Applaus für die Geräumten

Das linksradikale Hausprojekt Liebig 34 ist Geschichte. Bewohner*innen winken beim Gehen, es gibt Rangeleien und Barrikaden. Doch die Räumung verläuft ruhiger als erwartet

Eine Liebig-34-Bewohner*in wird abgeführt Foto: Björn Kietzmann

Von Erik Peter
und Gereon Asmuth

Es ist 7 Uhr morgens, als der Gerichtsvollzieher das autonome Projekt Liebig 34 in Friedrichshain erreicht. Eine Viertelstunde später beginnt die Polizei sich in das Haus vorzuarbeiten. Von einem eigens aufgebauten Gerüst schlagen Beamte ein Fenster in der ersten Etage ein; Stahlstäbe, mit denen es vergittert war, werden aufgeflext. Später fährt ein Leiterwagen vor, über den die ­ersten Bewohner*innen aus dem Hausprojekt geholt werden.

Parallel dazu arbeiten sich Beamte durch den Hauseingang ins stark verbarrikadierte Treppenhaus vor. Stundenlang ist der Einsatz von schwerem Gerät zu hören. Auch Äxte kommen zum Einsatz. Die Polizei spricht von aufgetürmten Mauerresten und Beton, Fallen gab es dagegen keine. Erst nach zwei Stunden können auch durch den Eingang Bewohner*innen aus dem Haus gebracht werden.

Einige der Geräumten winken beim Rausgehen den applaudierenden Unterstützer*innen in den gegenüberliegenden Häusern zu. Eine Person mit regenbogenfarbener Strickmütze lässt sich mit stolzer Haltung von zwei Beamten abführen. Andere werden mit auf den Rücken gedrehten Armen weggebracht oder die gesamte Liebigstraße hochgetragen.

Gegen 11 Uhr am Freitagmorgen ist der Einsatz abgeschlossen. Laut Polizeiangaben wurden insgesamt 57 Personen angetroffen. Sie seien überprüft, aber nicht festgenommen worden. Noch ist unklar, ob Ermittlungen wegen Hausfriedensbruchs eingeleitet werden.

Bereits seit dem frühen Morgen hatte es Kundgebungen gegen die Räumung des symbolträchtigen linken Szeneobjekts gegeben. Rings um die seit Donnerstagfrüh errichtete Sperrzone sammelten sich Menschen. Gegen 5 Uhr kommen mehrere Hundert auf der Rigaer Straße zusammen. Aus dem Hausprojekt erklärt eine Frauenstimme per Megafon: „Wir sind nicht das Problem. Das Problem heißt Kapitalismus.“ Bei zwei Festnahmen fliegen auf der Straße die ersten Flaschen.

Dezentrales Chaos

Das von den Aktivisten ausgerufene Konzept, dezentral für Chaos zu sorgen, nimmt etwa eine Stunde später Form an. Im südlichen Teil Friedrichshains ziehen kleinere Gruppen Vermummter durch den Kiez, das Blaulicht der Polizei ist allgegenwärtig.

Immer wieder werden Barrikaden gebaut, Mülltonnen, Leihfahrräder oder Bauzäune auf Straßen gezogen, bisweilen brennt etwas. Vor allem in der Rigaer Straße und Proskauer Straße stoßen Demonstrant*innen auch direkt mit der Polizei zusammen. Es kommt zu Faustschlägen und Tritten. Einem Polizisten wird das Funkgerät abgerissen, Demonstrant*innen müssen sich von Demo-Sanitäter*innen versorgen lassen.

Auch eine Fahrraddemo mit etwa 70 Personen radelt durch den Kiez, zunächst unbehelligt von der Polizei. Später allerdings geht sie rigide dazwischen, schubst Menschen von den Rädern und kontrolliert etwa ein Dutzend Teilnehmer*innen. Die Polizei spricht von insgesamt 1.500 Demonstrant*innen an diesem Morgen. Tatsächlich ist die Zahl unerwartet niedrig. Trotz aller Spannungen verläuft der Morgen weitaus ruhiger als vielfach befürchtet.

Das liegt auch an einem Großeinsatz, wie es ihn in Berlin lange nicht gegeben hat. Bis zu 5.000 Beamt*innen, darunter 19 Hundertschaften aus anderen Bundesländern, wurden aufgeboten. In der Frankfurter Allee reihte sich Wanne an Wanne, durch den ganzen Kiez zogen ununterbrochen Kolonnen von Polizist*innen. Auch an strategischen Orten in der Stadt hatte sich die Polizei postiert. Erwartet worden war die heikelste Räumung in Berlin seit 2011, als die gegenüberliegende Liebigstraße 14 geräumt wurde. In der Nacht hatte es zwei Autobrände und einen Brand im S-Bahnhof Tiergarten gegeben.

Doch schon am frühen Vormittag macht sich unter den Räumungsgegner*innen spürbar Frustration breit. Immer wieder werden sie ohne erkennbaren Grund von der Polizei zurückgedrängt. Die Beamt*innen sind ihnen zahlenmäßig weit überlegen, behelmte Trupps greifen immer wieder einzelne Personen aus der Menge der Demonstrierenden. Kurzzeitig gelingt es einem knappem Dutzend, die Kreuzung am Frankfurter Tor zu blockieren. Aber auch hier dauert es nicht lange, bis die Polizei die Situation im Griff hat. Kurz darauf kesselt sie eine umstehende Gruppe von hundert Personen ein.

Hochgesicherter Bereich

In den hochgesicherten Sperrbereich vor der Liebig 34 schaffen es nicht einmal die Anwälte der Bewohner*innen. Als die Räumung schon im Gange ist, wartet Lukas Theune, Anwalt des Vereins Mittendrin e.V., der zuletzt im Besitz der Räumlichkeiten war, immer noch an der Polizeiabsperrung in der nördlichen Liebigstraße. Seit 20 Minuten werde geprüft, ob er hineindarf, sagt Theune der taz. Ein Einwirken auf den Gerichtsvollzieher, der einen Räumungstitel gegen den Verein Raduga hat, wird dadurch unmöglich gemacht.

Canan Bayram, die grüne Bundestagsabgeordnete des Wahlkreises Friedrichshain-Kreuzberg, hat nach einem ersten Rundgang am Morgen den Eindruck, dass der Kiez regelrecht belagert sei. „Ich wundere mich, dass ein solcher Polizeieinsatz unter Covid-19-Bedingungen stattfindet“, sagte sie der taz. Das Robert-Koch-Institut meldete am Morgen mehr als 4.500 Neuinfizierte bundesweit, ein neuer Rekordwert. Bayram fürchtet, durch diesen Einsatz gehe bei vielen Wähler*innen das Vertrauen verloren, das sich unter einem rot-rot-grünen Senat in Berlin etwas grundlegend ändere.

Mitarbeit: Jonas Wahmkow,

Christina Gutsmiedl.