Diesen Anspruch hat sie an sich selbst, aber auch an die Politik. Sie ist enttäuscht, wenn das nur begrenzt klappt.

Shannon Mesing, Ingenieurin

„Den einen bin ich zu rechts, den anderen zu links“

Shannon Mesing ist nördlich von Lübeck aufgewachsen, auf dem Land. Ihre Eltern waren früher Punks, als Jugendliche ging Shannon mit ihnen auch mal auf Konzerte. „Von ihnen habe ich mit auf den Weg bekommen, dass man Dinge anzweifeln sollte. Und dass jeder eine Meinung haben und vertreten kann.“ Dass das so ungehindert möglich ist, daran zweifelt sie inzwischen manchmal.

Als junge Erwachsene blockierte Mesing im Wendland einen Castortransport. 2017 gründete sie „Demokratie in Bewegung“ mit, ein basisdemokratisches Projekt. Sie hoffte, dass eine neue, andere Partei entstehen würde, an den Inhalten sollten sich viele über das Internet beteiligen können. Bei der Bundestagswahl 2017 kam Demokratie in Bewegung auf 0,1 Prozent. Die Beteiligung im Plenum sei oft gering gewesen, es habe Absplitterungen gegeben, erzählt Mesing. 2020 trat sie wieder aus.

Shannon Mesing versuchte Dinge im Alltag besser zu machen. Eine Zeit lang lebte sie vegan, aber es ging ihr nicht gut damit, heute isst sie wieder Käse und auch Fleisch, aber möglichst wenig. Sie achtet beim Einkauf auf Fairtrade. „Aber wenn wir Baumaterialien für das Haus kaufen, geht das nicht, das ist zu teuer“, sagt sie. „Eigentlich müssten wir alle unser Konsumverhalten ändern. Doch die Menschheit ist zu blöd dafür, ich auch.“

Bislang hat sie Grüne und Linke gewählt. Bekannte oder Kollegen sagen ihr auch manchmal, sie sei „öko“, „eine Grüne“, erzählt sie. Doch sie selbst findet sich bei vielen Themen nicht mehr bei den Grünen wieder. „Egal, mit wem ich rede, ich ecke überall an“, sagt sie. Den einen sei sie zu rechts, den anderen zu links. Den einen zu kapitalistisch, den anderen zu kapitalismuskritisch. „Ich sitze zwischen allen Stühlen.“

Während der Coronapandemie war das noch nicht so. Die Mesings lebten zu der Zeit in einer kleinen Wohnung in einem Plattenbau in Wismar. „Wir haben uns als Familie ganz strikt an die Kontaktbeschränkungen gehalten“, erzählt sie. Die Politik habe die Situation relativ gut gelöst, urteilt sie rückblickend. Auch die Berichterstattung erschien ihr weitgehend „wissenschaftlich fundiert“. Sie ist geimpft. Trotzdem störte es sie, dass Ungeimpfte „kriminalisiert wurden“, wie sie es nennt.

Nach dem 24. Februar 2022 war Mesing selbst in der Minderheit. Es sei schrecklich und falsch, dass Russland die Ukraine angegriffen hat, sagt sie. Sie könne aber verstehen, wie es dazu kam. Die USA hätten ihre Einflusssphäre nicht bis an die russische Grenze ausdehnen dürfen. Mesing glaubt nicht, dass es den USA in der Ukraine wirklich um Werte gehe. „Ich bin so aufgewachsen, dass sich Russland und die USA nicht viel nehmen.“ An dieser Sicht ändern auch der russische Angriffskrieg und Putins Imperialismus nichts. Beide Staaten seien Großmächte, die ihre Interessen durchsetzten, sagt sie.

Mesing unterzeichnete im Frühjahr die Petition von Wagenknecht und Alice Schwarzer, in der sie Friedensverhandlungen forderten. „Wie soll es sonst eine Lösung geben, ohne dass am Ende Atombomben fallen?“

Portrait von Shanon Mesing auf ihrem Balkon

Shannon Mensing Foto: Antje Lang-Lendorff

Einmal saßen sie bei einem Familienfest abends im Garten. Als der ­Ukrainekrieg zur Sprache kam, sei es am Tisch Konsens gewesen, dass die Ukraine Waffenlieferungen brauche und man es Putin zeigen müsse, erzählt sie. „Da musste ich schon was sagen.“ Das Gespräch sei sehr unangenehm geworden. „Sie haben mir unterstellt, ich würde das Leid der Familien in der ­Ukraine nicht ernst nehmen.“ Ihr Mann hält in solchen Momenten zu ihr, sagt sie, auch wenn er die USA positiver sehe als sie; er hat ein Jahr dort gelebt.

Shannon Mesing redet eindringlich, mit heller Stimme. Man merkt, wie sehr sie all das beschäftigt. Nach einer Weile kommt ihr kleiner Sohn auf die Terrasse, kuschelt sich an sie. Er darf ein bisschen mit ihrem Handy spielen und verschwindet wieder nach drinnen.

Nicht nur bei der Ukraine, auch bei anderen Themen argumentiert sie anders als viele Linke. Sie kritisiert beispielsweise, wie über Zuwanderung gesprochen wird. Die Gesellschaft komme mit der Aufnahme von Geflüchteten an Grenzen, sagt sie. „Man muss über Probleme reden können, ohne gleich als ausländerfeindlich abgestempelt zu werden.“

Oder die Genderfrage. Bei Demokratie in Bewegung wurde gegendert, ­Mesing hat lange überlegt, wie sie das finden soll. Heute lehnt sie es ab, Quoten ebenso. Sie hat Maschinenbau studiert. An der Hochschule und jetzt als Inge­nieu­rin in einer Medizintechnikfirma ist sie oft allein unter Männern. Sie sagt: „Wenn man zeigt, dass man kompetent ist, hat keiner ein Problem damit. Eine Quotenfrau würde ich nicht sein wollen.“

Wegen des Transthemas hatte sie sogar richtig Krach mit ihrer besten Freundin. Shannon Mesing findet es „gefährlich“, wenn junge Menschen selbst entscheiden können, das Geschlecht zu ändern. „Ich war als Jugendliche schlaksig, habe Jungs­klamotten getragen. Mit der Idee, ich sei kein richtiges Mädchen, hätte man mich ­zeitweise auch kriegen können.“ Sie und ihre Freundin stritten sich deshalb. „Das war total traurig.“ Seitdem meiden sie das Thema.

Klimaschutz ist Shannon Mesing sehr wichtig, Chancengleichheit auch. Ist sie nun rechts? Oder links? Oder beides, je nach Themenfeld? Sie selbst glaubt, dass diese Zuordnung nicht mehr funktioniert. „Rechts und links gibt es für mich nicht mehr.“

Mit ihren Positionen sieht sich Mesing derzeit von keiner der Parteien im Bundestag mehr vertreten. Sie ist überzeugt: „Wir brauchen eine andere Opposition als die AfD.“

Die Schatten der Bäume auf der Terrasse sind länger geworden, es riecht nach Grillanzünder aus dem Nachbargarten. Shannon Mesing findet Sahra Wagenknecht eigentlich gar nicht sympathisch. Und doch verbindet sie mit ihr eine Hoffnung. „Die Frage ist, ob so eine neue Partei Menschen wie mich auffangen könnte.“

Der GesellschaftswissenschaftlerOliver Nachtwey forscht zu sozialen Bewegungen. Er beobachtet schon länger eine „normative Unordnung“, wie er es nennt. „Es gibt vermehrt Bewegungen, die sich dem klassischen Links-rechts-Schema entziehen und eine Offenheit gegenüber rechten Positionen haben, ohne gleich rechts zu sein“, sagt er. Während der Occupy-Proteste Anfang der zehner Jahre, die noch recht klar links waren, sei ihm das Phänomen das erste Mal begegnet, 2014 dann bei der Mahnwache für den Frieden.

Nachtwey hat sich auch viel mit den Coronaprotesten beschäftigt. Für das Buch „Gekränkte Freiheit“ interviewten er und seinen Kol­le­g*in­nen unter anderem 45 Personen aus dem Querdenken-Milieu. Die während der Pandemie verbreitete Meinung, die meisten Protestierenden seien Rechte, stimme nicht, sagt er. „30 Prozent der Leute, die wir befragt haben, haben früher grün gewählt.“ Leute von Ostermärschen seien darunter gewesen, ökologisch Bewegte, Kosmopolit*innen.

Warum gerade sie auf die Straße gingen, erklärt Oliver Nachtwey so: „Links“ sei im Spektrum der Kritik normalerweise verbunden mit Solidarität, mit der Öffnung gegenüber Schwachen, der Inklusion von Minderheiten. „Rechts“ dagegen stehe für das Ausschließen von Minderheiten und eine starke Hie­rar­chi­sierung. Während der Pandemie kam es zum Lockdown, also zu einer Schließung, sie wurde hierarchisch angeordnet. „Normalerweise hätte die Kritik daran von links kommen müssen, aber auch Linke haben die Maßnahmen mitgetragen.“

Zu Recht, wie Nachtwey findet, schließlich ging es damals um den Schutz von Menschenleben. Das hatte aber Folgen: „Es gab relativ wenig Herrschaftskritik. Es entstand eine Lücke in der linken Politik und auch in der Berichterstattung, die von den Protestierenden artikuliert wurde.“ Dem Staat und den Medien seien viele von ihnen mit wachsendem Misstrauen begegnet. „Das Establishment war das neue Feindbild.“

Wissenschaftler Oliver Nachtwey beobachtet eine „normative Unordnung“

Dieser „Generalverdacht gegen das Establishment“ zeige sich auch jetzt wieder an Protesten gegen Waffen­lieferungen an die Ukraine. Die westliche Darstellung der Ursachen des Kriegs werde angezweifelt, statt in deutschen Medien informierten sich die Leute beispielsweise bei RT, früher Russia Today. Die Protestierenden stießen erneut in eine Lücke der Herrschaftskritik, sagt Nachtwey. „Die Grünen haben mit den Positionen der klassischen Friedensbewegung fast nichts mehr gemein.“

Hier setze Sahra Wagenknecht an, so der Wissenschaftler. Sie ver­suche, die verschiedenen Milieus zusammen zu binden, die ursprünglich linken Querdenker*innen, die Mi­gra­ti­ons­skep­ti­ke­r*in­nen und die Pazifist*innen. „Linke und rechte ­Anteile sind bei ihr gleichermaßen vertreten. Ihre Klammer ist das Anti-­Establishment.“

Nun ist Shannon Mesing keine Querdenkerin, auch eine Offenheit nach rechts würde sie weit von sich weisen. Oliver Nachtweys Forschung in seinem Buch „Gekränkte Freiheit“ bezieht sich auf andere, radikalere Gruppen. Die „normative Unordnung“ beschreibt aber ganz gut, was auch Mesing umtreibt. Und nicht nur sie.

„Links, rechts, nicht ich habe mich verändert, sondern die Parteien und die politischen Kräfte“, sagt Hartmann Vetter. Er sitzt in einem Café am Stuttgarter Platz in Berlin-Charlottenburg. Ein warmer Nachmittag im August. Vetter, 78, trägt ein bunt gemustertes Hemd und Trekkingsandalen. Am S-Bahnhof eilen Menschen vorbei. Hier, am westlichen Ende des „Stutti“, wie Vetter den Platz nennt, ist es grün und friedlich. Ein Café reiht sich an das nächste. „Wie in Italien“, schwärmt Vetter.

Früher waren am Stuttgarter Platz der Busbahnhof und ein Rotlichtviertel. Dass sich die Gegend gut entwickelt hat, liegt ein wenig auch an Hartmann Vetter. Gemeinsam mit anderen gründete er eine Mieterinitiative, Anfang der 80er kauften sie zusammen ein Haus, dessen Seitenflügel abgerissen werden sollte. Ganz im Sinne der „behutsamen Stadterneuerung“ erhielten sie das alte Gebäude und renovierten es zum Teil selbst. In dem Haus wohnt er mit seiner Frau heute noch.

Stadtentwicklung ist Hartmann Vetters großes Thema. Er war 30 Jahre lang Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, er stritt für die Legalisierung von Hausbesetzungen, für die Mietpreisbindung und Obergrenzen. „Mann der Mieter“, „Häuserkämpfer“, so lauteten die Überschriften, als er 2009 aufhörte.

Hartmann Vetter hat wie Shannon Mesing lange die Grünen gewählt, später PDS/Die Linke. „Die Grünen haben ihre soziale Seite vergessen“, kritisiert er. Sollte Wagenknecht eine Partei gründen, würde er sie wohl wählen.

Portrait von hartmann Vetter in einem Hauseingang

Hartmann Vetter Foto: Dagmar Morath

Dass Wagenknecht, wie der Gesellschaftswissenschaftler Nachtwey sagt, auf „Anti-Establishment“ setzt, stört ihn nicht. „Anti-Establishment? Das ist mir erst mal grundsätzlich sympathisch. So bin ich politisch sozialisiert.“

Hartmann Vetter ist ein 68er. Er war in Köln im Sozialdemokratischen Hochschulbund und wollte ins Zentrum der Bewegung. An Ostern 1968, direkt nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, zog er nach Westberlin. Er studierte Jura und Stadt- und Regionalplanung. Die Zeit der Hausbesetzungen und die Wiedervereinigung erlebte er bereits als Geschäftsführer des Mietervereins.

Vetter sitzt sehr aufrecht, während er spricht. Er erzählt freundlich, aber bestimmt. Seine Kollegen sollen ihn früher auch „Comandante“ genannt haben.

2015, während der sogenannten Flüchtlingskrise, wurde Vetter kurzzeitig zum Merkel-Fan. Beim Thema Zuwanderung liege er nicht ganz auf Wagenknechts Linie, sagt er. „Aber die Probleme müssen gesehen werden.“ In der Coronapandemie gehörte er dann zum Team Vorsicht. „Die Menschen waren in dieser Situation solidarisch, auch der Staat“, lobt er. Während der Pandemie habe es eine Einheitsfront gegeben. „Zu der gehörte ich auch.“

Das änderte sich mit dem Ukrainekrieg. Wie Shannon Mesing verweist er darauf, dass der Krieg eine Vorgeschichte habe. „Gäbe es eine vergleichbare Situation in Mittelamerika, würden die USA das auch nicht akzeptieren.“ Eine Hypothese, die auch Wagenknecht vertritt.

Als junger Mann war Vetter selbst Soldat, zwei Jahre lang. Es war Kalter Krieg, sie übten den Verteidigungsfall. „Die Russen haben die Elbe über­schritten!“, so etwas wurde beim Nachtalarm durch die Gänge gerufen, erzählt er. Nach dieser Zeit wollte er wissen: Wie sind die Russen wirklich? Gemeinsam mit einem Freund reiste er 1967 für neun Wochen durch die Sowjetunion. „Wir fuhren von Minsk Richtung Moskau.“ Sie durften die Route nicht verlassen, doch sobald sie stoppten, kamen Menschen neugierig zu ihnen ans Auto.

So schildert er es. Eine alte Frau ist ihm besonders in Erinnerung geblieben. Die Deutschen hatten entlang der Strecke Tod und Verwüstung hinterlassen, die Frau musste den Krieg erlebt haben. Und doch sei sie ihnen freundlich begegnet wie die meisten anderen. „Война не надо – Krieg braucht keiner.“ Das habe sie gesagt. „All das wird jetzt wieder zerstört.“

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Hartmann Vetter hat Angst, dass – und sei es aus Versehen – ein dritter Weltkrieg ausgelöst wird. Er hatte diese Angst schon einmal, mit 17. „Die Hochrüstung im Kalten Krieg, die Kubakrise, das habe ich hautnah erlebt.“

Dass die Grünen vor der Bundestagswahl 2021 noch „Keine Waffen in Kriegsgebiete“ plakatierten, angesichts des russischen Angriffs dann aber umschwenkten, das nimmt er ihnen übel. „Sie schreien am allerlautesten nach Waffen.“ Er schüttelt den Kopf. „Ich weiß nicht, wie man so geschichtslos sein kann.“ Auch die Ver­fech­te­r*in­nen der Waffenlieferungen argumentieren mit der Geschichte, Vetter leitet daraus aber eben das Gegenteil ab. Er schaut regelmäßig Wagenknechts Videos. Bei ihr findet er sich inzwischen viel eher wieder.

Shannon Mesing und Hartmann Vetter blicken nicht nur ähnlich auf den Ukrainekrieg. Sie kritisieren auch beide den öffentlichen Diskurs, den sie als zu einseitig empfinden. „Der Meinungskorridor ist enger geworden“, sagt Mesing. Bei Corona habe sie das so wahrgenommen, jetzt beim Krieg in der Ukraine wieder. „Gut und böse stehen viel zu schnell fest.“ Das werde den komplexen Sachlagen oft nicht gerecht. Hartmann Vetter sagt: „Leute, die skeptisch sind bei Waffenlieferungen, werden in den Talkshows als Naivlinge und Putin-Versteher niedergemacht.“

Die Welzer-Precht-Debatte

Man kennt dieses Argument von den Autoren Harald Welzer und Richard David Precht. In ihrem im September 2022 veröffentlichen Buch „Die vierte Gewalt“ kritisieren sie ein zu einheitliches Meinungsbild in den Medien. Obwohl sich im Frühjahr 2022 nur knapp die Hälfte der Bevölkerung für die Lieferungen schwerer Waffen aussprach, seien diese in den Medien nahezu uniform befürwortet worden. Das Buch wurde viel besprochen – und kritisiert. Ein Vorwurf: Welzer und Precht fehle für ihre Behauptungen die empirische Basis.

Die gab es bald darauf, zumindest für eine Auswahl an Medien. Um den Jahreswechsel veröffentlichte eine Forschungsgruppe um den Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­ler Marcus Maurer von der Uni Mainz eine Studie zur Berichterstattung von FAZ, Süddeutscher, Bild, Spiegel, Zeit, ARD-„Tagesschau“, ZDF-„heute“ und „RTL aktuell“ im Frühjahr 2022. Das Ergebnis: „Die meisten deutschen Leitmedien haben in den ersten drei Monaten des Ukraine­krieges überwiegend für die Lieferung schwerer Waffen plädiert und diplomatische Verhandlungen als deutlich weniger sinnvoll charakterisiert.“ Nur im Spiegel sei das etwas anders gewesen. Dabei sei keineswegs nur regierungsfreundlich berichtet worden. „Kanzler Scholz wurde zwar zunächst für seine Entscheidungsfreudigkeit gelobt, dann aber als Zauderer kritisiert.“

Auch die Berichterstattung während Corona hatten sich Maurer und Kollegen genauer angeschaut. Sie untersuchten sieben Onlinenachrichtenportale und vier Fernsehnachrichtensendungen von Januar 2020 bis April 2021. „Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie wurden in den meisten Medien als angemessen oder sogar als nicht weitreichend genug bewertet“, lautet ein Ergebnis. „Insgesamt nahmen die Medien eine eindeutig warnende Haltung ein, die man durchaus als einseitig betrachten kann.“

Die Autoren verweisen allerdings auch auf die Gefahr einer false balance: Dass fundamentale Gegner der Coronapolitik kaum Gehör fanden, ebenso wenig wie Wissenschaftler*innen, die die Gefährlichkeit des Virus rundheraus abstritten, könne man nur dann als Mangel an Vielfalt interpretieren, wenn man eine „Darstellung von Ansichten unabhängig von ihrem Bestätigungsgrad“ wolle. Pluralismus bedeutet schließlich nicht, dass Medien falsche Fakten verbreiten sollten.

Vergleichsweise selten sei allerdings auch über die negativen wirtschaftlichen und psychosozialen Folgen der Maßnahmen berichtet worden. Die Bewertung sei hier untrennbar mit dem Verständnis der Rolle von Medien in Krisenzeiten verbunden, so die Wissenschaftler. Gehöre es zu ihrer Aufgabe, Kritiker und negative Nebenfolgen der Maßnahmen zu thematisieren, „auch wenn das möglicherweise die gesellschaftliche Akzeptanz der Maßnahmen mindert“? Oder sei die Bekämpfung der Pandemie vorrangig? Die Antwort hänge maßgeblich davon ab, für wie gefährlich man das Virus halte.

Es gab also tatsächlich eine gewisse Einseitigkeit der Berichterstattung, sowohl während Corona als auch zu Beginn des Ukrainekriegs – die man richtig finden kann oder falsch. Diejenigen, die wie Shannon Mesing oder Hartmann Vetter einen verengten Diskurs beklagen, dürften sich bestätigt sehen.

Portrait von Frank Loock vor seinem Wohnhaus

Frank Loock Foto: Antje Lang-Lendorff

Sahra Wagenknecht fiel Frank Loock während Corona das erste Mal richtig auf. Sie kritisierte viele Maßnahmen, auch sie ließ sich nicht impfen. Er musste ab November 2021 morgens vor dem Werktor warten; sie durfte im Bundestag nur noch auf der Besuchertribüne sitzen statt im Plenum. „Ungeimpfte wurden wie Aussätzige behandelt“, sagt er.

Als promovierten Chemiker irritierte es Loock, dass ein langjähriger Prozess wie die Entwicklung eines Impfstoffs plötzlich so schnell ging. Erfahrungen aus seinem Umfeld machten ihn noch misstrauischer. Zwei ältere, sportliche Freunde bekamen nach der Impfung Herzmuskelentzündungen, erzählt er. „Der eine war ein Rennradgott. Er ist seitdem nicht mehr aufs Rad gestiegen.“ Danach habe er für sich persönlich entschieden, sich nicht impfen zu lassen. Es gebe auch andere Arten, sich und andere vor einer Infektion zu schützen. Kontakte reduzieren, Maske tragen. Das kannte er schon von seinen Geschäftsreisen nach China.

Frank Loock war früher Mitglied der SPD. Als Rot-Grün Hartz IV einführte, trat er aus, das fand er „menschenverachtend“. Trotzdem wählte er die SPD weiter; oder die Grünen, für mehr Klimaschutz. Die Linkspartei setze sich zwar glaubhaft für soziale Gerechtigkeit ein, sagt er. „Aber die dreht sich nur um sich selbst.“

Vor der Bundestagswahl im Herbst 2021 spendete Loock der SPD 100 Euro. Noch im Wahlkampf hatte Olaf Scholz eine allgemeine Impfpflicht ausgeschlossen. Drei Monate später, im November, hielt er sie doch für nötig. Loock konnte das kaum glauben. „So etwas ist unaufrichtig.“ Im November sprach zudem Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil, ebenfalls Sozialdemokrat, von einer „Brandmauer“ gegen Ungeimpfte, die es zu errichten gelte. Loock sagt: „Ich bereue jeden Cent, den ich der SPD gespendet habe.“

Die Abendsonne fällt schräg über die Felder auf den Parkplatz vor dem Werk. Frank Loock steigt in das dunkelrote E‑Auto. Klimaschutz ist ihm wichtig. Die Familie ist deshalb mehrere Jahre nicht in den Urlaub geflogen, sie haben ein Haus gekauft, das es schon gab, statt ein neues zu bauen. Loock ist Fördermitglied bei der Deutschen Umwelthilfe und bei Greenpeace. Er, der für einen Autokonzern arbeitet, fordert dringend ein Tempolimit. Er versteht nicht, warum die Grünen in der Ampel da nicht hart geblieben sind. „Mit über 200 auf der Autobahn, das ist doch Wahnsinn.“

Der Wagen gleitet über die Landstraße an Feldern und Böschungen vorbei nach Wolfenbüttel. Hier wohnt Loock mit seiner Familie in einem Reihenhaus. Im offenen Wohn- und Esszimmer mit Kamin setzt sich auch seine Frau dazu.

Die großen Krisen der jüngeren Zeit – Corona, der Krieg in der Ukraine – haben die Koordinaten verschoben

Frank Loock ist ein Bildungsaufsteiger. Er war der Erste in der Familie, der Abitur machte, studierte und sogar promovierte. Loock lernte früh, seinen eigenen Weg zu gehen, sich nur auf sich selbst zu verlassen. „Wenn ich jemanden brauchte, der mir Integralrechnung erklärt, dann war da niemand.“ Er wurde ein Einzelkämpfer, Teamfähigkeit lernte er erst später, erzählt er. „Wenn jemand etwas von mir wollte, war es für mich selbstverständlich zu hinterfragen: Ist das zielführend?“

Den ersten Lockdown während Corona nahm er sehr ernst. Abends saßen sie vor dem Fernseher und verfolgten die Infektionszahlen. Doch nicht alle Maßnahmen leuchteten ihm ein. Dass Kinder nicht auf den Spielplatz durften, fand er von Beginn an falsch. Mit seiner Patentochter ging er trotzdem hin, sie ignorierten das Absperrband einfach.

Anders als Frank Loock waren Shannon Mesing und Hartmann Vetter bei Corona voll im Meinungsmainstream, beim Krieg in der Ukraine nicht mehr. Bei Loock ist es umgekehrt: Er hätte sich im Frühjahr 2022 sogar schnellere Waffenlieferungen der deutschen Regierung gewünscht. „Wir sprechen hier über einen verbrecherischen Angriffskrieg. Deutschland war da viel zu zögerlich.“

Mit Wagenknechts Äußerungen zum Krieg kann er nicht viel anfangen. Gegen Friedensverhandlungen habe er nichts, sagt er, er sei ja kein Kriegstreiber. „Aber ihre Sowjetromantik geht mir so was von auf die Nerven.“ Trotzdem erwägt er, sie zu wählen.

Tritt Wagenknecht an, würden sicherlich auch Menschen für sie stimmen, die bisher AfD gewählt haben. Aber eben nicht nur sie. Frank Loock, Shannon Mesing und Hartmann Vetter sind links sozialisiert, das ist in den Gesprächen sehr deutlich geworden. Sie teilen auch weiterhin vieles von dem, was in linken Kreisen gesagt und gedacht wird. Zum Teil aber auch nicht.

Das liegt nicht nur an ihnen. Die großen Krisen der jüngeren Zeit haben die Koordinaten verschoben. Aus Sorge vor dem Virus, aus Solidarität mit vulnerablen Gruppen befürworteten auch Linke in der Pandemie Einschränkungen der Grundrechte. Aus Solidarität mit der Ukraine waren Kriegs­geg­ne­r*in­nen nach dem 24. Februar 2022 plötzlich für Waffenlieferungen. Die normative Unordnung, die Oliver Nachtwey in den Protestbewegungen beobachtet, sie hat im Prinzip die ganze Gesellschaft erfasst.

Vieles ist in Bewegung geraten, und nicht alle sind bei jeder Bewegung mitgegangen. Diese Menschen haben andere Meinungen, sie sind deswegen aber nicht automatisch „Wirrköpfe“, wie ein taz-Genosse in einer Mail warnte. Und nicht automatisch rechts: Auch aus einer linken Perspektive, mit linken Argumenten lassen sich Coronamaßnahmen oder Waffenlieferungen kritisieren.

Zurzeit sind Leute mit diesen Meinungen politisch heimatlos. Das Pro­blem ist: Je weniger sie sich im Diskurs wiederfinden, je mehr man sie abwertet oder pathologisiert, desto eher verliert man sie. Vielleicht wählen sie eine Partei, wie sie Wagenknecht wohl vorschwebt, in der sich linke mit rechten Positionen vermischen: für Umverteilung, gegen Waffenlieferungen, für eine Begrenzung der Zuwanderung, gegen eine „Cancel Culture“, wie Wagenknecht es nennt.

Im schlimmsten Fall entfremden sie sich nicht nur von den etablierten Parteien, sondern von der Demokratie an sich. An manchen Leuten aus der Querdenken-Szene konnte man das be­obachten. Sie radikalisierten sich, aus der Kränkung wurde eine große Wut auf „die da oben“ und das ganze System.

Wagenknecht als Projektionsfläche

Shannon Mesing hat eine Weile überlegt, ob sie wirklich mit vollem Namen in die Öffentlichkeit will. Sie hat Sorge, angefeindet und in die rechte Ecke gestellt zu werden. Sie hat sich, wie die anderen beiden, schließlich dafür entschieden, sogar für das Foto. Sie will, dass das geht. Sie sagt: „Wir müssen zu einer Streitkultur finden, wo es okay ist, wenn man eine andere Meinung hat.“

Und was heißt das nun alles für Sahra Wagenknecht? Eine Partei, die es noch nicht gibt, eignet sich gut als Projektionsfläche. Den Erwartungen mit einem konkreten politischen Programm zu entsprechen, ist noch mal etwas anderes.

Hartmann Vetter ist dagegen, dass sie eine eigene Partei gründet, wegen der Fünfprozenthürde. „Das wäre der Tod von beiden, der Linkspartei und der Wagenknecht-Partei.“ Er wünscht sich eine starke Sahra Wagenknecht innerhalb der Linken. Wenn beide getrennt antreten, würde er Wagenknecht wohl wählen. „Dann bliebe mir ja nichts anderes übrig.“

Shannon Mesing macht vom Parteiprogramm abhängig, ob sie am Ende wirklich für eine Wagenknecht-Partei stimmen würde. „Wenn Wagenknecht Ausländerfeindlichkeit zu sehr bedient, würde ich sie nicht wählen. Und wenn Klimaschutz bei ihr hinten runterfällt, bin ich auch nicht dabei.“

Auch Frank Loock hat eine Bedingung: „Ich wähle sie nur, wenn sie nicht zu viel USA-Feindlichkeit im Programm hat.“

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