Boykotte gegen Israel: Gut gemeint, aber falsch
Künstler:innen rufen weltweit zu Kulturboykotten gegen Israel auf. Damit schaden sie demokratischen Bewegungen eher, als sie zu unterstützen.

I n den vergangenen Monaten hat der Aufruf zum kulturellen Boykott Israels eine beispiellose Dynamik entwickelt – und markiert damit ein neues Kapitel im anhaltenden Streit um die israelische Politik. Was einst als vereinzeltes Rufen begann, ist zu einer weltweiten Bewegung geworden: Tausende Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und Kulturschaffende verweigern die Zusammenarbeit mit israelischen Institutionen, die sie als mitverantwortlich für die militärischen Aktionen im Gazastreifen betrachten.
Der Boykott betrifft Literatur, Theater, Wissenschaft, Kunst und beeinflusst weltweit Veranstaltungen und Kooperationen. Prominente Absagen und studentische Proteste haben kulturelle Räume in politische Schlachtfelder verwandelt – Ausdruck eines umfassenderen Versuchs, Israel kulturell zu isolieren und so politischen Druck aufzubauen.
ist Historiker, Schriftsteller und Essayist, lebt in Berlin. Er schreibt regelmäßig für die israelische Tageszeitung Haaretz.
Ihren vorläufigen Höhepunkt fand die Bewegung im bislang größten literarischen Boykott der Geschichte: Über 7.000 Schriftstellerinnen, Herausgeberinnen, Verlegerinnen und Künstlerinnen – darunter Sally Rooney, Arundhati Roy, Jhumpa Lahiri und Annie Ernaux – kündigten an, alle Verbindungen zu israelischen Kulturinstitutionen zu kappen, die sie als mitschuldig an staatlicher Gewalt ansehen.

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Der Protest reicht von Einzelinitiativen wie Caryl Churchills Rückzug von einer Londoner Theaterproduktion über studentische Kampagnen, die Universitäten auf fünf Kontinenten zum Abbruch akademischer Kooperationen bewegen wollen, bis hin zu einem wachsenden Künstlerinnen-Boykott des Sónar-Festivals in Barcelona.
So sehr diese Aktionen auch von echter Sorge um palästinensisches Leben und Menschenrechte motiviert sind, laufen sie Gefahr, eine komplexe Realität auf vereinfachende Parolen zu reduzieren und damit ihre eigenen Ziele zu untergraben. Der Kulturboykott stärkt illiberale, ultranationalistische Kräfte innerhalb Israels und schwächt gleichzeitig liberale Stimmen, die für Koexistenz und ein Ende des Krieges eintreten. So schadet der Boykott letztlich gerade jener palästinensischen Sache, die er zu fördern vorgibt.
Der Krieg im Gazastreifen ist eine humanitäre Katastrophe – ein Ausdruck nicht nur des moralischen und strategischen Scheiterns der derzeitigen israelischen Regierung, sondern auch der tiefen gesellschaftlichen Spaltung. Jenseits der militärischen Auseinandersetzung offenbart sich ein innerer Kampf um den Charakter des jüdischen Staates – ein Wertekonflikt, der eine unterschwellige, unbewaffnete Form des Bürgerkriegs befeuert.
Im Kern stehen sich zwei Visionen Israels gegenüber: eine liberale, säkulare Demokratie auf Basis bürgerlicher Rechte und eine ethnisch-religiöse Identität, getragen von messianischem Nationalismus. Auf der einen Seite steht die Zivilgesellschaft, entsetzt über das Ausmaß der Zerstörung, einen sofortigen Waffenstillstand und die sichere Rückkehr von 55 israelischen Geiseln fordernd. Auf der anderen Seite steht eine populistische, korruptionsbelastete Regierung, die ihre Macht durch Angst, Ressentiment und religiösen Fanatismus sichert – auch gegen den Willen eines Großteils der Bevölkerung.
Israelis wollen ein Ende des Krieges
Umfragen zeigen, dass fast zwei Drittel der Israelis ein Ende des Krieges und ein umfassendes Geiselabkommen befürworten. Doch Premierminister Benjamin Netanjahu hält den Konflikt aus persönlichem Machtkalkül am Leben, so will er seine Regierung so lange wie möglich erhalten und dadurch strafrechtliche Prozesse verzögern. Damit untergräbt er nicht nur Israels demokratische Institutionen, sondern verschärft die sozialen Spannungen im Inneren.
Der politische Kampf um ein Kriegsende ist somit Teil eines umfassenderen Ringens um Israels Demokratie. Dieses innere Ringen – mit all seinen komplexen und widersprüchlichen Dynamiken – zu verstehen, ist entscheidend für westliche Liberale, die sich für das Ende der Gewalt und eine gerechtere Zukunft beider Völker einsetzen wollen. Ohne dieses Verständnis riskieren Boykottaktionen, genau die Kräfte zu stärken, die dem Frieden im Weg stehen.
Wie in vielen westlichen Demokratien steht auch in Israel die Zivilgesellschaft unter Druck. Statt globale Solidarität zu fördern, begünstigt der Boykott jene Kräfte, die Israels westliche Bindungen kappen wollen – Gruppen, die Universalismus und Menschenrechte ablehnen. Er spielt jenen in die Hände, die westliche Kultur als dekadent verteufeln und Israels Isolation als strategisches Ziel betrachten.
Kulturschaffende sollten daher nicht die wenigen liberalen Stimmen in Israel boykottieren, sondern sie aktiv unterstützen – denn nur sie sind durch den Boykott tatsächlich bedroht. Es sind israelische Autorinnen, Filmemacherinnen, Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen, die seit Jahrzehnten für Frieden, Gewaltlosigkeit und Menschenrechte eintreten – oft gegen die eigene Regierung. Ihre Isolation bedeutet das Verstummen der letzten friedenspolitischen Stimmen des Landes.
Kulturelle Boykotte haben selten autoritäre Regime gestürzt – sie haben aber oft jene isoliert, die im Inneren am ehesten Veränderung bewirken konnten. Kultur ist der Raum, in dem Differenz, Kritik und Visionen überleben. Boykott ist kein Widerstand – sondern ein Rückzug, der die Hoffnung auf Verständigung gefährdet. Nicht die Verweigerung, sondern die Aufrechterhaltung des Dialogs schafft die Voraussetzung für gegenseitige Anerkennung und Respekt.
Der Israel-Palästina-Konflikt wird vor allem in linken Kreisen kontrovers diskutiert. Auch in der taz existieren dazu teils grundverschiedene Positionen. In diesem Schwerpunkt finden Sie alle Kommentare und Debattenbeiträge zum Thema „Nahost“.
Was Israelis und Palästinenserinnen heute brauchen, ist differenzierte, prinzipientreue und mutige westliche Unterstützung. Ihr Kampf ist Ausdruck einer globalen Krise: Die liberale Demokratie ist weltweit unter Beschuss. Ohne echte, internationale Solidarität der Freiheitsbefürworter droht ihr Scheitern. Es braucht ein neues Engagement – und das jenseits von Vereinfachung, jenseits von Polarisierung. Wenn Intellektuelle und Künstlerinnen diese Verantwortung nicht tragen können – wie sollen wir das dann von der Politik erwarten?
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