Leben ohne Auto: Kommt Zeit, kommt Rad
Mit drei Kindern und ohne PKW ist unsere Autorin in den Wald gezogen. Geht das – ein Leben auf dem Land ohne Auto?
A m Morgen des 3. Januar ist es so weit. Um 5.50 Uhr sitze ich mit dem Handy in der Hand auf dem Klodeckel und tippe bei Ebay-Kleinanzeigen „Gebrauchtwagen“ und meine Postleitzahl ein. Nur mal schauen.
Neben mir peitscht der Regen gegen das Badezimmerfenster, es ist stockdunkel, das Thermometer zeigt 1 Grad über Null. In weniger als einer Stunde müssen mein Freund oder ich unsere zwei Grundschulkinder durch den Wald zur 2,5 Kilometer entfernten Bushaltestelle bringen. Ohne Auto, wie immer. Straßenlaternen gibt es am Rande des Weges nicht, nur Hunderte Kiefern, die im Wind schwanken.
Etwa ein Jahr zuvor, kurz vor Weihnachten 2020, sind wir aus Berlin nach Brandenburg gezogen. Nicht in eine Kleinstadt mit S-Bahn-Anschluss, nicht in ein Dorf mit Regionalbahnhof, sondern in eine Mietwohnung in einem Zweifamilienhaus, das allein mitten im Wald steht.
Dass wir in der Berliner Innenstadt mit drei kleinen Kindern ohne Auto lebten, fiel in unserem Umfeld nicht weiter auf. Aber wenn ich vom geplanten Umzug erzählte, fragten mich plötzlich dieselben Menschen: Dann kauft ihr aber schon ein Auto, oder? Dann macht dein Freund bestimmt auch endlich einen Führerschein?
Empfohlener externer Inhalt
Dabei waren doch die vielen Autos einer der Gründe, warum wir wegwollten. Weg aus unserer Wohnung, die gefühlt auf einer Kreuzberger Verkehrsinsel lag. Nach vorne raus ein Balkon, von dem man das Rauschen dreier verschiedener Straßen hörte. Nach hinten raus ein kleiner Hinterhof, der fast komplett zugepflastert war, um möglichst viele Pkw-Stellplätze zu vermieten.
Wir wollten weg von den 20 Minuten Adrenalin, zweimal täglich, wenn wir auf dem Fahrrad zur Kita fuhren, auf Straßen ohne Radweg. Autofahrer gegen Radfahrer, Radfahrer gegen Fußgänger, Busfahrer gegen alle. Wir wollten weg von der Kreuzung, an der unsere frühere Nachbarin auf ihrem Fahrrad von einem rechts abbiegenden Lkw überrollt wurde und starb. Weg, endlich raus.
Auf dem Land geht es aber eben nicht ohne Auto! Wenn auf deutschen Podien zwischen Husum und Rosenheim über die Verkehrswende diskutiert wird, wenn darüber gestritten wird, was zu tun wäre, um die Klimakatastrophe zu stoppen und wegzukommen von Putins Öl, dann fällt irgendwann fast immer dieser Satz. Auf dem Land geht das nicht.
Der Satz funktioniert quasi als Universalargument gegen Veränderung. Und es stimmt ja, wenn man auf die Zahlen schaut: Von den ländlichen Haushalten, in denen mehr als ein Mensch lebt, haben nur 3 Prozent gar kein Auto. Mehr als die Hälfte besitzen zwei oder mehr. 44 Kilometer ist jede Person hier am Tag durchschnittlich unterwegs, davon mindestens 35 am Steuer oder auf dem Beifahrersitz. Und eine überwältigende Mehrheit dieser Menschen ist mit der Automobilität zufrieden. Kein Veränderungsbedarf also.
Aber genau diese Leute, Leute genau wie wir, zerstören diesen Planeten. Menschen, die raus aus den Städten ziehen, dabei die Landschaft mit Einfamilienhäusern zubetonieren und dann trotzdem zum Arbeiten in die Stadt wollen. Die dafür mindestens zwei Autos brauchen und die Straßen in die Metropolen hinein verstopfen. Wer in einer Großstadt kurze Wege hat und damit Verkehr vermeidet, schützt die Umwelt möglicherweise mehr als diejenige, die raus in die Natur zieht.
Geht das auch anders? Wir wollten es probieren.
Unsere Versuchsanordnung: zwei Erwachsene, die in Homeoffice-kompatiblen Berufen arbeiten, aber zwei- bis dreimal in der Woche nach Berlin pendeln. Eine Strecke: 35 Kilometer. Eine Siebenjährige und ein Neunjähriger, die um 7.30 Uhr im Klassenraum sitzen müssen: 13 Kilometer. Eine Vierjährige, die im Nachbardorf in die Kita geht: 3 Kilometer. Der nächste Supermarkt: 3,5 Kilometer. Das nächste Krankenhaus: 8 Kilometer. Auch dazu kommen wir später leider noch.
Dezember 2020. Bevor ich mit der Mobilitätswende überhaupt loslegen kann, haben mir meine Eltern schon einen ihrer SUVs vor die Tür gestellt. Wir haben noch keinen Küchentisch, aber schon einen Geländewagen. Leihweise, sagen meine Eltern, für die Umzugszeit. Ich klappe die Sitzbänke um und schiebe gebrauchte Kommoden, auseinandergebaute Hochbetten und Baumarkt-Holzleisten durch die Kofferraumtür ins Innere.
Beim Dinge-Transportieren höre ich Radio und denke übers Autofahren nach. Dass der Abschied vom eigenen Wagen vielen Menschen so schwerfällt, hat nicht so viel mit Verstand zu tun. Selbst in den Städten, wo es Alternativen gibt, die belegbar gesünder, günstiger und zeitsparender sind, nimmt die Zahl der Autos nicht etwa ab, sondern weiter zu. Obwohl im Durchschnitt nur 1,4 Menschen in einem Pkw sitzen, werden die Fahrzeuge immer größer. Alle Erfahrungen der Verkehrspolitik der letzten Jahrzehnte zeigen: Mit guten Argumenten ändert man keine Realitäten. Zwei der wichtigsten Stellschrauben für Veränderung heißen Gewohnheit und Gefühl.
Ich kenne diese Welt, die nach Diesel und Motoröl riecht, gut. Meine Eltern sind Bauern, sie haben eine eigene Tankanlage und drei Autos. Weil immer eins entweder irgendwo Ersatzteile für einen Mähdrescher abholen muss oder gerade zu Schrott gefahren wurde. Ihr Hof liegt am Rande eines Mecklenburger Dorfes, und wenn ich dort als Jugendliche an der Bushaltestelle fror, träumte ich definitiv von anderen Dingen als von einer autofreien Gesellschaft. Wie alle anderen hatte ich am 18. Geburtstag meine Führerscheinprüfung schon hinter mir.
Natürlich erinnere ich mich an mein erstes Auto. Ich hatte es mir für 500 Euro gekauft, weil es für den Job bei der Regionalzeitung Pflicht war, einen Führerschein und einen Wagen zu haben. Ein kleiner, eckiger Peugeot 205. Meine Familie nannte ihn „die rote Gefahr“.
Das Auto, die Unabhängigkeit.
Fast noch deutlicher erinnere ich mich an das Gefühl, das erste Mal allein hinter dem Lenkrad eines Treckers zu sitzen. Ein Stückchen auf dem Hof durften wir fahren, sobald wir über den Lenker gucken konnten und die Beine lang genug waren. Ich kann höchstens acht gewesen sein. Meinen ganzen Körper musste ich gegen das Pedal stemmen, um die Bremsen durchzutreten. Die Schwere des Widerstandes gab mir das Gefühl, ich selbst würde den Hebel irgendwo im Inneren der große Maschine umlegen. Fast so, als könnte ich allein mit der Kraft meines schmalen Kinderschenkels einen Trecker zum Halten bringen.
Das Auto, die Kraft.
Als es langsam Frühling wird in Brandenburg, 2021, als alle Hochbetten aufgebaut sind und alle Kommoden an ihrem Platz stehen, holen meine Eltern den SUV ab. Unsere Alternative ist endlich angekommen: ein riesiges schwarzes Lastenfahrrad mit drei Rädern, elektrischer Unterstützung und einem Kasten vorn, in dem vier Kinder unter einem Dach aus fester Lkw-Plane sitzen können. Es ist das Teuerste, was ich mir in meinem ganzen Leben gekauft habe, neunmal hätte ich die rote Gefahr davon bezahlen können. Ich tröste mich damit, dass wir auf lange Sicht Geld sparen: Ein Pkw kostet durchschnittlich 300 Euro im Monat.
Ein Auto würde mich zur Chauffeurin machen. Mein Freund ist einer von 13 Millionen Deutschen ohne Führerschein. In unserem Alltag holt und bringt er die Kinder deutlich öfter als ich und geht mehr einkaufen. Also muss das weiter ohne Wagen gehen.
Ohne den Elektromotor ginge es aber nicht. Würde der nicht jedem Tritt in die Pedale etwas Schubkraft verleihen, kämen wir mit 50 Kilo Großeinkauf und 50 Kilo Kindern nicht die Hügel unserer Gegend hoch. Wenn der Akku leer ist, lade ich ihn einfach an der Steckdose auf. Bei einem Elektroauto bräuchten wir eine Ladesäule, müssten für jeden Platten in die Werkstatt – und es würde neu mindestens 20.000 Euro kosten. Ich möchte keinen Kredit aufnehmen für so ein teures Ding, das man nicht versteht. Einen Schlauch kann ich selbst wechseln.
Wenn ich jetzt von der Kita zurückfahre und in den Waldweg abbiege, der zu unserem Haus führt, dann fühle ich, wie die Luft beim Atmen plötzlich feuchter wird, ich spüre die Kühle aus dem Moos aufsteigen und rieche die Würze der Kiefernnadeln.
Es wird Juni, und eine Kollegin fragt mich, ob ich nicht etwas schreiben will über das Leben auf dem Land ohne Auto. Aber was gibt es da schon groß zu schreiben? Alles ist sommerleicht. Der Wocheneinkauf in den vier Ikea-Tüten passt genauso problemlos ins Fahrrad wie die Schwimmnudeln und Wasserbälle, die wir einpacken, um am frühen Abend noch kurz in den See zu springen. Geparkt wird direkt am Strand. Wenn ich morgens mit unserem zweiten elektrischen Fahrrad, einem Klapprad, 30 Minuten zur S-Bahn fahre, kommen mir die ersten Fahrradurlauber entgegen und es fühlt sich nach Ferien an. Klapp, klapp, rein in die Bahn, Zeitung lesen, klapp, klapp, wieder raus. Läuft bei uns.
Im Sommer hat jeder Verständnis für ein Leben auf dem Rad. Als es Herbst wird, ändert sich das schnell.
Ich ziehe ein Paar Handschuhe an, dann ein zweites darüber, aber meine Hände frieren trotzdem. Aus kleinen Stichen wird ein starker dumpfer Schmerz, dann wird der kleine Finger taub.
Zum Geburtstag im Oktober bekomme ich dicke Motorradhandschuhe und ein zweites Paar dünne aus Merinowolle zum Darunterziehen, außerdem eine feste Regenhose und einen knallroten Plastikponcho. Wenn ich durch den Regen fahre, klingt es darin, als pladderten die Tropfen auf ein Zeltdach. Wir beginnen damit, den Kindern morgens Kirschkernkissen für die Fahrt zum Schulbus in der Mikrowelle warm zu machen. Zum Kinderfußballtraining nehme ich eine Thermoskanne mit heißem Wasser mit. Für die Wärmflasche auf der Rückfahrt.
Wir wollen zum Mosten nach Mecklenburg und auf dem Rückweg mindestens 50 Liter Apfelsaft mitnehmen. Zug fällt also aus. Unser Landkreis bietet ein Carsharing mit kleinen weißen Elektroautos an, ein kluges Konzept: Unter der Woche nutzen die Mitarbeiter der Kommunalverwaltung die Wagen, abends, am Wochenende und wenn sie zwischendurch nicht gebraucht werden, kann jeder sie per App mieten. Ich melde mich an, vergleiche und rechne, aber bis zum Hof meiner Eltern reicht der Akku nicht.
Also fahre ich mit Klapprad und S-Bahn nach Berlin, um einen benzinbetriebenen Mietwagen zu holen. Näher gibt es keinen. Das erste Auto öffnet sich nicht, als ich über das Handydisplay wische, und auch als ich einen Kundendienstmitarbeiter aus den USA am Telefon habe und er versucht Signale an das Auto vor mir zu senden, tut sich nichts. Also radle ich nochmal zwanzig Minuten zum nächsten Auto. Einen halben Tag bin ich unterwegs, bis wir unsere Kinder einladen können und die Fahrt überhaupt losgeht. Ganz schön viel Aufwand für 50 Liter Apfelsaft.
Brauche ich das Gefühl, mich ein bisschen zu quälen, um sicher zu sein, wirklich das Richtige zu tun? So aus links-masochistischer Veranlagung, weil es keinen Spaß machen kann, die Welt zu retten?
Uns begegnet im Alltag keine Abwehr, aber Mitleid. Bekannte bestehen darauf, unser Kind nach einer Feier nach Hause zu bringen, statt dass wir es abholen wie die anderen Eltern. „Ihr könnt doch nicht so spät noch mit dem Fahrrad kommen!“
Vor der Kita fragt ein kleiner Junge meinen Freund verblüfft: „Habt ihr wirklich kein Auto?“
„Nein.“
„Dann musst du auf auto.de gehen!“
Als ich mich an einem der letzten Oktobertage abends auf das Fahrrad setze, ist von dem sommerleichten Selbstbewusstsein nicht mehr viel übrig. Meine Tochter ist auf einem Kindergeburtstag. Es ist spät, es ist fast 0 Grad kalt und es könnte nicht dunkler sein. Jetzt ein Kind auf dem Gepäckträger 5 Kilometer durch Waldwege von einem alleinstehenden Haus zum anderen zu transportieren kommt mir irgendwie falsch vor. Ich erschrecke, als der Bewegungsmelder vor dem Haus angeht, und schaue schnell zum Fenster: Hat mich jemand gesehen? Wie eine Missionarin fühle ich mich nicht mehr, eher wie eine Anhängerin einer Geheimsekte, die sich dafür ein bisschen schämt.
Überhaupt geht mir das Sektenhafte, Selbstgewisse auf die Nerven.
Anfang 2022 sitzt mein Freund mit einem Bekannten am Feuer im Garten. Der Bekannte wohnt auf einem Hofprojekt in der Nähe und hat ein Elektromountainbike. Seine Mitbewohnerin hat sich gerade ein Auto gekauft, und er meint, sie würde sich selbst in die Tasche lügen und immer öfter das Auto nehmen. „Das mit dem Auto ist eine richtige Sucht“, sagt er. Sie reden sich in Rage. Bin ich hier bei den Anonymen Antiautomobilikern gelandet? Was ist denn so schlimm daran, ab und zu mal ein Auto zu nehmen? Das muss doch nicht bedeuten, sich nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Macht das überhaupt Sinn, was wir hier machen? Sich so krampfhaft an eigenen Kaufentscheidungen abarbeiten, dass keine Energie mehr bleibt, Forderungen ans große Ganze zu stellen?
Ich muss mit einer Person reden, die sich auskennt. Insgeheim suche ich nach jemandem, der mir sagt, dass ich es besser lasse, mich wegen meines persönlichen Konsumverhaltens so aufzureiben, dass ich stattdessen lieber Demos für bessere Regionalzugverbindungen organisieren sollte – zu denen ich dann vielleicht auch gemütlich mit dem Auto fahren kann.
Katja Diehl sitzt im Hoodie beim Frühstück in einem Hotel in Siegen, wo sie gestern eine Lesung hatte. Es waren Jugendliche von Fridays for Future dort, die an ihrer Schule eine AG zu öffentlichem Nahverkehr gegründet haben. Diehl ist gerade viel unterwegs, sie reist mit einem Sachbuch durch die Städte. Das Buch heißt „Autokorrektur“ und formuliert ihre Ideen von der Mobilitätswende. Nebenbei hat Diehl gerade gemeinsam mit dem Umweltaktivisten Tino Pfaff eine Petition gestartet, in der sie Sofortmaßnahmen für mehr Unabhängigkeit von Putins Öl fordert. Ein Tempolimit, ein Verbot von Inlandsflügen und drei Monate kostenlosen öffentlichen Nahverkehr zum Beispiel.
Normalerweise versuche ich so ein Interview persönlich zu führen. Weil mehr Nähe entsteht, wenn ich einer Person wirklich gegenübersitze. Aber vielleicht ist das – der Anspruch, sich für ein einstündiges Gespräch einen Tag lang in den Zug zu setzen – auch Teil des Problems. Katja Diehl hat vorgeschlagen, per Zoom zu sprechen.
Macht Autofahren abhängig, Frau Diehl?
„Das ist statistisch belegt“, sagt Katja Diehl. Wer sich ein Auto anschaffe, der mache bald immer mehr Fahrten damit, für die er vorher andere Verkehrsmittel benutzt habe. Fünfzig Prozent der Autowege im ländlichen Raum sind unter 5 Kilometer lang.
Folgt man Katja Diehl, dann hat das Auto uns dazu gebracht, die Welt aus seiner Perspektive zu sehen und die Welt nach seinen Bedürfnissen zu formen. Deswegen finden wir es nicht irritierend, wertvollen öffentlichen Platz in der Stadt als Lagerort privater Gegenstände zu nutzen. Sondern akzeptieren, dass jeder Parkplatz Raum in der Größe eines Kinderzimmers einnimmt. Auch das Landleben hat das Auto verändert. Weil alle das Auto zum großen Supermarkt nehmen, in dem man alles bekommt, müssen die kleinen Läden schließen und die Ortskerne veröden. Weil fast alle mit dem Auto unterwegs sind, fahren Busse fast leer und der Takt wird ausgedünnt.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Aber kann es Aufgabe von Einzelnen sein, dagegen anzuarbeiten? Müsste nicht die Politik den Rahmen setzen? Die Taktungen von öffentlichen Verkehrsmitteln erhöhen, Rufbusse einführen, Apps für Fahrgemeinschaften und mehr ländliche Carsharing-Angebote, Baugebiete ausweisen, die kompakt an Bahnhöfen liegen, statt zerfleddert auf den Äckern?
Natürlich gehe es immer um strukturelle Veränderungen, sagt Katja Diehl. Aber es brauche für solche Veränderungen auch Erzählungen davon, was möglich sei. Und was lebenswert.
Katja Diehl schaut mich an. Irgendwie, so klingt das, braucht es die Anti-Auto-Sekten, die Masochisten auf Klapprädern also doch, bis sich im Großen etwas ändert.
Und dann stellt Katja Diehl noch ihre Lieblingsfrage: „Wollen Sie Auto fahren oder müssen Sie?“
Will ich? Eigentlich nicht. Mit dem Rad anzuhalten, um einen Steinpilz am Wegesrand abzuschneiden, das ist das gute Leben. Mit drei Kindern auf dem Rücksitz auf der verregneten Autobahn einen Lkw zu überholen ist dagegen einer meiner größten Stressmomente. Ein Windstoß und ich lösche meine Familie aus, denke ich jedes Mal. Meine kleinste Tochter kotzt bei jeder längeren Autofahrt. Sie bittet uns immer, das Lastenfahrrad zu nehmen, wenn wir in einen Mietwagen steigen.
Es gibt genug gute Gründe dafür, dass Menschen Auto fahren müssen. Wegen schlechter Radwege oder fehlender Busse. Weil sie zu alt sind, um noch Rad zu fahren. Weil sie eine Behinderung haben und die öffentlichen Verkehrsmittel nicht barrierefrei gedacht sind. Weil sie als Schwarze Menschen in den öffentlichen Verkehrsmitteln in Brandenburg nicht sicher sind.
Auf diejenigen, die auf das Auto angewiesen sind, verweisen gern auch die, die es nicht brauchen – um zu sagen, dass alles so bleiben muss, wie es ist. Man kann sie aber auch als Argument dafür benutzen, dass sich etwas ändern muss. Moment. Jetzt klinge ich doch wie eine Missionarin.
Unsere Kinder jedenfalls haben wir missioniert. Noch fragt keins von ihnen nach einem Auto. Verkehrserziehung, das heißt ja in der Regel, seinem Kind beizubringen, dass es auf der Straße gefährlich ist. Aber vielleicht kann es auch bedeuten: neue Gewohnheiten schaffen. Die Lastenradfahrrad-Kiste ist ihre Höhle, hier hören sie Musik mit einem kleinen USB-Lautsprecher, schauen Mickey-Mouse-Hefte an und besprechen Geheimnisse, die ich auf dem Fahrersitz auf keinen Fall hören darf.
Mut macht mir, dass wir nicht die Einzigen sind. Da ist dieser Mann mit der grünen Regenjacke und dem Drahtkorb auf dem Gepäckträger. Manchmal hält er mit seinem Fahrrad neben meinem Lastenrad an, wenn ich auf den Schulbus warte. Er sagt mir, in der nächsten Stadt habe ein Fahrradladen eröffnet, der auch Lastenräder repariert. Gelobt sei die Gentrifizierung!, denke ich. Er ist mittlerweile im Rentenalter, aber er erzählt davon, wie er in seinem Betrieb lange dafür belächelt wurde, dass er nicht mit dem Auto kam. Er macht schon lange alle Wege mit dem Fahrrad, bei jedem Wetter. Das Auto steht zu Hause nur rum.
Wie so oft ist es nicht die großstädtische Ökoboheme, die die neuen Ideen in die Provinz trägt. Hinter Begriffen wie Kitchen Gardening und Repair Café stecken oft ziemlich alte Ideen. Gemüse aus dem eigenen Garten, das Reparieren kaputter Dinge.
Das Mobilitätsvorbild meiner Mecklenburger Kindheit waren im Rückblick keine Zugezogenen, sondern Edmund aus dem Nachbardorf. Er war einer der glücklichsten Menschen, die ich in meinem Leben kennengelernt habe. Er lebte allein in einem kleinen Haus und baute auf den Flächen drum herum an, was er und seine Tiere brauchten. Es gab sogar einen winzigen Getreideacker. Er hatte kein Auto, aber viele Freunde. Menschen, die ihn zum Schnaps einluden und zum Einkaufen mitnahmen. Außerdem gab es ja auch keinen Grund, sich sehr weit zu bewegen. Bis ins Nachbardorf fuhr Edmund auf seinem Fahrrad, eins dieser DDR-Räder, die klapprig aussehen, aber spätestens in den nuller Jahren auf den Flohmärkten zu Gold wurden, weil sie sich einfach immer weiter drehen.
Februar 2022. Drei Tage nach Putins Angriff auf die Ukraine nennt Christian Lindner die erneuerbaren Energien im Bundestag Freiheitsenergien. Ausgerechnet Lindner, der sich mit 19 Jahren seinen ersten Porsche kaufte. Selbst konservative Wirtschaftsmagazine diskutieren die Frage, ob wir Putin mit autofreien Tagen schaden können. Ich fühle mich genauso hilflos wie alle anderen, wenn ich die Bilder der zerbombten Häuser und der fliehenden Menschen sehe. Und ich glaube natürlich nicht, dass mein Verzicht auf ein Auto irgendwas verändert.
Aber ich glaube, dass sich etwas verändern muss. Ein grausamer Angriffskrieg beweist, wie stark unser fossiler Lebensstil uns abhängig macht von Verbrechern. Derselbe fossile Lebensstil, der zu einer Klimakrise führt, die nicht irgendwo in der Zukunft liegt, sondern heute schon Menschen tötet. Nach der Kernschmelze von Fukushima hat die Bundesregierung innerhalb von Wochen den Atomausstieg verkündet. Das, was gerade passiert, könnte ein Fukushima-Moment für die Mobilitätswende sein. Stattdessen machen Politiker Selfies vor Zapfsäulen, und selbst gut verdienende Pendler werden so entlastet werden, dass sie sich ihr täglich Benzin weiter leisten können.
Gut, dass ich die Ebay-Kleinanzeigen-App an dem regnerischen Morgen auf dem Klodeckel geschlossen habe.
An einem Abend im März 2022, die Tage werden gerade wieder langsam heller, schreit unsere Vierjährige im Wohnzimmer. Ich stehe nicht sofort auf, aber dann höre ich ihren Bruder rufen und seine Stimme klingt anders als sonst: Sie hat sich wehgetan! Als ich sie sehe, wird mir kurz schummrig. Das Blut läuft ihr die Stirn herunter, an der Nase vorbei bis zum Kinn. Es ist viel Blut. An der Stelle, aus der es kommt, klafft das Gewebe auseinander, wo das Loch im Inneren endet, kann man nicht erkennen.
Ich presse einen Waschlappen auf die Wunde, rufe meinem Freund Wortfetzen zu. Er reißt unsortierte Medikamentenkästen aus dem Schrank. Offene Pflasterpackungen fallen auf den Boden, dann rennt er die Treppe hoch zu unseren Nachbarn, Mullbinden besorgen.
Wäre das jetzt der Moment, für den wir ein verdammtes Auto haben müssten? Oder ist es, so laut wie mein Herz klopft, gerade richtig, dass ich mich auf keinen Fall hinter ein Steuer setze?
Mein Freund ruft einen Krankenwagen.
Ich drücke einen Verband gegen die Stirn meiner Tochter und wickle einen zweiten darum, dann halte ich sie auf dem Arm, während sie schluchzt. Als ich sie 15 Minuten später in den Rettungswagen hebe, habe ich dieses absurde Gefühl. Ich hoffe, es ist nicht schlimm. Aber irgendwie hoffe ich auch, dass es schlimm genug ist, dass wir den Krankenwagen gerufen haben. Dass uns niemand einen Vorwurf macht, dass wir nicht allein gekommen sind.
Die Ärztin, die die Wunde klebt, will uns über Nacht dabehalten. Am nächsten Tag steht mein Freund vor dem Eingang des Krankenhauses. Er hat das Klapprad in das Lastenfahrrad gepackt und hebt es jetzt raus. Klack, klack, und mein Rad steht auch bereit. Ich setze meine Tochter ins Fahrrad und gebe ihr einen Kuss neben ihr riesiges Pflaster. Dann fahren wir los.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren