Reiseboykott für Ostdeutschland: Reisende, meidet Sachsen!
Vor 100 Jahren rief der Satiriker Tucholsky zum Reiseboykott für das präfaschistische Bayern auf. Lässt sich das auf das heutige Sachsen übertragen?
Reisen bildet. Es stellt Vorurteile infrage und schafft im Idealfall ein besseres Verständnis für andere Kulturen. Aber kann auch gezieltes Nichtreisen die Welt zu einem besseren Ort machen? Kann also der Reiseverzicht, den uns die Pandemie aufnötigt, künftig als freie Entscheidung gegen bestimmte Regionen sinnvoll sein?
Vor 100 Jahren, am 27. Januar 1921, veröffentlichte Ignaz Wrobel in der Wochenzeitschrift Die Weltbühne einen wütenden Artikel (heute würde man sagen: Rant), dessen Titel einschlug wie eine Bombe: „Reisende, meidet Bayern!“ Darin geht es um die restriktive bayerische Einreisepolitik, mit der Ministerpräsident Gustav von Kahr damals eine Sonderstellung Bayerns im Deutschen Reich behaupten wollte:
„Sie verhängt über die Zureisenden Verordnungen und Strafen, schreibt den Reisenden eine Meldefrist vor, verlangt Einreisebewilligungen, die schwerer zu haben sind als ein Pass nach Nikaragua.“ Wrobel empfiehlt seinen Lesern: „Fahrt nicht mehr nach Bayern, wenn man euch schikaniert! Boykottiert es. […] Wollt ihr euer Geld Leuten in den Rachen werfen, die euch belästigen?“
Ignaz Wrobel ist ein Pseudonym Kurt Tucholskys. Er nutzt es gern für beißende Kommentare, „weil mir der Name Ignaz besonders hässlich erschien, kratzbürstig und ganz und gar abscheulich“. Zugleich ist Ignaz Wrobel Tucholskys schärfste Waffe gegen den aufkeimenden Faschismus. Auch in seiner Reisewarnung geht es nur vordergründig um lästige Bürokratie. Eigentliches Thema ist das Bestreben von Kahr und seiner Bayerischen Volkspartei, das Land zur protofaschistischen „Ordnungszelle“ auszubauen.
Begonnen hatte die Transformation mit der blutigen Zerschlagung der Bayerischen Räterepublik am 1./2. Mai 1919 durch revanchistische Freikorps-Einheiten, die teilweise schon das Hakenkreuz auf den Helmen trugen.
Wer konnte, floh
Herbeordert hatte sie der abgesetzte sozialdemokratische Ministerpräsident Johannes Hoffmann mit Unterstützung der Reichsregierung unter Friedrich Ebert. Ergebnis: Mehr als tausend tote Revolutionäre auf den Straßen Münchens und insgesamt 520 Jahre Gefängnis für die überlebenden Köpfe der Räterepublik.
Wer konnte, floh ins Ausland oder andere Teile des Reiches, andere wurden ausgewiesen – darunter die große Mehrzahl jener Schriftsteller, Maler und Theaterschaffenden, die seit der Jahrhundertwende Münchens Ruf als besonders freiheitliche Kulturstadt geprägt hatten.
Ob avantgardistische Kunst, radikales Cabaret, freie Liebe oder offen gelebte Homosexualität – was man für die Zeit der Weimarer Republik hauptsächlich mit Berlin assoziiert, war in der Schwabinger Boheme schon vor dem Ersten Weltkrieg gelebte Realität gewesen. So wundert es nicht, dass die Revolution in München zwei Tage früher als in Berlin ausgerufen wurde – am späten Nachmittag des 7. Novembers 1918 vom anarchistischen Dichter Erich Mühsam und ein paar Stunden später von dessen USPD-Widersacher Kurt Eisner. Letzterer ließ sich auch gleich zum ersten Ministerpräsidenten des neuen Freistaats ausrufen und hatte dieses Amt inne, bis er am 21. Februar 1919 vom antisemitischen Attentäter Anton Graf von Arco ermordet wurde.
Ersterer wurde zum Spiritus Rector der Bayerischen Räterepublik, überlebte deren blutiges Ende nur, weil er zu diesem Zeitpunkt bereits in Haft saß, schrieb aus der Zelle heraus ebenfalls für Tucholskys Stammblatt Weltbühne und begab sich nach seiner Entlassung direkt nach Berlin.
Münchens Ruf als Kulturstadt war schon dahin, als nach dem gescheiterten Putsch im März 1920 Gustav von Kahr Nachfolger Hoffmanns im Amt des Ministerpräsidenten wurde. Er hielt die völkischen Einwohnerwehren, die nach dem Putsch reichsweit aufgelöst wurden, in Bayern weiter am Leben und veranlasste Massenausweisungen von vormals aus Osteuropa eingewanderten Juden. 1923 wurde er zum Generalstaatskommissar mit diktatorischen Vollmachten ernannt und rivalisierte fortan mit Adolf Hitler um die Führung des rechtsextremen Lagers, das München zur „Hauptstadt der Bewegung“ gemacht hatte.
Kein Herz, aber Geld
Dass es Tucholsky mithin nicht allein um bürokratische Hürden, sondern um die antisemitische und fremdenfeindliche Stimmung in Bayern geht, wird in einem zweiten Artikel deutlich, der 1924 unter demselben Titel erscheint. Den Anlass bietet eine Kampagne bayerischer Fremdenverkehrsvereine und Hoteliers, die inzwischen gemerkt haben, dass mit den Reisenden auch die Einnahmen ausbleiben:
„Ebenfalls sind die Gerüchte über die antisemitische Hetze kolossal übertrieben und wird besonders im hiesigen Gebiet von allen Teilen der Bevölkerung jegliche Garantie übernommen, dass die Besucher unsres Wintersportplatzes, sowohl auf Straßen und Plätzen wie in den Hotels, unbehelligt bleiben.“ Wrobels spöttischer Kommentar: „Ein Herz scheinen die deutschen Brüder da unten nicht zu haben. Aber ein Portemonnaie haben sie in den treudeutschen Hosen.“
Ob Tucholsky wirklich glaubte, man könne die Tourismusregionen Bayerns mittels Reiseverweigerung finanziell in einem Maße schwächen, die zu einem echten Umdenken oder wenigstens zu einer zähneknirschenden Simulation von Weltoffenheit führen würde? Wenn ja, wurde er eines Besseren belehrt. Nicht nur die bayerische „Ordnungszelle“ radikalisierte sich weiter, antisemitisches und rassistisches Gedankengut flutete in den kommenden Jahren das ganze Land und brachte schließlich den Nationalsozialismus an die Macht.
Doch auch wenn einbrechende Tourismuseinnahmen offenbar nicht genügen, um in regionalen Brutstätten des Rechtsextremismus einen Sinneswandel zu bewirken, kann es nicht doch sinnvoll sein, auf Reisen in solche Gegenden zu verzichten? Aktuell beispielsweise nach Sachsen?
Zwar wird es viele potenzielle Urlauber fürs Erste ohnehin abhalten, dass sich Sachsen in den letzten Wochen zum pandemischen Hotspot entwickelt hat (nicht nur, aber sicher auch aufgrund der großen Schnittmenge zwischen Rechtsextremen und Coronaleugnern).
Und für Schwarze, homosexuelle Paare oder Transpersonen dürfte diese Brutstätte der Pegida-Bewegung, mit ihren Reichskriegsflaggenspalieren an der Landstraße B96 und in Kreisen, in denen fast die Hälfte der Bevölkerung AfD wählt, ohnehin ein eher exotisches Reiseziel sein. Aber solche Gäste braucht es anscheinend gar nicht für eine florierende Tourismusbranche, wie die meist überfüllten Wanderwege der Sächsischen Schweiz belegen.
Warum fahrt ihr hin?
Wäre es nicht höchste Zeit für jene Reisenden, die nicht qua Hautfarbe, Sexualität oder Geschlecht automatisch zum Ziel von Beleidigungen und Angriffen werden, die Scheuklappen abzunehmen? Zu realisieren, dass das Warenangebot der tschechischen Grenzmärkte neben billigen Zigaretten vor allem Nazi-Devotionalien, Kampfmesser, Schlagstöcke und rechte Szeneklamotten für die sächsischen Stammkunden bereithält? Den tätowierten Reichsadler auf dem Handgelenk der freundlichen Kellnerin zu bemerken, wenn sie einem den Sauerbraten hinstellt? Und den Schluss daraus zu ziehen, dass man sein Geld künftig lieber in anderen Gegenden ausgeben sollte? Schaden kann es sicher nicht.
So wichtig es ist, dass die Kulturschaffenden dieses Landes nicht aufgeben, auf jeder kleinen sächsischen Bühne aufzutreten, die ein paar tapfere Menschenfreunde gegen alltägliche Anfeindungen mühsam aufrechterhalten, so fatal wäre es, den (Haken-)kreuz- und querdenkenden Menschenfeinden nebenan mittels Urlaubsreisen das Gefühl zu geben, sie seien noch akzeptabler Teil der Zivilgesellschaft.
Rufen wir lieber mit Tucholsky: „Reisende, meidet Sachsen!“, und vergegenwärtigen wir uns dabei, dass dieses Sachsen größer ist als das gleichnamige Bundesland. Es reicht von den in doppelter Hinsicht weißen Stränden Usedoms über die verengten Horizonte der deutschen Mittelgebirge bis hinab nach Bayern, wo die einstige „Ordnungszelle“ in provinzieller „Mia san mia“-Arroganz auch heute noch Tucholskys Analyse bestätigt:
„Wer nicht einen nationalen Bierbauch bayerischer Provenienz hat, ist ein ‚Fremder.‘“ Also, ob Vorpommern, Bayern oder Sachsen: „Warum fahrt ihr hin? Um euch belästigen zu lassen?“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wahl in den USA
Sie wussten, was sie tun
Kritik an der taz
Wer ist mal links gestartet und heute bürgerlich?
CO₂-Fußabdruck von Superreichen
Immer mehr Privatjets unterwegs
Obergrenze für Imbissbuden
Kein Döner ist illegal
SPD nach Ampel-Aus
Alles auf Olaf
Die Grünen nach dem Ampel-Aus
Grün und gerecht?