„Arbeitspflicht“ für junge Arbeitslose: Wenn um 7 Uhr morgens das Ordnungsamt klingelt
Der Landkreis Nordhausen will junge Bürgergeld-Empfänger in 1-Euro-Jobs zwingen. Die Möglichkeiten dazu hat schon die Ampel-Koalition ausgeweitet.
„Da habe ich totalen Bock drauf“, sagt René Kübler, als er am Telefon von den „Klingelpartys“ berichtet, die er in dieser Woche in Nordhausen (Thüringen) gestartet hat. Der Sozialpädagoge leitet dort den Verein Horizont. Seit Jahren werden in dessen Werkstätten Langzeitarbeitslose beschäftigt, die auf dem regulären Arbeitsmarkt kaum vermittelbar sind. Sie bauen dort Holzhütten, unter anderem für Weihnachtsmärkte. Seit Montag hat er 30 neue Klienten: junge Männer, die Bürgergeld beziehen und die das Jobcenter unter Androhung von Sanktionen zu ihm geschickt hat.
„Ich habe eine klare Haltung: Ohne Konsequenzen geht es in der Pädagogik nicht“, sagt Kübler. Nur ein kleiner Teil der Neuen habe am ersten Tag pünktlich in den Werkstätten gestanden, die Fehlenden hätten Besuch bekommen: Pädagogen seines Vereins und Mitarbeiter des Ordnungsamts haben früh morgens bei ihnen geklingelt. „Bis Ende nächster Woche gehen wir denen um 7 Uhr auf den Keks.“
Am Dienstag seien zumindest schon 10 der Zwangsverpflichteten erschienen, aber 4 hätten sich krankgemeldet und 16 die Türen nicht geöffnet. „Wir bleiben dran. Wir klingeln weiter“, kündigt Kübler an. Wer auch bis nächsten Freitag nicht aufmacht, soll direkt die nächste Ladung ins Jobcenter bekommen. „Das sind die alles nicht gewohnt. Das ist neu“, sagt Kübler. Die Zeit sei reif für solche neuen Saiten. Da passe zwischen ihn und seinen Landrat kein Blatt.
Der Landrat heißt Matthias Jendricke und ist wie Kübler Sozialdemokrat. Das neue Projekt, das er zusammen mit dem Sozialpädagogen und dem örtlichen Jobcenter ersonnen hatte, machte er zu Wochenbeginn via Bild und Welt publik. Von einer „Arbeitspflicht für junge Bürgergeld-Empfänger“ schrieben die Zeitungen.
Es geht um unter 25-Jährige, die keine Ausbildung machen, führte Jendricke aus. Sie würden nun in Maßnahmen gesteckt, in denen sie bis zu 40 Stunden arbeiten und zusätzlich zum Bürgergeld 1,20 Euro pro Stunde erhalten.
Theoretisch gut gemeint
Der Landrat ließ sich dazu einerseits fürsorglich zitieren: „Wir dürfen die unter 25-Jährigen nicht aufgeben.“ Andererseits äußerte er sich aber auch hart: „Wir züchten eine Generation von Faulenzern“, sagte er über junge Bürgergeld-Empfänger, die bislang nicht hart genug angepackt würden. Steile Sätze, mit denen man es in der aktuellen Debatte über Verschärfungen bei der Grundsicherung auch als Landrat aus der Provinz in die Schlagzeilen schafft.
Absolutes Neuland betreten die beiden SPD-Männer aus Nordhausen mit ihrem Projekt nicht, um eine rigorose Arbeitspflicht handelt es sich genau genommen auch nicht – das würden Verfassung und Gesetze nicht zulassen. Die Betroffenen werden einfach besonders rabiat in eine altbekannte Maßnahme gebracht: die sogenannten 1-Euro-Jobs, im Fachjargon Arbeitsgelegenheiten.
Vereinfacht gesagt sind sie im Bürgergeld eigentlich als Fördermaßnahme gedacht, ein letztes Mittel für Personen, die zu einem normalen Job nicht imstande sind. Durch einfache Tätigkeiten in Werkstätten oder anderen Einrichtungen sollten sie ans Arbeitsleben rangeführt werden, wenn keine anderen Maßnahmen greifen – nach Möglichkeit freiwillig und ohne harte Sanktionsdrohungen.
Wer nicht teilnehmen will, dem kann das Jobcenter im nächsten Schritt aber auch das Bürgergeld kürzen. Wie bei anderen Regelverstößen geht es um 10 Prozent, im Wiederholungsfall um bis zu 30 Prozent der Regelsätze. Das droht jetzt auch den jungen Männern in Nordhausen.
Strafe durch Arbeit
Neben dieser herkömmlichen Variante, auf die sich das Landratsamt Nordhausen als Grundlage für sein Projekt beruft, gibt es die Arbeitsgelegenheiten schon seit letztem Jahr auch in einem anderen Anstrich. Schon die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP brachte in ihrer Endphase mehr Härte zurück ins Bürgergeld. Eine letzte geplante Gesetzesänderung kam vor dem Regierungs-Aus zwar nicht mehr zustande, aber eine Verschärfung setzte sie im Oktober 2024 noch durch eine neue Anweisung der Bundesagentur für Arbeit an die Jobcenter durch.
Darin gelten die 1-Euro Jobs nicht mehr nur als Fördermaßnahme für Bürgergeld-Empfänger, die besondere Unterstützung brauchen. Sie sind jetzt auch für Personen vorgesehen, die wiederholt nicht zu Terminen im Jobcenter erscheinen oder die sich anderen Eingliederungsmaßnahmen verweigern. Salopp gesagt wurde dadurch eine neue Art der Sanktion geschaffen: Strafe durch Arbeit.
Die Resonanz vor Ort in den Kommunen ist gemischt. Zahlen dazu, wie oft Jobcenter die neue Möglichkeit schon genutzt haben, gibt es zwar nicht. Direkt im letzten Herbst kündigte aber unter anderem das Jobcenter Hamburg an, die Zielgruppe für die Arbeitsgelegenheiten „um die kleine Gruppe von Menschen zu erweitern, die eben nicht mitarbeiten“.
Auch Sozialdemokraten unter den Kritikern
Anderswo entschied man sich bewusst dagegen. Schwerin zum Beispiel geriet zu Jahresbeginn zwar ebenfalls mit der Nachricht in die Schlagzeilen, eine Arbeitspflicht für Bürgergeldempfänger einführen zu wollen. Grundlage dafür war eine entsprechende Aufforderung, die der Stadtrat mit den Stimmen von AfD und CDU an den Oberbürgermeister gerichtet hatte. Dieser solle ein Konzept dafür erarbeiten, Bürgergeld-Empfänger in 1-Euro-Jobs zu stecken.
Bürgermeister Rico Badenschier ist ebenfalls Sozialdemokrat, hat zum Thema aber eine andere Haltung als seine Genossen in Nordhausen. Er ließ die Angelegenheit prüfen, tauschte sich mit Jobcenter, anderen Kommunen und dem Bundessozialministerium aus. Am Ende lehnte er den Vorschlag in einem Bericht ab.
Aus anderen Kommunen werde berichtet, dass die Durchführung von Arbeitsgelegenheiten Ressourcen in den Jobcentern binde, die dann für sinnvollere Maßnahmen fehlten, heißt es darin unter anderem. Auch von Experten der Bundesagentur für Arbeit werde der Nutzen der 1-Euro-Jobs für die Integration in richtige Jobs als gering einschätzt, hieß es von Badenschier bei einer Pressekonferenz. Außerdem sei die „permanente Wiederholung der Forderung nach einer Arbeitspflicht dazu geeignet, Bürgergeldempfänger pauschal als arbeitsscheu zu stigmatisieren.“ An dieser Diskussion werde er sich nicht weiter beteiligen.
„Fragwürdige“ Entscheidung
Gestützt wird seine Argumentation von Praktikern aus den Jobcentern. In einer Stellungnahme für eine Bundestagsanhörung schrieb Moritz Duncker, Vorsitzender der Jobcenter-Personalräte: Zur Förderung „arbeitsmarktferner Leistungsberechtigter mit Vermittlungshemmnissen“ seien die Arbeitsgelegenheiten eigentlich ein „sehr wertvolles“ Instrument. Dass die Ampel dieses Werkzeug aber zur De-Facto-Sanktion umwandelte, sei „fragwürdig“: Die Mittel für die Maßnahmen seien ohnehin schon knapp.
„Diese nun vorrangig für wenige unkooperative Leistungsberechtigte vorzusehen und sie damit denjenigen zu entziehen, die darauf dringend angewiesen sind und sich gerne in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft integrieren möchten, ist schlicht verantwortungslos“, schrieb Duncker.
Entsprechend stößt jetzt auch das Nordhausener Projekt, das nach Angaben des Landratsamts rund 55.000 Euro kosten wird, nicht nur auf Zustimmung. „Junge Menschen brauchen echte Perspektiven für gute Ausbildungen und sinnstiftende Tätigkeiten“, sagte auf taz-Anfrage Joachim Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Sanktionen und Zwang seien das Gegenteil davon: Sie führten häufig in Resignation und soziale Ausgrenzung statt in langfristige Beschäftigung. „Wer in politisch verantwortlicher Position pauschal einer ‚Generation von Faulenzern‘ spricht, hat jedes vernünftige Maß in der Debatte verloren.“
Zumindest indirekt ist der Paritätische mit dem Projekt in Nordhausen aber selbst verbandelt: Der Verein Horizont, bei dem Vorstand René Kübler seit Montag seine Klingelpartys feiert, ist in dem Wohlfahrtsverband Mitglied.
Aktualisierung: Nach Veröffentlichung des Artikels hat das Landratsamt Nordhausen Fragen der taz beantwortet. Im Text haben wir daraufhin die Kosten des Projekts ergänzt und eine andere Passage verändert: Der Landkreis reizt nach eigenen Angaben nicht den neuen Spielraum aus, den die Ampel-Koalition bei 1-Euro-Jobs geschaffen hat, sondern stützt sich auf schon zuvor geltende Möglichkeiten.
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