Afghanistan nach Abzug des Westens: Nicht alles war umsonst
Viele sind sich einig: Der Einsatz des Westens war sinnlos. Nur: Zählt es nichts, dass eine Generation von Afghaninnen zur Schule und arbeiten gehen konnte?
E s sind Bilder, die sich für immer ins Gedächtnis einbrennen: Afghanen, die sich an ein Transportflugzeug der US Airforce klammern und kurze Zeit später vom Himmel fallen. Sie erinnern an die Aufnahmen vom 11. September, als Amerikaner aus den brennenden Twin Towers sprangen. Die grausigen Szenen in New York und Kabul markieren den Anfang und das Ende eines 20-jährigen westlichen Militäreinsatzes, der nun in der erneuten Machtübernahme der radikalislamischen Taliban mündet.
Die öffentliche Debatte und die Äußerungen der allermeisten Politiker*innen in Deutschland drehen sich um die Frage der Evakuierung von Ortskräften und der akut bedrohten Menschen, vor allem Frauen. Und es stimmt ja: Es macht fassungslos, dass die Bundesregierung wertvolle Zeit hat verstreichen lassen, um all jene zu retten, ohne deren Arbeit vor Ort schier gar nichts gelaufen wäre.
Man fragt sich, was Außenminister Heiko Maas (SPD) eigentlich beruflich macht, wenn er noch im Juni ausdrücklich betonte, er ginge nicht davon aus, dass die Taliban alsbald die Macht übernähmen. Jeder, der halbwegs aufmerksam Zeitung liest oder auf Twitter unterwegs ist, hat damit rechnen können. Das eigene diplomatische Team hat ihn gewarnt und in Kundus und Masar-e Scharif, wo die Bundeswehr viele Jahre stationiert war, schufen die Taliban binnen kürzester Zeit Fakten.
So berechtigt die Empörung über die im Stich gelassenen Ortskräfte also ist, so bequem ist sie gleichzeitig. Vom grünen Spitzenduo Robert Habeck und Annalena Baerbock, über die FDP bis hin zu Unionspolitikern – sie alle reden über die Afghan*innen und ihre Familien, die es nun möglichst schnell noch zu retten gilt. Gerade so, als sei damit das Schlimmste verhindert und als gäbe es nicht noch Millionen andere, die den Taliban nicht entfliehen können.
20 Jahre weniger Gewaltherrschaft
Es geht dabei nicht nur um die Frauen, die sich politisch für ihre Rechte eingesetzt haben. Es reicht den Taliban schon, wenn eine vielleicht mal Fußball gespielt, gesungen oder ein allzu selbstständiges Leben geführt hat. Es reicht auch, Hazara zu sein, eine schiitische Minderheit in Afghanistan, die von den ethnisch und politisch dominierenden Paschtunen schon immer verachtet und von den Taliban als Heretiker angesehen werden.
Mit der Fokussierung auf die Evakuierungen drückt sich die große Mehrheit in der politischen Debatte vor der eigentlichen Frage: War alles umsonst? War es der falsche Krieg und die ganze Mission damit von Anfang an zum Scheitern verurteilt, wie Kolumnistin Bettina Gaus im Spiegel schreibt? Nun, auf jeden Fall können sich alle, die schon immer gegen den Afghanistan-Einsatz waren, nun bestätigt fühlen. Der Westen hat mal wieder einen Scherbenhaufen hinterlassen und alles falsch gemacht.
Doch stellen wir uns einmal für einen Augenblick vor, diese Haltung hätte sich tatsächlich vor 20 Jahren durchgesetzt. Der Nato-Bündnisfall hätte nicht zu „Boots on the ground“, sondern nur zu ein paar Wochen Luftangriffen geführt. Es wäre kaum gelungen, international operierende Terrorgruppen wie al-Kaida vom Hindukusch zu vertreiben.
Afghanistan wäre ein sicherer Rückzugsort für die Planung von Anschlägen geblieben. Und selbst wenn man das Unwahrscheinliche annimmt, nämlich dass es mit Luftschlägen und dem Einsatz von Spezialkommandos geglückt wäre, die Terrorstrukturen zu zerschlagen, was ist mit der afghanischen Bevölkerung selbst?
Ist es nichts wert, dass in den 20 Jahren eine ganze Generation junger Frauen heranwachsen konnte, die zur Schule gehen und berufstätig sein durfte? Spielt es keine Rolle, dass die bis dahin brutal unterdrückten Hazara in dieser Zeit ein regelrechtes „Bildungswunder“ zustande brachten? Ist es völlig egal, dass das Land – für afghanische Verhältnisse – zwei Jahrzehnte lang relative Stabilität erlebte? Oder dass sich eine kleine, aber eben nun existierende Zivilgesellschaft entwickelt hat?
Orte relativer Freiheit
20 Jahre sind für eine Gesellschaft eine sehr lange Zeit. 2001 hatten die meisten von uns Nokia-Handys; iPhones, Facebook und Twitter existierten noch nicht. Angela Merkel war noch nicht einmal Kanzlerin und in deutschen Restaurants und Cafés wurde hemmungslos geraucht. Das Afghanistan von heute ist nicht mehr vergleichbar mit dem von 2001.
Die afghanische Gesellschaft hat weithin sichtbare Politikerinnen, Rechtsanwältinnen und Journalistinnen erlebt, Menschenrechtsaktivist*innen und halbwegs demokratische Wahlen. Mag sein, dass sich vielerorts auf dem Land zu wenig verändert und die radikalen Islamisten dort weiterhin das Sagen hatten. Doch es hat bisher Orte relativer Freiheit gegeben, eine weibliche Fußballnationalmannschaft und Medienvielfalt.
Vielleicht reichen diese Entwicklungen nicht, um nachhaltig Widerstand gegen die Taliban zu leisten. Aber all das ist nicht nichts. Es stimmt nicht, dass alles umsonst war, denn die Taliban können nicht dort weitermachen, wo sie 2001 aufgehört haben. Die afghanische Regierung mag auf katastrophale Weise versagt und der Westen die Menschen im Stich gelassen haben. Dennoch haben gerade die jüngeren Afghan*innen in den zwei Jahrzehnten Nato-Präsenz eine Vorstellung davon bekommen, wer sie sein könnten und welches Potenzial ihr Land hat.
Unfreiwillig komisch wirkt dagegen, was ein langjähriger Kritiker des Militäreinsatzes in Afghanistan diese Woche in der Talk-Show Maischberger zu sagen hatte. Gregor Gysi von der Linkspartei schlug als Alternative zur militärischen Intervention in Afghanistan allen Ernstes „Wandel durch Annäherung“ vor. Hätte ja bei Willy Brandt und der DDR auch geklappt. Vergleicht er hier wirklich Erich Honecker und seine Genossen mit den Taliban?
Schuldig auch durch Nicht-Handeln
Es lässt Zweifel aufkommen, ob Gysi auch nur annähernd verstanden hat, wer die Taliban sind und was islamistischer Fundamentalismus bedeutet. Er sollte einmal, und sei es nur für einen Tag, eine Burka überziehen und die Welt durch ein blaues Gitter betrachten. Ich habe noch eine im Schrank, die ich ihm gern ausleihen kann. Oder er müsste sich für ein Wochenende Videos im Internet ansehen, auf denen Frauen gesteinigt, Schwule geköpft und Dieben die Hand abgehackt wird.
Der Konflikt in Afghanistan sei militärisch nicht zu lösen, lautet ein Mantra der deutschen Diplomatie und Politik. Nun, die Taliban haben gerade das Gegenteil bewiesen. Und während sie eine Todesliste zusammenstellen und beginnen, sie abzuarbeiten, wollen Politiker wie Kanzlerkandidat Armin Laschet und Sozialdemokraten wie Rolf Mützenich mit ihnen verhandeln. Und nicht nur CDU und SPD sind auf diesem Irrweg unterwegs, sondern auch Außenpolitiker einer feministischen Partei wie die Grünen, wenn ihr ehemaliger Minister Jürgen Trittin sagt: „Der Versuch, Afghanistan ohne die Taliban zu regieren, ist schlicht und ergreifend gescheitert.“
Also hätte man es lieber mit den Taliban probieren sollen? Freundliche Beziehungen pflegen vielleicht? Eine absurde Vorstellung. Die Taliban können keine Verhandlungspartner sein. Eine Annäherung ist politisch und menschlich falsch, sogar verwerflich.
Wer Militärinterventionen grundsätzlich ablehnt, dem muss klar sein, was es weltpolitisch bedeutet: zusehen, wenn anderswo großes Leid geschieht – wie in Ruanda, in Syrien oder bei den Jessid*innen im Irak. Das ist schwer auszuhalten und moralisch fragwürdig. Nicht zu handeln kann ebenso großen Schaden anrichten wie ein Militäreinsatz. Schuldig werden kann man auf die eine wie die andere Weise.
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