Krieg in Nahost: Die Kinder vom 7. Oktober
Über den Hamas-Angriff auf Israel kursieren seit Monaten unbelegte Behauptungen. Ein Faktencheck zum Schicksal der israelischen Kinder an jenem Tag.
Auf schriftliche Nachfrage der taz, wo Baerbock das Video gesehen habe, antwortete ein Sprecher lediglich, es gebe „überhaupt keinen Zweifel, dass die Hamas bei ihrem Terrorangriff auf Israel Frauen missbraucht und vergewaltigt“ habe. Woher allerdings das erwähnte Video stammen soll, sagte er nicht.
Der Angriff der Hamas auf Israel hat weltweit Entsetzen und Abscheu hervorgerufen. Rund 350 Soldaten und Polizisten und mehr als 800 Zivilisten wurden getötet, sowohl Israelis als auch Ausländer. Mehr als 250 Menschen, mehrheitlich Zivilisten, wurden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Die Täter selbst dokumentierten ihr Massaker mit Kameras, die sie dabeihatten.
Die israelische Regierung fertigte aus diesen und anderen Aufnahmen später einen Videozusammenschnitt, den sie Journalisten und anderen vorführte, unter anderem in israelischen Botschaften weltweit. Überlebende und Rettungskräfte berichteten über die Taten und Journalisten recherchierten. Doch schon von Anfang an mischten sich in die Berichte über nachgewiesene Verbrechen Behauptungen, die nie belegt wurden – und offensichtliche Gräuelpropaganda.
Auch Medien gaben Falschbehauptungen wieder
Einige Propagandalügen sind selbst Monate später noch im Umlauf. So behauptete der FDP-Abgeordnete Marcus Faber im März im Bundestag unwidersprochen, beim Angriff der Hamas seien „vierzig Babys auf brutalste Art und Weise getötet“ worden. Die Babys seien „teilweise bei lebendigem Leib ins Feuer geschmissen“ worden, „während ihre Mütter dabei zugucken mussten“. Die Mütter seien „danach selber vergewaltigt“ worden. Nichts davon ist wahr.
Auch andere erfundene Geschichten über Babys, die geköpft oder im Ofen verbrannt worden sein sollen, über gefolterte Kinder und eine schwangere Frau, deren Fötus aus dem Bauch herausgeschnitten wurde, wurden von hochrangigen Stellen verbreitet, bis hin zum US-Präsidenten. Auch Medien gaben die Geschichten wieder. Bis heute sind viele Artikel mit nachweislich falschen Behauptungen online – auch in dieser Zeitung.
Auf diese Geschichten folgte oft als Schlussfolgerung: kein Waffenstillstand, keine Verhandlungen mit solchen Monstern! Wer für diese Gräueltaten gegen Kinder verantwortlich ist, muss vernichtet werden.
Besonders viel Abscheu erregten Berichte über angeblich systematische Vergewaltigungen am 7. Oktober. Das Ausmaß der Sexualverbrechen an jenem Tag wurde inzwischen von der UN-Sonderbeauftragten für sexualisierte Gewalt in Konflikten ausführlich untersucht. Sie fand zahlreiche Indizien für verschiedene Formen von sexualisierter Gewalt. Einige Fälle von Vergewaltigung, über die berichtet worden war, wertete sie als naheliegend, während sie andere als unbewiesen oder falsch einstufte.
Unparteiische Untersuchungen fehlen
Unparteiische Untersuchungen zum Schicksal der Kinder, die am 7. Oktober starben, fehlen dagegen bis heute. Über etliche Details herrscht weiter Unklarheit, auch weil viele Opfer ohne forensische Beweissicherung begraben wurden. Dennoch lässt sich anhand von amtlichen und von Wissenschaftlern erstellten Datenbanken sowie von Interviews mit Überlebenden und Familienmitgliedern, die in israelischen Medien veröffentlicht wurden, das Schicksal der Kinder nachzeichnen.
Es steht fest, dass beim Angriff der Hamas insgesamt 37 Minderjährige ums Leben gekommen sind: drei Babys (0 bis 2 Jahre alt), zehn Kinder (5 bis 12) und 24 Jugendliche (13 bis 18). Zwei Babys, 20 Kinder und 13 Jugendliche wurden in den Gazastreifen entführt – allein das ist ein schweres Kriegsverbrechen. Fast alle von ihnen wurden Ende November freigelassen – außer zwei Brüdern, neun Monate und vier Jahre alt. Beide sollen laut Hamas in Gaza durch israelische Bomben ums Leben gekommen sein; Israel hat das nicht bestätigt.
Die Verantwortung für all diese Toten liegt bei der Hamas. Dennoch entspricht die Realität nicht der anfangs aus Israel verbreiteten Version. Belegt ist, dass am 7. Oktober vier Kinder und drei Jugendliche durch palästinensisches Raketenfeuer getötet wurden – hauptsächlich in beduinischen Gemeinden fernab des Invasionsgeschehens, wo es weder Schutzräume noch Raketenalarm gab. Das jüngste Opfer war ein neugeborenes Mädchen, dessen Schicksal erst nach einem Monat bekannt wurde: Eine beduinische Frau war auf dem Weg ins Krankenhaus, um zu entbinden, als das Auto der Familie beschossen wurde. Sie wurde im Bauch getroffen, das Baby verletzt. Nachdem es zur Welt kam, starb es wenige Stunden später.
Zwei Babys, zwei Kinder und drei Jugendliche kamen in Schutzräumen ums Leben – entweder durch Schüsse von außen oder weil sie erstickten, nachdem ihre Häuser in Brand gesetzt wurden. Zwei Kinder und vierzehn Jugendliche wurden offenbar gezielt aus der Nähe getötet. Zwei Kinder wurden entführt und starben am gleichen Tag durch israelisches Panzerfeuer.
Falschbehauptungen zu Propagandazwecken
Wie vier weitere Jugendliche ums Leben kamen, ist noch immer unklar – einschließlich einer 17-jährigen Behinderten im Rollstuhl. Es ist wahrscheinlich, dass auch sie gezielt von Angreifern getötet wurden. Anders als bei einigen erwachsenen Opfern gibt es derzeit aber keine Belege dafür, dass auch nur einer der 37 Minderjährigen geköpft, gefoltert oder vergewaltigt wurde.
Woher aber kamen die falschen Gräuelgeschichten? Die meisten stammten von einzelnen israelischen Soldaten sowie von Mitgliedern der ultraorthodoxen Gruppe Zaka – einer Freiwilligenorganisation, die Leichen von Gewaltopfern einsammelt.
Warum sie falsche Behauptungen in die Welt setzten, darüber kann nur spekuliert werden. Dass zahlreiche israelische Verantwortliche sie weiterverbreiten, diente aber eindeutig propagandistischen Zwecken. So wurde ein extrem brutales Vorgehen Israels gegen die palästinensische Bevölkerung moralisch vertretbar gemacht.
Die Folgen zeigen sich im Gazastreifen. Seit dem 8. Oktober wurden mehr als 36.000 Todesopfer gemeldet, um die 10.000 Menschen werden noch vermisst. Bis Ende April konnten durch medizinisches Personal, selbst Opfer der israelischen Invasion, der Tod von knapp 8.000 Kindern und Jugendlichen mit Sicherheit verifiziert werden. Die tatsächliche Zahl dürfte noch deutlich höher liegen.
Ehrliche Aufarbeitung der Gewalt weit entfernt
In vielen Fällen waren die minderjährigen Opfer keine zufälligen Kollateralschäden, sondern eine einkalkulierte, vielleicht sogar gewollte Konsequenz des massiven Bombardements durch die israelische Armee. Dies haben Investigativjournalisten des britischen Guardian und des israelischen Magazins +972 in einer gemeinsamen Recherche dargestellt.
Erst vergangene Woche gingen verifizierte Aufnahmen von durch Bomben verkohlte Kinderleichen aus Rafah um die Welt. Besonders das Bild eines schreienden Mannes, der ein kopfloses Baby in den Händen hält, sorgte für Empörung. Die Drohung des israelischen Premierministers am Abend des 7. Oktobers scheint sich bewahrheitet zu haben. Benjamin Netanjahu sagte damals: „Die Rache für das Blut eines kleinen Kindes hat sich Satan noch nicht ausgedacht.“
Angesichts dieser Situation ist es für die Mehrheit der Palästinenser schwer zu glauben, dass die Hamas und andere Gruppen aus Gaza schreckliche Taten begangen haben – Taten, die von keinem Recht auf Widerstand gedeckt sind. Behauptungen der Hamas, ihre Kämpfer hätten Kinder nicht absichtlich getötet, sind nachweislich falsch.
Dass staatliche israelische Stellen in einigen Fällen bewusst Fake News verbreitet haben und zahlreiche Medien ihre fehlerhafte Berichterstattung bis heute nicht korrigiert haben, spielt indes all jenen in die Hände, die die Brutalität der Hamas in Gänze leugnen. Solange es im Gazastreifen keinen Waffenstillstand gibt und die Verbrechen der Hamas – real oder fabriziert – weiterhin benutzt werden, um andere Verbrechen zu rechtfertigen, scheint eine ehrliche Aufarbeitung der Gewalt beider Kriegsparteien weit entfernt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ost-Preise nur für Wessis
Nur zu Besuch
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Etgar Keret über Boykotte und Literatur
„Wir erleben gerade Dummheit, durch die Bank“
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Verzicht auf Pädagogen in Bremer Kitas
Der Gärtner und die Yogalehrerin sollen einspringen
Grüne Parteitagsbeschlüsse
Gerade noch mal abgeräumt