Pandemie bekämpfen: Der Staat kapituliert
Für die Politik zählen die Wünsche der Wirtschaft mehr als die Gesundheit der Menschen. Die müssen darum mehr denn je selbst für ihren Schutz sorgen.
E s ist ein Realitätsverständnis, das man von kleinen Kindern kennt: Wenn ich etwas nur ganz doll will und fest daran glaube, dann muss es doch wahr werden. Genau so haben Bund und Länder beim jüngsten Coronagipfel agiert: Wenn der Wunsch nur stark genug ist, spielt die Realität keine Rolle.
Der Wunsch war dabei, dass der Lockdown endlich gelockert wird. Der wird zwar nur von einer Minderheit vertreten, aber die ist zuletzt immer lauter geworden. Und aus subjektiver Sicht ist das ja auch verständlich: In Einzelhandel, Gastronomie und im Kultursektor wachsen trotz staatlicher Hilfen die wirtschaftlichen Sorgen und damit die Ungeduld. Und zumindest ein Teil der Eltern und Kinder wartet dringend darauf, dass der Präsenzunterricht wieder beginnt.
Die Hoffnung, dass das bald wieder möglich ist, ist durchaus berechtigt: In den nächsten Monaten werden die Impfstofflieferungen stark zunehmen, und durch Schnelltests lässt sich das Risiko beim Zusammentreffen von Menschen stark verringern.
Die Realität sieht derzeit aber anders aus: Die Infektionszahlen fallen seit zwei Wochen nicht mehr, sondern steigen wieder leicht. Die Impfungen kommen nur langsam voran, und anders als zu Jahresbeginn liegt das nicht mehr am Fehlen von Impfstoff, sondern an schlechter Organisation. Und Schnelltests sind in Deutschland bisher nicht allgemein verfügbar, schon gar nicht umsonst. Erst jetzt, nachdem kostenlose Schnelltests für alle lange angekündigt waren, richtet die Regierung eine Taskforce ein, die sich um deren Beschaffung kümmern soll – und betraut damit neben Gesundheitsminister Jens Spahn ausgerechnet Verkehrsminister Andreas Scheuer, der bisher fast jedes Projekt gegen die Wand gefahren hat. Viel deutlicher kann man staatliches Versagen kaum demonstrieren.
Doch statt angesichts dieser Verzögerungen noch ein paar Wochen durchzuhalten, bis die Fortschritte beim Impfen und beim Testen real werden, öffnen nächste Woche vielerorts die Geschäfte wieder – oftmals übrigens noch vor den Schulen, die beim Öffnen ja eigentlich absolute Priorität haben sollten. Auch Angela Merkel, die ihre Krisenpolitik lange an wissenschaftlichen Erkenntnissen statt an Stimmungen und Wünschen ausgerichtet hat, trägt das nun mit.
Infektionszahlen können steigen
Alles spricht dafür, dass die Infektionszahlen dadurch weiter steigen werden. Dass sich das aufgrund der Impfung der Risikogruppen immer weniger in den Todeszahlen niederschlägt, ist nur bedingt ein Trost, denn auch bei Jüngeren kann eine Infektion schwere Folgen haben.
Bei jenen, die sich nun seit einem Jahr an die Regeln halten, um sich und andere zu schützen, kann sich leicht Resignation einstellen angesichts dieser Kapitulation der Politik kurz vor dem Ziel. Doch das wäre die falsche Konsequenz. Je unverantwortlicher der Staat agiert, desto mehr kommt es in den nächsten Wochen auf Eigeninitiative an.
Dicht anliegende FFP2-Masken (am besten mit einer Klammer am Hinterkopf) sind bei unvermeidbaren Kontakten jetzt noch wichtiger als zuvor. Solange die kostenlosen Schnelltests nicht ausreichend verfügbar sind, können die ab jetzt erhältlichen Selbsttests Schutz bieten – und weil sich die nicht alle leisten können, sollten jene, die das können, vielleicht andere Menschen aus dem Umfeld mitversorgen. Und ältere Menschen beim Kampf gegen die Impfbürokratie zu unterstützen wird ebenfalls immer wichtiger.
Doch natürlich darf man die Politik auch weiterhin nicht aus der Verantwortung entlassen. Das gilt vor allem für die Ankündigung, Lockerungen zurückzunehmen, wenn die Zahlen wieder steigen. Dass das umgesetzt wird, ist fraglich, wenn man sieht, was aus den Ankündigungen des letzten Gipfels geworden ist. Passieren wird es nur, wenn der Öffnungslobby etwas entgegengesetzt wird. Es muss klar sein, dass eine dritte Welle nicht nur menschlich und wirtschaftlich schlimme Folgen hätte – sondern auch für die, die sie politisch verantworten.
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