Deltavariante des Coronavirus: Jetzt bremsen ist keine Schikane
Kontrollen an den Grenzen sind sinnvoll, auch wenn sie wie Schikane wirken mögen. Denn die Deltavariante ist aggressiv.
E s kommt fast schon politischem Selbstmord gleich, mitten im unbeschwerten Reise- und EM-Fieber verschärfte Maßnahmen zu fordern – und seien es nur verpflichtende Tests und Quarantäneregeln für Reiserückkehrer. Es gebe keinen Grund, nicht flächendeckend zu kontrollieren, sagte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller dem ZDF. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil verlangt sogar eine zweifache Testpflicht für Ungeimpfte, die aus dem Ausland einreisen.
Auch wenn solche Maßnahmen manchen in diesem schönen Fußballsommer wie Schikane vorkommen mögen, zumal doch so viele schon geimpft sind: Sie sind einfach nur vernünftig.
Zunächst, weil eine Covidimpfung nicht sicher vor Ansteckungen schützt. Sie schützt vor Erkrankungen, aber nicht davor, das Virus weiterzugeben. Es bleibt daher zentral, die Verbreitung des Erregers so lange durch Maßnahmen und Beschränkungen zu bremsen, bis die Bevölkerungen Europas und hoffentlich auch der Welt durch Immunisierungen hinreichend geschützt sind. Das dauert allerdings noch. Und derweil kann sich das Virus, egal in welcher seiner Varianten, bei Gelegenheit wieder ausbreiten.
Und Sars-CoV-2 bekommt derzeit diese Gelegenheit: Urlauber:innen und reisende Fußballfans sind eine Drehschreibe für das Virus. Denn das schöne Wetter allein schützt nicht vor Corona. Wenn sich verschwitzte Massen zum Torjubel in Stadien und auf Plätzen in die Arme fallen oder Schulabgänger:innen auf Mallorca die Party ihres Lebens feiern, hilft es auch wenig, dass das hauptsächlich draußen passiert. Ob Delta, Alpha, Beta oder Delta-plus: Sars-CoV-2 braucht menschliche Nähe, und gerade bekommt es sie mehr denn je in dieser Pandemie.
Was das bedeutet, sollte nach eineinhalb Jahren klar sein. Das Virus kann auch bei uns wieder Fuß fassen, Schaden anrichten, und zwar nicht erst im Herbst, sondern gerade jetzt. Der Anteil der vollständig Geimpften ist bei den über 60-Jährigen noch zu gering, je nach Bundesland etwa 50 Prozent, um eine erneute Zunahme der Todesfälle auszuschließen.
Und die unter 60-Jährigen? Nur ein knappes Drittel von ihnen hat beide Dosen Impfstoff bekommen, rund 50 Prozent sind noch ungeschützt. Lohnt es sich also, dem Bedürfnis nach uneingeschränkter Reisefreiheit und Fußballparty prioritär nachzugeben und schwere Verläufe, Long Covid oder gar den Tod zu riskieren?
Man sollte meinen, nein. Die Forderung der Ministerpräsidenten, wieder verpflichtende Tests für Reiserückkehrer einzuführen, ist deshalb richtig, wenngleich sie reichlich spät kommt. Ob sie jetzt noch viel bringt, wird man in einigen Wochen sehen. Dann geht es ins Coronafinale.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen