Mitgliederschwund bei den Kirchen: Dem Untergang geweiht

Erstmals seit Jahrhunderten sind weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland Kirchenmitglied. Ist das der Beginn von etwas Neuem?

Im Gegenlicht und vor wolkenverhangenem Himmel ist die Kirchturmspitze eines Doms mit kreuz zu sehen

Den Kirchen laufen ihre Mitglieder davon – doch der große Sinneswandel, das zu ändern, bleibt aus Foto: Friso Gentsch/dpa

Die Osternacht beginnt in katholischen und evangelischen Gemeinden mit dem Exsultet. „Freue dich, Mutter Kirche“, heißt es in dem Hymnus aus dem vierten Jahrhundert, „umkleidet von Licht und herrlichem Glanze!“ Doch Grund zur Freude gibt es gerade nicht für die Kirche. Auch von herrlichem Glanz ist kein Schimmer zu sehen.

Vergangene Woche wurde bekannt, dass der Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, Stephan Ackermann, vor rund 40 Mit­ar­bei­te­r*in­nen bewusst den Klarnamen einer betroffenen Angestellten seines Bistums genannt hat. Dabei fürchten Betroffene sexualisierter Gewalt oft die Öffentlichkeit. Aus Angst vor der Reaktion der Kolleg*innen, vor Anfeindungen.

Ackermann hat eine Unterlassungserklärung abgegeben und sich bei der Person entschuldigt. Doch dass nicht einmal der Experte unter den deutschen Bischöfen – zwölf Jahre ist Ackermann schon beauftragt – angemessen mit den Opfern der Kirche umzugehen weiß, spricht Bände.

So viele Gründe für den Austritt

Die sexualisierte Gewalt in der katholischen und der evangelischen Kirche, die Versäumnisse bei ihrer Aufarbeitung. Queer- und frauenfeindliche Strukturen. Fehlende Antworten auf Klima, Corona und Krieg. Das Steuergeld, das andernorts vielleicht besser aufgehoben ist. Das alles sind gute Gründe, um nach Ostern aus der Kirche auszutreten – wenn man denn überhaupt (noch) Mitglied ist und einen der begehrten Austrittstermine ergattert.

Mutter Kirche kann es nicht erfreuen, was diese Woche ausgehend von kirchlichen Angaben hochgerechnet wurde: Erstmals seit Jahrhunderten sind mehr als 50 Prozent der Menschen in Deutschland weder ­römisch-katholisch noch evangelisch. Im vergangenen Jahr waren es noch 51 Prozent, im Jahr 1990 lag der Anteil bei 72 Prozent.

Die katholischen Bischöfe sollten ihren Einfluss zumindest an den staatlichen Unis abgeben.

Für den Sozialwissenschaftler Carsten Frerk ist klar: „Es ist eine historische Zäsur“. Die Abwärtsbewegung habe sich in den vergangenen sechs Jahren stärker beschleunigt als zuvor angenommen. Frerk koordiniert die Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland, die von der humanistisch-religionskritischen Giordano-Bruno-Stiftung ins Leben gerufen wurde.

Jene aber, die jetzt freudig das Ende des Christentums nahen sehen, sollten genau hinschauen. Denn es leben auch um die zwei Millionen orthodoxe Christen in Deutschland. Und längst nicht alle wenden sich von den „Volkskirchen“ ab, um säkular durchs Leben zu gehen.

Freie Kirchen mit ergreifendem Sound und knackig-rigider Moral empfangen gern alle, denen die „Normalkirchen“ zu lau sind. Beispiel: das Gospel Forum in Stuttgart. Die Wandlung der „Volkskirchen“ zur Minderheit, das Wachstum radikal-christlicher Start-ups, die im Ganzen pluralisierte religiöse Landschaft in Deutschlands und eine konfessionslose Bevölkerungsgruppe von 40 Prozent, sie ­verlangen nach Entscheidungen.

Keine Privilegien, aber bitte keine Symbolverbote

Die politischen Entscheidungen sollten dabei nicht dem „französischen“ Laizismus folgen. Staatliche Neutralität beispielsweise lässt sich nicht durch ausgrenzende Symbolverbote herstellen. Nicht bei Lehrer*innen, nicht bei Rich­ter*in­nen. Religiöse wie andere Motivationen auch sollten – nicht nur – in der Ausbildung von Staats­die­ne­r*in­nen artikuliert und in Hinblick auf die berufliche Rolle reflektiert werden können.

Auch für den American Way – religiöse Gemeinschaften einfach ihr Ding machen lassen – sollte sich die Gesamt­gesellschaft nicht entscheiden. Es braucht allgemeines Wissen darüber, welche Gruppen mit welchen Motiven agieren. Es braucht Debatten darüber, wie religiöse Traditionen und Texte zu deuten sind, persönlich und in Bezug auf das Gemeinwesen.

All dies sollte unter anderem an den Hochschulen stattfinden. Dort allerdings, wie an vielen Stellen, müssen zunächst die kirchlichen Privilegien abgebaut werden.

Die Vielzahl und Ausstattung der theologischen Fakultäten an staatlichen Unis gründet heute nicht mehr auf den Studierendenzahlen, sondern nur noch auf dem Reichskonkordat von 1933. Die katholischen und evangelischen Fakultäten sollten in Zukunft nach Synergien schauen und frei gewordene Ressourcen abgeben, damit auch die anderen Religionsgemeinschaften in Deutschland an den Universitäten öffentliches Wissen produzieren und ihre Glaubensbestände kritisch reflektieren können.

Die katholischen Bischöfe wiederum sollten ihren Einfluss zumindest an den staatlichen Unis abgeben. Denn: noch immer entscheiden sie mit, wenn ein katholisch-theologischer Lehrstuhl besetzt wird. Kriterium ist dabei, ob die vorgeschlagene Person kirchenkonform lehrt und lebt. Offen queeren Theo­lo­g*in­nen oder Geschiedenen kann die Lehrerlaubnis nicht gewährt oder auch wieder entzogen werden. Das stellt nicht nur ein Problem für die Wissenschaftsfreiheit dar, sondern auch ein arbeitsrechtliches.

Es geht auch anders

„Es darf im kirchlichen Arbeitsrecht keine Sanktionen mehr geben, die wegen der sexuellen Orientierung oder dem Familienstand von Mitarbeitenden ergriffen werden.“ So hieß es im Februar einsichtig vom Bistum Münster. Die anderen Diözesen täten gut daran, zu folgen.

Zur Erinnerung, wie weit das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen noch geht: 2014 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass ein katholisches Krankenhaus in Düsseldorf seinem Chefarzt kündigen durfte, weil er nach einer Scheidung zum zweiten Mal geheiratet hatte.

Auch mit den Reparationszahlungen muss jetzt Schluss sein. Mehr als 200 Jahre sind vergangen, seit der Staat in der Säkularisation kirchlichen Besitz enteignet hat. Ausgleich wird bis heute bezahlt, zuletzt 590 Millionen. In manchen Bistümern macht der staatliche Zuschuss fast ein Drittel des Budgets aus. Doch wie soll es ohne solches Geld mit den katholischen und evangelischen Gemeinden überhaupt weiter­gehen?

Vielleicht so ähnlich wie in Duisburg-Serm. Dort waren die Ka­tho­li­k*in­nen nicht damit einverstanden, dass ihre Dorfkirche aus Schrumpfungsgründen geschlossen wird, und betreiben sie jetzt selbst – als Förderverein. Ziele: Jugendarbeit, Ökumene, Entwicklung der Dorfgemeinschaft. Nicht­ka­tho­li­k*in­nen herzlich willkommen. Manchmal laden sich die ­Ser­­me­r*in­nen auch einen Priester oder eine Theologin von der Universität ein – weil sie Freude daran haben.

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