Lungenarzt mit Rechenschwäche
Der Arzt und Wissenschaftler Dieter Köhler hat mit seiner Kritik an den Grenzwerten für Stickoxid und Feinstaub viel Aufsehen erregt. taz-Recherchen zeigen, dass er sich dabei an zentralen Stellen verrechnet hat
Von Malte Kreutzfeldt
Wenn es um andere WissenschaftlerInnen geht, hat Professor Dieter Köhler hohe Ansprüche. Ihn störe die „extreme wissenschaftliche Unsachlichkeit“ der Debatte über Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxid, sagte er mit großer Empörung in einem ZDF-Interview. Er meint, die Grenzwertdosen für diese Stoffe seien „jenseits jeder Gefährlichkeit“. Seinen KollegInnen wirft er offen vor, Daten zu manipulieren. Sie würden „so lange rechnen und drehen“, bis die gewünschte Botschaft herauskomme, dass Stickoxid und Feinstaub schädlich seien. Sich selbst bezeichnet er dagegen ohne jede Spur eines Zweifels als „einen der wenigen Experten auf diesem Gebiet“. In vielen weiteren Sendungen – von „Stern TV“ über „Hart aber Fair“ bis zu „Anne Will“ – durfte er seine Thesen wieder und wieder verbreiten.
Aufsehen erregt hat Köhler im Januar mit einer von ihm verfassten Stellungnahme, die von 112 Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie, darunter 107 Lungenärzten, unterzeichnet wurde. Darin stellte er den gesamten Forschungsstand zur Schädlichkeit von Luftschadstoffen pauschal in Frage, wirft seinen KollegInnen vor, sie hätten einen „systematischen Fehler“ begangen und Daten „extrem einseitig interpretiert“. Dass Köhler nie wissenschaftlich zum Thema publiziert hat und dass mit 112 Unterzeichnern nur ein Bruchteil der 3.800 angefragten Mitglieder der Pneumologie-Gesellschaft seine Thesen unterstützte, änderte nichts daran, dass Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) aufgrund der Stellungnahme sofort eine Überprüfung der geltenden Grenzwerte forderte.
Während alle Medien breit über sein Papier berichteten und Köhler von einer Talkshow zur nächsten wanderte, sorgten seine Äußerungen in der Fachwelt nur für Kopfschütteln. „Die Grenzwert-Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO beruhen auf der gesamten weltweit verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz zu den Auswirkungen der Luftverschmutzung auf die Gesundheit“, meint etwa Professor Nino Künzli vom Schweizerischen Tropen und Public Health Institut in Basel. „Das sogenannte ‚Positionspapier‘ dieser Ärzte entbehrt jeglicher wissenschaftlicher Grundlage und argumentativer Kohärenz.“
Ein zentrales Argument in Köhlers Papier ist der Vergleich der Atemluft in Innenstädten mit dem Schadstoffgehalt von Zigarettenrauch. Einen solchen Vergleich von kurzfristigen Spitzenbelastungen mit einer permanenten Dauerbelastung halten andere Wissenschaftler ohnehin für unseriös. „Das ist schon aufgrund des unterschiedlichen zeitlichen Zusammenhangs nicht sinnvoll“, meint etwa Wolfgang Straff, Mediziner und Abteilungsleiter für Umwelthygiene beim Umweltbundesamt. Wenn man sich aber trotzdem auf seine Vergleiche einlässt, zeigt sich, dass Köhler unabhängig von seinem mangelhaften Verständnis der Epidemiologie offenbar sehr viel grundlegende Probleme zu hat – mit der Chemie und vor allem der Mathematik.
Über die Gefahr von Stickstoffdioxid, dessen Grenzwerte in vielen deutschen Städten überschritten werden:
„Die Grenzwerte für Stickoxide sind jenseits jeder Gefährlichkeit.“
(Dieter Köhler im ZDF „heute-journal“, 23. 1. 2018)
Über WissenschaftlerInnen, die Stickoxide für eine Gefahr halten:
„Wenn so eine Kerngruppe sich mal gebildet hat, und die ist klein aber natürlich sehr mächtig ..., dann gibt es meist nur noch eine Botschaft: Stickstoffdioxid und vor allem Feinstaub muss schädlich sein. Wenn die Studien das nicht ergeben, dann muss man so lange rechnen und drehen, bis man zumindest wieder in die Nähe kommt.“
(Dieter Köhler im ZDF „heute-journal“, 23. 1. 2018)
Über den Stickoxidgehalt von Zigarettenrauch:
„Die Stickoxid-Belastung einer Zigarette liegt bei 300 000 Mikrogramm pro Kubikmeter.“
(Dieter Köhler im Interview in der „Märkischen Allgemeinen“, 11. 10.2018)
„Stickoxide in diesen Grenzwerten sind überhaupt nicht gefährlich. […] Ein Raucher beispielsweise erreicht über 200.000 Mikrogramm pro Kubikmeter, wenn er eine Zigarette raucht.“
(Dieter Köhler im Interview mit dem SWR, 24. 10. 2018).
„Im Zigarettenrauch aber ist eine Konzentration von Stickoxiden bis zu einer Millionen Mikrogramm pro Kubikmeter Luft!“
(Dieter Köhler im Interview mit der „Berliner Morgenpost“, 13. 12. 2018)
Die Fehler, die Köhler unterlaufen, sind so gravierend, dass er teilweise das Gegenteil dessen beweist, was er aussagen wollte. Dazu muss man einen Blick auf seine Rechnungen zum Vergleich zwischen Stickoxidkonzentration im Zigarettenrauch und bei Dieselabgasen werfen. Wohl gemerkt, Köhlers Vergleich macht wissenschaftlich keinen Sinn, aber selbst wenn man sich darauf einlässt, steht am Ende die Feststellung: Wer an einer viel befahrenen Straße wohnt, atmet während eines Lebens von 80 Jahren so viel Stickoxide ein wie ein starker Raucher in 6 bis 32 Jahren. Köhler behauptet stets, es handle sich lediglich um die Dosis von wenigen Monaten Rauchen.
Gefahren durch Stickoxide
Dazu hat er in früheren Publikationen eine detaillierte Rechnung vorgelegt. Das Deutsche Ärzteblatt etwa zitierte Köhler im Jahr 2018 in einem Artikel mit folgender Rechnung:
„‚Man kann die Studie relativ einfach dadurch widerlegen, dass man die NO2-Menge im Zigarettenrauch als Vergleich nimmt‘, sagt Köhler im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt. Die liege bei rund 500 μg (also 500 Millionstel) pro Zigarette. ‚Nimmt man zur Konzentrationsberechnung ein Atemvolumen beim Rauchen einer Zigarette von 10 Litern an, so inhaliert man 50 000 μg pro Kubikmeter Luft. Bei einer Packung am Tag wäre das 1 Million Mikrogramm‘, rechnet Köhler vor.“
Köhlers Vorwurf an die KollegInnen: systematische Fehler und einseitige Interpretationen
Hier liegt ein offensichtlicher Rechenfehler vor (auf den auch die taz erst durch einen externen Hinweis aufmerksam wurde): Wenn eine Zigarette 500 Mikrogramm (µg) NO2 freisetzt, dann liegt der Wert bei einer Schachtel mit 20 Zigaretten nicht bei 1 Million Mikrogramm, sondern nur bei 10.000 Mikrogramm. Die Verantwortung für diesen Fehler wollte Köhler auf Anfrage zunächst der Redaktion des Ärzteblatts zuschieben. Die zuständige Redakteurin sagte der taz jedoch, dass Köhlers Aussagen einem schriftlichen Manuskript entstammen, das dieser eingereicht hatte. In einer späteren Mail an die taz bestätigte Köhler dies. Auch in der Redaktion der Tageszeitung Die Welt, die über Köhlers Rechnung fast wortgleich berichtet hatte, lagen seine Äußerungen nach taz-Informationen schriftlich vor.
Zusätzlich zu diesem Rechenfehler, der das Ergebnis um Faktor 100 verfälscht, stimmt auch der Ausgangswert nicht, mit dem Köhler rechnet. Der von ihm genannte Wert von 500 Mikrogramm pro Zigarette gilt nicht für Stickstoffdioxid (NO2), also jenes Gas, für das die Grenzwerte gelten und das für die Fahrverbote in deutschen Städten verantwortlich ist, sondern für Stickoxide generell (NOx). Als Anteil von NO2 an NOx beim Zigarettenrauch nennt Köhler zunächst 10 Prozent – damit wäre das Ergebnis insgesamt um den Faktor 1.000 verkehrt. In einer späteren Mail revidierte der Lungenarzt die Angabe wieder, nannte nun – ohne klare Quellenangabe – einen Bereich von 10 bis 50 Prozent; das Ergebnis seiner Rechnung wäre dann entsprechend um den Faktor 200 bis 1.000 verkehrt.
Damit verändert sich eine zentrale Aussage von Köhler. In seiner berühmten Stellungnahme heißt es zum Vergleich zwischen einem Raucher und einem Nichtraucher, der „permanent Feinstaub oder NOx im Grenzwertbereich“ einatmet: „Dabei erreichen Raucher (eine Packung/Tag angenommen) in weniger als zwei Monaten die Feinstaubdosis, die sonst ein 80-jähriger Nichtraucher im Leben einatmen würde. Beim NOx sind die Unterschiede ähnlich, wenn auch etwas geringer.“
Das trifft nicht einmal von der Größenordnung her zu. Statt NOx sei auch hier NO2 gemeint, räumt Köhler ein – denn nur für diesen Stoff gibt es einen Grenzwert, sodass nur hierfür ein Vergleich möglich ist. Wenn man zudem Köhlers Umrechnungsfehler berücksichtigt, entspricht die in 80 Jahren mit der Außenluft eingeatmete NO2-Menge nicht dem, was ein Raucher in wenigen Monaten einatmet, sondern (je nach angenommenem NO2-Anteil am NOx) in 6,4 bis 32 Jahren. Statt die Unschädlichkeit der Außenluft im Vergleich zum Zigarettenrauch zu belegen, wie von Köhler mit seinem (ohnehin fragwürdigen) Vergleich gedacht, zeigt dieser bei korrekter Rechnung das Gegenteil.
Rechenfehler beim Feinstaub
Auch bei seinen Überlegungen zur Belastung durch Feinstaub ist Köhler ein simpler Rechenfehler unterlaufen. „Die Konzentration an Feinstaub im Hauptstrom des Zigarettenrauches erreicht tatsächlich 100–500 g/m[3]und ist damit bis zur (sic) 1 Million mal größer als der Grenzwert“, heißt es in der von Köhler verfassten Stellungnahme. Eine einfache Überprüfung zeigt: Der Tagesgrenzwert für Feinstaub, auf den sich Köhler stets bezieht, liegt bei 50 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Köhlers für den Zigarettenrauch genannter Maximalwert von 500 Gramm pro Kubikmeter entspricht umgerechnet 500 Millionen Mikrogramm pro Kubikmeter. Stimmte die genannte Zahl, wäre die Konzentration im Zigarettenrauch demnach nicht 1 Million Mal so hoch wie der Grenzwert auf der Straße, sondern 10 Millionen Mal.
Köhler selbst sieht kein großes Problem. Die „Größenordnung“ sei trotzdem richtig
Angesprochen auf diesen offensichtlichen Rechenfehler gibt sich Köhler am Telefon überrascht. „Das ist bisher noch niemandem aufgefallen“, meint er. Auch von den 112 UnterzeichnerInnen hat demnach niemand so genau geschaut, unter was für eine Rechnung der eigene Name gesetzt wurde.
Korrekt wäre nach Aussage Köhlers für den Zigarettenrauch statt 100 bis 500 Mikrogramm pro Kubikmeter ein Wert von 10 bis 50 Mikrogramm. Dann wäre zumindest der genannte Faktor von 1 Million korrekt. Doch auch die korrigierte Zahl von Köhler stimmt nicht. Denn den Feinstaubwert berechnete er nach eigenen Angaben auf Grundlage des Kondensatgehalts der Zigaretten, umgangssprachlich auch als Teer bezeichnet. Dabei ging er für aktuelle Zigaretten von 10 bis 25 Milligramm pro Zigarette aus. Allerdings gilt für Kondensat seit 2004 – also seit mittlerweile 15 Jahren – ein EU-weiter Grenzwert von 10 Milligramm. „Die Vorgabe der EU kannte ich nicht“, erklärt Köhler – und lobt den Redakteur dafür, dass er diese im Internet leicht aufzufindende Information recherchiert habe: „Sie hängen sich aber richtig rein.“
Köhler selbst sieht in diesen Fehlern kein großes Problem. Die „Größenordnung“ sei trotzdem richtig, meint er. Und für seine Rechenfehler und seine veralteten Angaben hat er eine einfache Erklärung: „Ich mache ja praktisch alles allein und habe nicht einmal mehr eine Sekretärin als Rentner.“