Baerbock will ins Kanzleramt: Sie bestimmt
Annalena Baerbock formuliert ihre Ambitionen aufs Kanzleramt. Die Schnappatmung bei männlichen Analytikern ist bemerkenswert.
D ass Annalena Baerbock beteuert, sich das Kanzleramt zuzutrauen, hat in etwa den Nachrichtenwert der Tatsache, dass sich viele Deutsche einen Weihnachtsbaum ins Wohnzimmer stellen. Natürlich muss Baerbock sagen, dass sie das Amt ausfüllen könnte, was denn sonst? Puh, ey, nö, Kanzleramt, das ist mir ehrlich gesagt eine Nummer zu groß?
Das wäre dann doch eine erstaunliche Wendung, nachdem die Grünen seit über einem Jahr betonen, das Land führen und die Union im Kampf um Platz eins in Deutschland herausfordern zu wollen. Nein, wenn die Grünen die KanzlerkandidatInnen-Frage möglichst lange offenhalten wollen, was sie wollen, dann muss auch Baerbock das tun, was ihr Co-Chef Robert Habeck im Sommer schon tat, nämlich Chuzpe demonstrieren.
Aber ein paar Dinge sind an der Causa dann doch interessant. Es ist zum Beispiel bemerkenswert, welche Schnappatmung es im Jahr 2020 noch auslöst, wenn eine starke Frau einen Machtanspruch anmeldet. Kaum machten Baerbocks Sätze auf Twitter die Runde, feuerten männliche Westentaschen-Analytiker im Dutzend ihren Unfug ins Netz.
Eine Grüne! Eine Frau! Das ist doch die, die mal Kobold statt Kobalt gesagt, sich also vor laufender Kamera versprochen hat! So weit, so blöd. Diese, nennen wir sie: liberalkonservative bis neurechte Trollbasis muss jetzt ganz, ganz tapfer sein. Die Grünen haben nämlich in der Tat eine – wenn auch sehr kleine – Chance aufs Kanzleramt. Wenn die CDU tatsächlich so dumm ist, Friedrich Merz Mitte Januar zu ihrem Vorsitzenden zu machen, ist alles möglich.
Kampf um die Merkel-WählerInnen
Der von sich total überzeugte Neoliberale produziert am laufenden Band Fehler, die die modern denkende bürgerliche Mitte nachhaltig verstören könnten. Würden aufgeschlossene und ökoaffine Konservative ihn wählen – oder doch lieber mit den versöhnlich daherkommenden Grünen flirten? Schwer zu sagen. Der Kampf um die Merkel-WählerInnen, die mit beinhartem Marktliberalismus ebenso fremdeln wie mit Merz' schneidiger Ich-Bezogenheit, wäre offen.
Es ist gut denkbar, dass ein Kanzlerkandidat Merz die Union in die Nähe der 30-Prozent-Marke drückt, vielleicht sogar darunter. Damit wäre das grüne Traumszenario Wirklichkeit: eine Aufholjagd, in der die Grünen die Rolle des ambitionierten Verfolgers hätten. Selbst ein grün-rot-rotes Bündnis könnte mit Merz in Reichweite kommen. Die Klärung der K-Frage der Grünen ist deshalb mehr als reine Eigen-PR.
Annalena Baerbocks Bedeutung in diesem Prozess kann man gar nicht überschätzen. Sie bestimmt, wo es langgeht. Wenn sie den Job der Kanzlerkandidatin will, wird ihn Robert Habeck ihr nicht verwehren können und wohl auch nicht verwehren wollen. Nicht nur, weil sie eine Frau ist und in einer feministischen Partei den ersten Zugriff hat, sondern auch, weil sie einen innerparteilichen Machtkampf gegen Habeck gewinnen würde. Baerbocks innergrüne Fanbasis ist groß und schlagkräftig.
Im Dienst der Sache
Nun braucht man aber Baerbock in ihrer kühlen Nüchternheit mit Parteilogik nicht zu kommen, sie blickt auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Und dort gilt die Frage: Wer ist am besten geeignet, Mehrheiten zu gewinnen? Das ist die entscheidende Kategorie, für beide in der Grünen-Spitze. Und Baerbock ist in der Lage, ihre persönlichen Ambitionen in den Dienst der Sache zu stellen. Auch das unterscheidet sie von einem Friedrich Merz.
Wenn Habeck nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz in Umfragen zur Beliebtheit von PolitikerInnen weit vor ihr liegt, wird sie klug genug sein, das zu wägen. Noch etwas kommt hinzu: Manches spricht dafür, dass die Grünen auf einen „Yes, we can“-Wahlkampf à la Barack Obama setzen. Sie verbinden linksliberalen Wandel mit dem Versprechen auf eine gute Zukunft – und beschwören gleichzeitig die Notwendigkeit, das Verbindende in der Gesellschaft zu suchen.
Wer verkörpert das am besten? Selbst CDU-Politiker bescheinigen Habeck ein Charisma, das man habe oder nicht, aber jedenfalls nicht erlernen könne. Die Grünen nehmen den Mund mit ihrem Versprechen, das Land führen zu wollen, sehr voll. Politik ist oft genug eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Wer ein großes Rad drehen will, muss kräftig auf den Gong schlagen können.
Wenn die Grünen ihren Wahlkampf so oder ähnlich anlegen, wird sich Baerbock überlegen müssen, ob Habeck das nicht besser kann als sie.
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