Streit um Grundsicherung: Die Union pokert ums Bürgergeld
CDU-Chef Friedrich Merz will nur die Hartz-IV-Regelsätze erhöhen und den Rest später klären. Die Grünen sehen das Bürgergeld-Projekt damit in Gefahr.
Die für Januar geplante Einführung des Bürgergelds steht auf der Kippe. Vor der Abstimmung im Bundestag am Donnerstag bleiben die Fronten zwischen der Ampelkoalition und der Union verhärtet, der Ton wird rauer. Den von CDU-Chef Friedrich Merz angebotenen Kompromiss, ab Januar lediglich die Regelsätze der Grundsicherung um 50 Euro zu erhöhen und den Rest später zu klären, lehnen die zuständigen Fachminister:innen der Ampel ab.
„Lediglich die Regelsatzerhöhung zu beschließen kann nicht die Lösung sein“, so die zuständige Grünen-Abgeordnete Stephanie Aeffner zur taz. „Das würde darauf hinauslaufen, dass alle anderen inhaltlichen Verbesserungen auf Eis gelegt sind und möglicherweise gar nicht mehr eingeführt werden.“
Auch der arbeits- und sozialpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Martin Rosemann, lehnt Merz' Angebot ab: „Wir fangen nicht an, einzelne Bereiche herauszunehmen“, sagte Rosemann der taz. Man habe bereits einen kompromissfähigen Vorschlag vorgelegt, so der SPD-Politiker.
„Wir haben nun die Erwartung an die Länder, dass sie ihre staatspolitische Verantwortung wahrnehmen und sich nicht auf die parteitaktischen Spielchen von Herrn Merz einlassen“, so Rosemann. Die Union unter Merz führe die Debatten von vorgestern. Aeffner glaubt, dass es der Union gar nicht um sachliche Kritik geht. „Die Union hetzt Niedrigverdiener und Bürgergeldempfänger mit einer Fake-News-Kampagne nach der anderen gegeneinander auf. Das nenne ich eine Trumpisierung der Politik.“
Die Ampelkoalition möchte mit dem Bürgergeld ab Januar das viel gescholtene Hartz-IV-System ablösen. Das Schwergewicht soll künftig auf dem Fördern statt dem Fordern liegen, wer arbeitslos wird, soll sich auf Weiterbildung und Arbeitssuche konzentrieren können. Damit das in Ruhe gelingt, sollen in den ersten zwei Jahren Karenzzeiten für Wohnung und Vermögen gelten.
Das heißt, die Jobcenter übernehmen die Kosten der Wohnung, ohne auf Umzug in eine billigere und kleinere zu drängen. Zudem müssen die Menschen ihre Ersparnisse zunächst nicht auflösen, sondern dürfen in dieser Zeit 60.000 Euro behalten plus 30.000 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied. Diese Regel gilt bereits, die Union hatte sie in der Coronakrise als Auffangnetz unter anderem für Selbstständige mit eingeführt.
Die Ampel möchte sie beibehalten und zudem eine „Vertrauenszeit“ einführen: Nach Abschluss eines Kooperationsplans müssen Bürgergeldbezieher:innen sechs Monate lang keine Sanktionen befürchten, etwa falls sie Vermittlungsangebote ausschlagen. Sanktionen sind bei einem wiederholten Terminversäumnis noch möglich.
Die Caritas betont die Wichtigkeit der Karenzzeit
Insbesondere an diesen beiden Punkten, der Karenzzeit und dem befristeten Wegfall der Sanktionen, stößt sich die Union und sieht falsche Anreize. „Es muss sich auch weiterhin lohnen zu arbeiten“, so die bayerische Arbeits- und Sozialministerin Ulrike Scharf (CSU) am Montag in einem Pressegespräch der Unionsfraktion. Die Union kann das Bürgergeld zwar nicht im Bundestag, aber im Bundesrat verhindern. Die Länder, in denen sie mitregiert, haben dort eine Mehrheit von 39 Stimmen. Die Ampel bräuchte fünf Jastimmen aus diesem Lager, damit das Bürgergeld wie geplant zum 1. Januar eingeführt werden kann.
Das von Hubertus Heil (SPD) geführte Arbeits- und Sozialministerium hatte vergangene Woche Kompromissvorschläge gemacht, hinter denen auch die Fachpolitikerinnen von SPD, Grünen und FDP stehen. So soll sich die Karenzzeit für jene verkürzen, die bereits während der Coronakrise Grundsicherung beantragt haben – um eben diese Monate.
Das Vermögen muss in einer Selbstauskunft offengelegt werden. Und Umzüge in eine teurere Wohnung bedürfen der Zustimmung des Jobcenters. Heizkosten werden in „angemessener“ Höhe übernommen. Auch diese Vorschläge gehen der Union nicht weit genug. Der stellvertretende Fraktionschef der Union, Hermann Gröhe, nannte sie am Montag „unzureichend“ und gibt der SPD die Schuld „ihr vermeintliches Prestigeobjekt gegen die Wand zu fahren“.
Auch eine öffentliche Anhörung im Bundestag am Montagnachmittag brachte wenig neue Erkenntnisse. Die Union präsentierte Sachverständige des Landkreistages und der Arbeitgeberverbände, die das Argument bestärkten, mit dem Bürgergeld würde sich Arbeit nicht mehr lohnen. SPD und Grüne führten Vertreter:innen von Gewerkschaften, Sozialverbänden und der Arbeitsagentur ins Feld. Birgit Fix von der Caritas betonte Wichtigkeit der Karenzzeit, damit sich Arbeitslose darauf konzentrieren können, qualifizierte Arbeit zu finden.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund wirft der CSU vor, mit falschen Zahlen Stimmung gegen das Bürgergeld zu machen, und zerpflückte auf Twitter ein Rechenbeispiel, welches die Partei ins Netz gestellt hatte. Dem zufolge hätte ein Paar mit zwei Kindern, das im Niedriglohnsektor arbeitet, fast 800 Euro weniger am Monatsende als eine vergleichbare Familie, die Bürgergeld bekommt. Allerdings hatte die CSU das Wohngeld und den Kinderzuschlag unterschlagen. Mit diesen Leistungen liegen Menschen, die den Mindestlohn bekommen, künftig deutlich über den Empfänger:innen von Bürgergeld, so die Gegenberechnung des Deutsche Gewerkschaftsbunds (DGB).
Die SPD ist optimistisch
Der DGB bemängelt aber eine andere Schwachstelle: An der Berechnung der Regelsätze soll sich nichts ändern. „Damit bleibe ein Wesenszug des alten Hartz-IV-Systems unverändert erhalten – ein Leistungsniveau, das nicht wirksam vor Armut schützt und keine ausreichende soziale Teilhabe bietet“, so der DGB.
Am Donnerstag befasst sich der Bundestag mit den Plänen. Die SPD ist optimistisch, Unionsländer auf ihre Seite zu ziehen. Infrage kämen Baden-Württemberg, Hessen oder Nordrhein-Westfalen, die fünf oder sechs Stimmen im Bundesrat haben und in denen die Grünen an der Regierung beteiligt sind.
CDU-Generalsekretär Mario Czaja geht indes davon aus, dass der Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat am Ende über die Ampelpläne für die Bürgergeldeinführung entscheiden muss. Das würde unter anderem bedeuten, dass die Regelsätze nicht zum 1. Januar erhöht werden.
Auch die von der Union mit beschlossene Regelung zum Schonvermögen würde zum 1. Januar auslaufen. „Das würde bedeuten, dass Menschen, die sich darauf verlassen haben, dass diese Regel weiter gilt, dann unter Umständen in acht Wochen keine Leistungen mehr erhalten, weil sie erst ihre Rücklagen aufbrauchen müssen“, so Aeffner von den Grünen. Und die, die sich darauf verlassen haben, noch deutlich länger in ihrer Wohnung bleiben zu können, würden ebenfalls in acht Wochen zum Umzug aufgefordert.
Nordhrein-Westfalens Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) beruhigt. „Niemand muss befürchten, dass er zum 1. Januar in Schwierigkeiten kommt“, so Laumann im Pressegespräch der Unionsfraktion. Es bleibt eine Pokerpartie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren