Mechanismen des Antisemitismus: Ideologie, Hass, Ignoranz

Zwei Monate nach dem Terroranschlag der Hamas ist die Frage noch immer unbeantwortet: Wie soll man mit den Leugnern und Verharmlosern zusammenleben?

In einem zerstörten Haus liegt eine Puppe auf einem Schaukelstuhl.

Dokument des Terrors: Ein zerstörtes Haus im Kibbuzz Beeri nach dem 7. Oktober Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

Als ich diese Kolumne schreibe, ist der Terror, der am 7. Oktober über Israel kam, exakt zwei Monate her. Zwei Monate, die sich anfühlen wie ein langer Tag, ein Albtraum, den man nie träumen wollte, aus dem es kein Erwachen gibt.

Mir gehen die Worte aus, also wiederhole ich seit dem 7. Oktober immer wieder dasselbe. Aus einem Gefühl heraus, dass nicht begriffen werden will, was ich sage, was ich anprangere.

Seit dem 7. Oktober gibt es viele Betroffene, es gibt Opfer. Aber angeblich keine Antisemiten. Jedenfalls denkt ein nicht unerheblicher Teil der Menschheit so. Die Tatsache, dass Terroristen der Hamas getötet, gefoltert und vergewaltigt haben; der Fakt, dass 1.200 Zi­vi­lis­ten ermordet, 240 Menschen verschleppt (und zum Teil wieder freigelassen) wurden, wird von der arabischen Welt zu Teilen verschleiert, angezweifelt oder gar gefeiert. Und nicht nur von ihr.

Das Massaker vom 7. Oktober wurde von seinen Tätern so gut digital dokumentiert wie wohl wenige Verbrechen zuvor. Die Terroristen filmten ihre Taten mit Bodycams. Sie posteten Videos und Fotos auf Telegram und anderen Plattformen. Sie streamten ihre Taten über die Telefone ihrer Opfer.

Antisemitische Stereotype

Es war nicht genug, dass sich vor zwei Monaten der pure Hass, die Brutalität der Hamas-Terroristen gegen Israelis richtete, auch sind Jüdinnen und Juden weltweit einer neuen Welle des Judenhasses ausgesetzt. Der Hass der Terrorverharmloser und -befürworter richtet sich ebenfalls gegen diejenigen, die Opfer der Hamas wurden, und gegen alle anderen Juden. Wer das nicht versteht – oder nicht wahrhaben will –, hat die Mechanismen von Antisemitismus nicht verstanden. Erst die Abwehr ermöglicht, die antisemitischen Vernichtungstaten zu leugnen und weiter antisemitische Stereotype zu reproduzieren.

Heute rufen die Terror-Fans „Zionisten sind die Täter“ und meinen damit Juden, und ich muss unweigerlich an Jean Améry denken, wie er nach den Demonstrationen in Deutschland, die 1967 in Folge des Sechstagekriegs stattfanden, kommentierte: „Man darf rufen: ‚Schlagt die Zionisten tot, macht den Nahen Osten rot!‘ – und kann verschweigen oder sogar empört die Insinuation zurückweisen, dass in diesem Kampfruf ein anderer, nur allzu bekannter mitschwinge: das ganz eindeutige ‚Juda verrecke‘ der Nazis.“ Manche Dinge ändern sich wohl nie.

Wenn Terroristen das schlimmste Massaker an Juden, gerechnet an der Zahl der Ermordeten, seit der Shoa verüben, heißt es: Widerstand! Und vergiss mal nicht den Kontext, in dem das passiert ist! Selbst schuld, wenn man neben einem Freiluftgefängnis feiert!

Wenn Überlebende und Ermittler von brutalsten (Massen-)Vergewaltigungen durch die Terroristen an Mädchen und Frauen berichten, vernimmt man von vielen: Schweigen.

Wenn israelische Geiseln im Gegenzug für palästinensische Gefangene freigelassen werden, heißt es: Schaut, wie gut sich die Hamas um die Geiseln gekümmert hat, die haben ihnen sogar beigebracht, ihr Essen untereinander zu teilen, das nennt man arabische Gastfreundschaft. Und schau mal, wie entspannt die Geiseln in die Kamera lächeln und winken.

Dass Geiseln in der Anwesenheit ihrer Täter in einer Zwangssituation sind und alles tun würden, um freigelassen zu werden, dass sie in Geiselhaft hungern mussten und sie das wenige Essen untereinander teilten, dass den Geiseln, wie Ärzte berichten, Beruhigungsmittel verabreicht wurden, damit sie bei ihrer Freilassung „entspannt“ wirkten, wird negiert, aggressiv niedergebrüllt. Hinter solchen Verharmlosungen und Relativierungen kann nur eines stecken: Ideologie, Hass und Ignoranz.

Zwei Monate Schmerz und Trauer, und ich werde die Frage nicht los, wie man mit Menschen, die sich für Realitätsverweigerung entscheiden, weiter in dieser Welt zusammen­leben soll. Eine Antwort darauf habe ich nicht.

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Redakteurin für Gesellschaft im Ressort taz zwei. Schreibt über postsowjetische Migration, jüdisches Leben und Antisemitismus sowie Osteuropa. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber. Freie Podcasterin und Moderatorin.

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