Elitärer Literaturkanon: Kein „bok“ auf Faust I
Es wird viel über diversere Literatur im Schulunterricht diskutiert. Aber das Problem ist der Kanongedanke an sich.
M eine erste „Faust“-Ausgabe war ein kleines braunes Heft mit einer Illustration vorne drauf. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was die Illustration zeigte, aber die Farbe hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Mit einem Filzstift, ebenfalls braun und eine halbe Nuance dunkler, schrieb ich in Großbuchstaben das türkische Wort „bok“ vorne drauf.
Ich war in der elften Klasse und durchlebte eine Reihe von unangenehmen Gefühlen, als wir im Deutschunterricht gezwungen wurden, uns mit Goethes Drama über den Teufelspakt auseinanderzusetzen: Langeweile, Ekel, Wut. Nicht nur Wut auf diesen unleserlichen Text, dem ich keine zwei Zeilen lang folgen konnte, ohne mir peinlich und dumm vorzukommen. Sondern auch auf meinen Schlaumeier-Banknachbarn, der sich sichtlich bemühte, so zu tun, als würde er den Text verstehen. Ich kritzelte auch auf seine Ausgabe, er war sauer und übermalte meine Schrift, bis das „bok“ nicht mehr erkennbar war.
Was mein Mitschüler von damals wohl dazu sagen würde, dass ich heute aus freien Stücken an meinem Schreibtisch sitze und den „Faust I“ lese? Zugegeben, auch heute noch macht mir Goethes Sprache größtenteils zu schaffen, aber ich entdecke Dinge in dem Text, über die ich als 16-Jährige mit meiner Deutschlehrerin niemals hätte sprechen können: die homoerotische Ebene zwischen Faust und Mephisto etwa, oder die Pro-Choice-Dimension in Gretchens Kindsmord.
Hin und wieder finde ich sogar einen wunderschönen Satz, den ich mir ins Notizheft schreibe. Mein Auge hat sich über die Jahre eben verändert, im Gegensatz zu damals lese ich jetzt nicht nur freiwillig Bücher, sondern auch noch für mein Leben gern. Allerdings entdeckte ich diese Liebe eher zufällig und erst nach meiner Schulzeit, in der mir ein Klassiker nach dem anderen aufgezwungen und mir somit jegliches Interesse an Literatur früh versaut wurde.
Pflichtlektüre macht das Leben schwer
Nun wird der „Faust“ nach und nach aus den Lehrplänen der Bundesländer verbannt, zuletzt in Bayern. Während die Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar in einem offenen Brief an Markus Söder darum bat, die Entscheidung rückgängig zu machen, und noch ein paar weitere Philologen vehement auf die Aktualität der Themen in dem Klassiker hinwiesen, war von Kommentator_innen in der Presse in den vergangenen Monaten höchstens ein Schulterzucken zu vernehmen. Zu viele sind womöglich selbst gebeutelt von dem Drama, das seit 47 Jahren als Pflichtlektüre Schüler_innen das Leben schwer macht.
In der bürgerlichen Presse ist seit Jahren eine Auseinandersetzung mit der Kritik zu lesen, unser Kanon sei zu weiß, männlich, heteronormativ, eurozentristisch, und das alles stimmt natürlich. Aber das Problem sind gar nicht „Faust I“ oder Goethe, und auch nicht Schiller, Lessing und wie sie alle heißen. Das Problem ist der Kanongedanke an sich. Und dieses Problem wird sich nicht lösen, indem wir den Kanon um ein paar diverse Quotenautor_innen erweitern.
Denn der Kanon ist in sich eine elitäre Erzählung, die identitätsstiftend für bestimmte Schichten, ja gar für eine Nation ist, seine Bedeutung thront immer auch auf dem Stolz auf eine Zugehörigkeit zu diesen, und somit gehört er gänzlich abgeschafft – wenn wir denn den literarischen Werken auf ihm jemals gerecht werden wollen. Denn nicht nur die Schüler_innen müssen vom Kanon befreit werden, sondern auch die Texte selbst.
Wie schön wäre es, wenn wir uns in der Schule unsere Lektüren selbst aussuchen könnten? Selbst herausfinden, welche Text uns interessieren und dann lernen zu formulieren, warum das so ist? Zwanzig Jahre habe ich gebraucht, um zu verstehen, warum ich dachte, der „Faust“ sei „bok“ – und warum er es möglicherweise doch nicht ist.
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