Debatte um Hannah-Arendt-Preis: Argue, don’t cry!
Masha Gessen hätte sich nach dem Vergleich Gazas mit einem NS-Deportationsghetto einer politisch-analytischen Diskussion stellen müssen.
M an kann Masha Gessen neben einem unverkennbaren Talent fürs Schreiben zugutehalten, dass schon Leute den Hannah-Arendt-Preis bekommen haben, die aus ihrem Israelhass gar keinen Hehl gemacht haben. Der katholische italienische Philosoph Gianni Vattimo aus der Schule des schwachen Denkens etwa erlangte große Popularität mit dem Satz „I’d like to shoot those Zionist bastards“ und meinte damit alle israelischen Juden.
2014, nach dem Raketenbeschuss der Hamas und der darauffolgenden Militäroperation Israels, machte er den völkerrechtswidrigen Vorschlag, den Hamas-Terroristen militärische Hilfe zukommen zu lassen. Zugegeben, da hatte er den Hannah-Arendt-Preis bereits, aber im Kreis der Arendt-Preisträger:innen finden sich weitere Denker:innen mit antizionistischen Äußerungen an der Grenze zum Antisemitismus.
Vielleicht sollte man gleich einen Preis für antizionistisches Denken ins Leben rufen, damit dieser ganze Schlamassel ein Ende hat und jedes Jahr teilen sich hundert Intellektuelle den Preis, weil: Da kommen ja einige zusammen. Antizionismus ist kein Verbrechen. Wenn aber Gerüchte die Analyse ersetzen, wird es schwierig.
Man könnte den Preis für politisches Denken auch einfach ernst nehmen und sich als poltische:r Denker:in der politischen Diskussion stellen. Das hätte Gessen letzte Woche in der Böll-Stiftung tun können und eine ernsthafte Diskussion über den so falschen Vergleich Gazas mit den NS-Deportationsghettos führen können.
Canceln ist eine sehr schlechte Idee
Statt einer inhaltlichen Auseinandersetzung stellte sich Gessen jedoch lieber in die Reihen des Opferchors, um, obwohl international gelesen und geehrt, über Silencing und deutschen McCarthyismus zu klagen und damit implizit den historischen McCarthyismus zu verharmlosen. Apropos canceln: Vielleicht müssten Jurys und Kurator:innen den intellektuellen Grips haben zu wissen, wen sie sich ins Haus holen, und das dann auch verteidigen, denn canceln ist ein schlechter Ansatz.
Wer all die Fragen, um die es in der Gessen-Gaza-Diskussion geht, problematisieren möchte, kann aktuell zu dem gerade im Verbrecher Verlag erschienenen Sammelband „Erinnern als höchste Form des Vergessen? (Um-)Deutungen des Holocaust und der ‚Historikerstreit 2.0‘“ greifen, der nebenbei auch zeigt, dass Eike Geisel, an den der Titel angelehnt ist, bereits in den 1990ern schon Intelligenteres über den „Verbrüderungskitsch“ und die „Wiedergutwerdung der Deutschen“ zu sagen hatte, ganz ohne den NS-Vernichtungs-Antisemitismus zu relativieren oder Israel von der Landkarte zu wünschen.
Im Sammelband findet sich auch ein Gespräch mit dem Historiker Yehuda Bauer, der die Shoah nicht unvergleichbar, im Gegenteil, aber präzedenzlos nennt. Und: „Der Holocaust wird von den Kritikern Israels missbraucht, um eine Parallele zwischen der Geschichte der Juden unter den Nazis und der der Palästinenser unter israelischer Herrschaft herzustellen, was natürlich absoluter Nonsens ist.“
Man kann hinzufügen: Je schiefer der Vergleich, desto größer die Wirkung.
[Anm. d. Red.: In einer vorherigen Version des Textes wurde ohne Zutun der Autorin in der Unterzeile ein falsches Pronomen verwendet. Wir bitten dafür um Entschuldigung.]
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