Debatte um Israels Selbstverteidigung: Ein ur-linkes Anliegen
Linksidentitäre Kritik an Israel verhallt zu Recht, erkennt sie doch sein Existenzrecht nicht an. Der „Kontext“, von dem viele sprechen, geht anders.
E s ist ohne Belang, was hierzulande, was andernorts in der westlichen Welt, was in den Foren der Vereinten Nationen zu Israel und seinem Abwehrkrieg gegen die Hamas gedacht und erörtert wird. Was in den hiesigen Nachrichtensendungen zu sehen ist, bleibt auch das Falsche, wenn es mit grauenerregendem Leiden verbunden ist: Bombardements und andere militärische Interventionen im Gazastreifen.
Medien neigen zur Produktion greller, erschütternder Bilder – und die aus jener Landschaft, die das israelische Militär besonders im Visier zu haben hat, wecken, je nach Gemütslage, Empörung, Mitleid oder Hass. All dies kann stark moniert werden, überhaupt kann Israel und seine Politik heftig kritisiert werden, ohne dass dies als antisemitisch oder antijüdisch (miss)verstanden werden müsste.
Die Politik Netanjahus kann, ja muss aus der Perspektive von Demokraten schroff angegangen werden. Er und seine rechtsradikalen Koalitionspartner haben durch militärische und politische Unachtsamkeit überhaupt möglich gemacht, dass am 7. Oktober nicht nur Hamas-Kader, sondern hinter ihnen einfallend Zivilbewohner des Gazastreifens auf israelisches Staatsgebiet mordend und schlachtend einfielen, Wehrlose massakrierend.
Arye Sharuz Shalicar, einer der Militärsprecher Israels, sprach im taz-Interview daher zutreffend von einem „Mini-Holocaust“ – ein Gefühl, das mit dem 7. Oktober die israelische Bevölkerung (und wesentliche Teile der jüdischen Diaspora) beschlichen hat: Israel, Safe State für Jüdinnen und Juden, vermag offenbar das Leben seiner BürgerInnen nicht zu schützen.
Wehrbereitschaft ist keine Geschmacksfrage
Der jüdische Staat, zu dem mehr als ein Fünftel anderer religiöser Traditionen gehören, auch der Islam, ist von mehr oder weniger feindlich gesinnten Nachbarn umgeben – das macht dort Fragen der Verteidigung und Wehrbereitschaft nicht zu einer Geschmacksfrage in irgendeinem Diskurs zum Nahen Osten, sondern zu einer der Existenz schlechthin.
Das festzustellen, ist kein Resultat irgendeiner philosemitischen Haltung, erst recht nicht aufgrund irgendeines sogenannten Schuldkults (so der Historiker Dirk A. Moses und vieler seiner postkolonial gesinnten FreundInnen), sondern des demokratischen Verstands: Israel ist als Staat, allem jüdischen Prä zum Trotz, in seiner Region mit Abstand das Land, das allen liberalen Demokraten auch in der Mentalität am nächsten liegen sollte.
Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, demokratische Wahlen, ein Land ohne Todesstrafe und mit hohem Bewusstsein für ethnische Diversität: Wer Israel als „weißes“ Land imaginiert, gibt nachfragelos zu verstehen, noch nie da gewesen zu sein.
Lebendigere Demokratie als die deutsche
Israel müsste auch Linken ein positives Anliegen sein: ein utopisches Projekt, das wider alle Erwartungen zu gedeihen begann. Ein Staat, der sich 1948 per UN-Beschluss gründete (mit Hilfe der Sowjetunion auch, nicht der USA, nicht Großbritanniens) und aus so gut wie nichts in wüstenähnlicher Umgebung einen kapitalistischen Global Main Player machte, unabhängig von Religionen: Gegen die demokratisch ausgetragenen Streitigkeiten dort wirkt die bundesdeutsche Demokratie wie eine einschläfernde Veranstaltung. In Israel geht es immer um alles – deshalb werden die Debatten jetzt um den Krieg gegen die Hamas dort leidenschaftlicher ausgetragen, als sich aus den kargen Bildern, die deutsche Medien spiegeln, nur entnehmen lässt.
Israel müsste für Linke – nicht: Linksidentitäre, die vom Global South sprechen und die Welt sich nur ethnisiert vorstellen können, nicht als Mixtur wie eben etwa in Israel – auch deshalb attraktiv sein, weil es Meinungs- und Organisationsfreiheit gibt. Weil dessen arabische BürgerInnen einen viel höheren Lebensstandard genießen als etwa solche in Staaten wie Jordanien, dem Libanon oder Ägypten. Nichts in Israel ist paradiesisch, im Gegenteil.
Gegen die Politik Netanjahus hat die Hälfte der jüdischen Israelis (und auch der nichtjüdischen BürgerInnen) in den zehn Monaten vor dem 7. Oktober Woche für Woche in Tel Aviv lautstark protestiert. Die Paraden des Protests haben am Ende auch viele arabische Israelis willkommen geheißen, zumal das Thema der apartheidähnlichen Besatzung der Westbank aufgebracht werden konnte.
Das sind politische Kulturen der Selbstkritik, die aus den benachbarten arabischen Ländern nicht einmal phantasmatischerweise denkbar wären.
Palästina-Sentimentalität hilft keinem weiter
Dass die Militärinterventionen im Gazastreifen – von dort werden nach wie vor auch Bomben auf das verhasste Israel gestartet – auch in Israel umstritten sind, hat hauptsächlich mit dem Umstand zu tun, dass die Hamas-Täter immer noch über 100 Geiseln gefangen halten.
Israels Politik wird also kritisiert, am schärfsten in Israel selbst. Der Grund, warum linksidentitäre oder palästinasentimentalistische Kritik gerade aus westlichen Zirkeln so resonanzlos verhallt, ist simpel. Die meisten Beiträge, zuletzt der von Masha Gessen bei der von ihr beim Schopfe ergriffenen Chance, angelegentlich einer Preisverleihung in Bremen Israel zu dämonisieren – verkennen dessen politische Lage und erkennen nicht das Existenzrecht Israels an.
Sie halten, wie der Philosoph Omri Boehm, Israel nur als Konföderation mit den Palästinensern für denkbar, wollen den UN-Beschluss zur Staatsgründung revidieren: Warum also sollte auch nur irgendein liberaler oder linker Politiker, von Netanjahu und seinen Fellows zu schweigen, in Israel auf solchen surrealen Kram hören?
Wie es besser ginge
Jede Diskussion aus palästinensischem Blickwinkel macht sich realitätstüchtig, wenn sie auf Rückkehrrechte in früher nicht allein jüdisches Gebiet verzichtet. Wenn sie auf Handel setzt, nicht auf Massaker. Dann läge die Einsicht nicht fern: Wenn jemand die Sache der palästinensischen BürgerInnen besonders vernichtet, nachhaltig rufschädigt, dann ist es die Hamas, die mit dem 7. Oktober das größte Verbrechen auch gegen die eigene Bevölkerung angerichtet hat.
Netanjahu aber muss für sein politisches Versagen belangt werden, üblicherweise in demokratischen Ländern durch Wahlen. Es ist vor allem sein Scheitern, die Hamas für einhegbar, die palästinensische Frage für hinfällig gehalten – und eine nötige Zweistaatenlösung hintertrieben zu haben. Auf sein Konto geht auch die Verantwortung für die Vernachlässigung der Sicherheit zum Gazagebiet mit der mörderischen Hamas. Das ist eine verheerende Bilanz, aber so geht der „Kontext“, von dem jetzt alle linksidentitäre Welt redet. Nicht anders. Israel hat Probleme zu lösen und ist nicht ein Problem per se.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken