Nach dem Krieg: Wenn Putin siegt
Der Kreml darf keine Chance haben, international wieder hoffähig zu werden, bevor die Machthaber in Moskau eine demokratische Umwandlung vollziehen.
K önnte Putin aus diesem Krieg in der Ukraine als Sieger hervorgehen und danach noch viele Jahre lang regieren, wobei er Russland völlig unter Kontrolle hielte und den Westen immer wieder angriffe? Schon die Frage allein erscheint heute ketzerisch. Trotzdem lohnt es sich, über sie nachzudenken, damit die Realität nach diesem Krieg für Westeuropa nicht wieder zu genau solch einer Überraschung wird, wie es sie am Anfang gab.
Wir kommen um die wichtigste Frage nicht herum: Wie müsste denn eine militärische Niederlage Putins aussehen? Eine völlige Niederlage für Putin könnte nämlich nur darin bestehen, dass die ukrainische Armee Donezk, Luhansk und die Krim befreite. Ist so etwas in absehbarer Zeit denkbar?
Nichts deutet vorläufig darauf hin. Selbst wenn es Putin auch nur gelingt, den Donbass unter seiner Kontrolle zu behalten, kann er das allein als Sieg hinstellen, denn rein formell betrachtet hätte sich die von Russland kontrollierte Zone innerhalb der Ukraine dadurch ausgeweitet.
Unterdessen folgt aus Interviews und aus Erklärungen der ukrainischen Führung, vor allem von Präsident Selenski selbst, dass ein Befreiungsfeldzug auf der Krim überhaupt nicht auf der Tagesordnung steht. Und es redet auch niemand im Ernst davon, die Regionen des Donbass von den russischen Besatzern zu befreien, die schon vor dem 24. Februar 2022 nicht mehr von der Ukraine kontrolliert wurden.
So hat Präsident Wolodimir Selenski bei einem Auftritt im staatlichen Fensehen am 4. April erklärt, dass es schon ein Sieg für die Ukraine wäre, wenn sich Russland auf die vor dem 24. Februar 2022 eingenommenen Positionen zurückzöge. Sollten die Streitkräfte der Ukraine versuchen, die 2014 besetzten Teile des Donbass zu befreien, „könnten wir auf einen Schlag bis zu 50.000 unserer kampftüchtigsten Armeeangehörigen verlieren“.
Die Lage verschlechtert sich
Selenskis Einschätzung erscheint sogar leicht optimistisch, da sich die Kampfhandlungen jetzt doch auf dem Territorium abspielen, das sich noch vor dem 24. Februar fest in den Händen der Ukraine befand, während sich die russische Armee, wenn auch mit großen Verlusten, auf die Grenzen der Regierungsbezirke Donezk und Luhansk zubewegt und dabei weiterhin Cherson, Melitopol und andere Ortschaften im Südosten der Ukraine besetzt hält.
In den letzten Wochen hat sich die Situation noch wesentlich verschlechtert. Der Abzug der russischen Truppen aus der Umgebung von Kiew, den Putin als eine Geste des guten Willens ausgegeben hatte, verwandelte sich für das Image seiner Armee in eine Katastrophe. In den zurückgelassenen Städten entdeckte man die Spuren zahlreicher Kriegsverbrechen – von Morden, Vergewaltigungen, Folter, Plünderungen. Die Tragödie von Butscha hat die Welt aufgewühlt.
Im Kreml aber hat man allem Anschein nach aus dieser Geschichte ganz andere Schlüsse gezogen: Um weitere Skandale dieser Art zu vermeiden, hat man beschlossen, einmal eroberte ukrainische Gebiete nie mehr zu verlassen – jedenfalls nicht freiwillig. Deshalb werden in den nunmehr besetzten Gebieten alle Maßnahmen ergriffen, um sie Russland möglichst schnell einzuverleiben. So gesehen ist ein sowohl militärischer als auch politischer Sieg Putins leider schon jetzt eine realistischere Perspektive als seine Niederlage.
Den gesamten ukrainischen Staat in so etwas wie das heutige Belarus zu verwandeln, ist zwar nicht mehr möglich. Aber eine Verpflichtung der Ukraine zur Neutralität und ihr Verzicht auf einen künftigen Nato-Beitritt erscheinen durchaus möglich. Und das alles wird man den Bürger_innen Russlands als Resultat einer erfolgreichen militärischen Aktion verkaufen – als die berühmt-berüchtigte Entmilitarisierung und Entnazifizierung.
Jegliche Erweiterung der von Russland kontrollierten Gebiete innerhalb der Ukraine lässt sich erst recht als Sieg ausgeben, wie unangemessen der für diese territorialen Gewinne gezahlte Preis sich auch ausnehmen mag. Zumal Russlands reale Verluste, die menschlichen wie die materiellen, den meisten seiner Bürger_innen verborgen bleiben – jedenfalls bis zum Fall des Putin’schen Regimes.
Der Krieg könnte Putins Macht stärken
Anstatt zur Schwächung oder gar zum Zusammenbruch dieses Regimes kann der aktuelle Krieg leider immer noch zu dessen Festigung führen, es in Form einer noch grausameren, offen faschistischen Diktatur stabilisieren. In der wird dann die bedingungs- und grenzenlose Macht des Führers nicht mehr durch Wahlen oder deren Imitation legalisiert, sondern durch den errungenen Sieg und die damit verbundenen territorialen Gewinne.
Wie realistisch die Hoffnungen auf einen unausweichlichen Zusammenbruch der Wirtschaft und einen darauf folgenden Zusammenbruch von Putins System sind, kann man schwer einschätzen. Die Ansichten der jeweiligen Experten über die Perspektiven der russischen Wirtschaft hängen stark von deren Beziehungen zu diesem Putin-Regime ab.
Auf jeden Fall hat Putin noch einige Monate vor sich, bis die ökonomischen Schwierigkeiten für die Bevölkerung und die Machthaber zu einem wirklich großen Problem werden. Allem Anschein nach hofft er, dass man nach der unausweichlichen Unterzeichnung eines Friedensvertrags zu ihm genehmen Bedingungen gewisse Sanktionen gegen ihn aufhebt (was er ebenfalls als seinen Sieg ausgeben wird).
Und dass in Europa dann die Anhänger der Versöhnung und des Handels mit Russland aktiv werden, was wiederum erlauben könnte, das Regelwerk der Sanktionen weiter aufzuweichen. Höchstwahrscheinlich hofft Putin, einem totalen Zusammenbruch der russischen Wirtschaft zuvorzukommen. Vielleicht sieht er darüber hinaus sogar eine Chance, die russische Wirtschaft auf Dauer autark zu machen, sie noch weiter den Gesetzen des Marktes zu entfremden und der Kontrolle des Staates noch stärker zu unterwerfen.
Protest ist nicht zu erwarten
Man darf nicht vergessen, dass auch bei noch viel schlechteren Lebensbedingungen in Russland kaum mit sozialen Protesten zu rechnen ist. Die Vorstellung, Putin könne sein Regime sogar im Falle von Hungersnöten mit Polizeiterror aufrechterhalten, erscheint durchaus realistisch. Dass die Not der Bevölkerung Putin nicht im Geringsten interessiert, zeigen die Erfahrungen aus dem Ukrainekrieg.
Mit derselben Kaltblütigkeit, mit der er den Beschuss friedlicher ukrainischer Städte anordnete, kann er auch Waffen aller Art gegen russische Bürger einsetzen, sobald die Proteste Massencharakter annehmen und für das Regime gefährlich werden. Die westliche Welt und vor allem Europa müssen sich auf eine zweifellos lang anhaltende, ideologische, ökonomische und sogar militärische Konfrontation mit Putins autoritärem, antidemokratischem, archaischem und konservativem Regime gefasst machen.
ist 1976 in Almaty geboren, oppositioneller russischer Publizist und Politologe. Er hat viele Jahre als Kolumnist, Kommentator, Herausgeber und Berater für führende russische Medien gearbeitet. Nach seiner zweiten Verurteilung wegen “Beleidigung der Staatsgewalt“ 2020 verließ er Russland und lebt jetzt in Litauen. Dort arbeitet er weiter als Journalist und Russland-Experte. Er kooperiert mit der Heinrich-Böll-Stiftung.
Wir dürfen nicht damit rechnen, dass es sich bald selbst abschafft, ja nicht einmal damit, dass Russland nach dem Zusammenbruch dieses Regimes rasch ein normales Land würde: schon jetzt haben wir es mit einem System zu tun, das seit 23 Jahren mehr oder weniger erfolgreich existiert.
Zu allem Überfluss wird aus dem blutigen Krieg in der Ukraine eine weitere, Putin gegenüber bedingungslos loyale Personengruppe unter den Bürgern Russlands hervorgehen: die Veteranen dieses Feldzugs, für die jede Alternative zum Putinismus nur eines bedeuten kann: Strafe für die von ihnen begangenen Kriegsverbrechen. Diese Leute werden bei jeder Terrorkampagne innerhalb Russlands den Stoßtrupp des Putinismus bilden und sich für den Erhalt dieses Systems einsetzen – sogar nach Putins Abgang.
Aber auch ohne die mit Blut besudelten Veteranen des Ukrainekrieges sehen wir uns in Russland ganzen Generationen gegenüber, die unter Putin aufgewachsen sind oder zumindest einen entscheidenden Teil ihres Erwachsenenlebens unter ihm verbracht haben. Es wäre naiv zu erwarten, dass sich ohne aktives Einwirken von außen die Massen schnell enttäuscht von ihm abwenden.
Rückendeckung von Veteranen
Daran müssen wir arbeiten, dafür müssen wir kämpfen. Und zu dieser Arbeit mit der russischen Gesellschaft müssen wir heute und morgen die talentiertesten und von deren Sinn überzeugtesten Spezialisten hinzuziehen. An Mitteln dafür dürfen wir nicht sparen. Denn hier handelt es sich schließlich um Investitionen in die Sicherheit und Stabilität Europas und der Welt in naher und ferner Zukunft.
Europa und die gesamte demokratische Welt müssen sich ihre gegenwärtige Unduldsamkeit gegenüber dem Putinismus bewahren und dürfen Putin auch nach dem Ende des Krieges nicht die geringste Chance einräumen, in der zivilisierten Welt wieder hoffähig zu werden.
Auch die kleinste Inkonsequenz dem Kreml gegenüber, auch die kleinsten Konzessionen an ihn nach dem Ende der Kampfhandlungen werden Putins Regime nicht nur stärken, sondern auch seine Existenz noch verlängern und alle demoralisieren, die im Kampf gegen ihn ihre Freiheit und ihr Leben riskieren. Das zwangsläufige Ende der Kriegshandlungen in der Ukraine bedeutet keineswegs das Ende der Krise auf diesem Kontinent, sondern erlaubt lediglich eine Pause vor ihrer nächsten Phase.
Solange Putin in Russland regiert, ist ein neuer Krieg unvermeidlich. Und sogar nach seinem Abgang dürfen wir uns auf keinen Fall mit kosmetischen Reparaturen zufriedengeben. Europa hat das Recht und die Pflicht, von neuen Machthabern in Russland tiefgreifende demokratische Umgestaltungen zu fordern. Dazu gehören die Entfernung von politisch belasteten Mitarbeiter_innen aus dem öffentlichen Dienst, die Bestrafung von Kriegsverbrechern und die Abschaffung von repressiven Gesetzen.
Dieser Artikel eröffnet zugleich ein Dossier der Heinrich-Böll-Stiftung mit Beiträgen von Partner*innen aus der russischen Zivilgesellschaft: boell.de/russlands-andere-stimmen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
Einigung zwischen Union und SPD
Vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video