Bundesweite Autobahnblockaden: Am Ort des zivilen Ungehorsams
Seit Wochen blockieren Besetzer:innen bundesweit Autobahnen. Damit wollen sie auf Lebensmittelverschwendung aufmerksam machen.
6.50 Uhr. Berufsverkehr. Menschen, die zur Arbeit fahren. Heute werden viele von ihnen nicht pünktlich ankommen. Die Ampel schaltet auf Rot. Zwölf Aktivist:innen zwischen Anfang zwanzig und Mitte sechzig erscheinen in wetterfester Kleidung, ziehen sich orange Warnwesten an und setzen sich auf die Straße vor die haltenden Autos. „Essen retten. Leben retten“, heißt es weiß auf schwarz in Großbuchstaben auf ihren Bannern. Die Fußgängerampel springt auf Rot, und sie bleiben sitzen.
Es ist nicht das erste Mal, dass die „letzte Generation“ unbequeme Forderungen stellt: Im September vergangenen Jahres waren sie in einen fast vierwöchigen Hungerstreik getreten und hatten ein öffentliches Gespräch mit den damaligen Kanzlerkandidat:innen sowie die Einberufung eines Bürger:innenrats gefordert, der Sofortmaßnahmen gegen die Klimakrise beschließen sollte. Tatsächlich gab es ein Gespräch mit Olaf Scholz im November.
Nun sind die Forderungen konkreter: Ein Essen-Retten-Gesetz, das vorschreibt, dass abgelaufene Lebensmittel gespendet und nicht weggeworfen werden sollen. Um das durchzusetzen, blockieren die Aktivist:innen nun seit einigen Wochen bundesweit Autobahnen.
Verständnis von Ricarda Lang
Inzwischen haben die Aktionen auch das politische Berlin erreicht: Der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei, kritisierte Grünen-Chefin Ricarda Lang. Sie hatte Verständnis für die Aktivist:innen gezeigt. Ziviler Ungehorsam sei ein legitimes Mittel politischen Protests, solange dieser friedlich sei, sagte Lang. Autobahnen zu blockieren sei kein Kavaliersdelikt, betonte hingegen CDU-Mann Frei.
An der A100 stockt indes der Verkehr – und kommt zum Stehen. „Verpisst euch“, ruft es immer wieder aus vorbeifahrenden Autos aus der unblockierten Richtung. Einige scheinen die Aktivist:innen schon zu kennen. Auf Twitter kursiert ein Video, in dem ein Autofahrer einer Aktivistin ins Gesicht schlägt. Am Montag stiegen sogar Fahrer:innen aus den Autos, um selbst die Protestler von der Straße zu zerren. Das Rufen und Hupen scheint dagegen harmlos.
Die Aktivist:innen packen Lebensmittel aus ihren Rucksäcken, legen sie vor sich auf die Straße. Brot, Gemüse, Joghurt – frisch und genießbar wirken die Produkte. Alles containert. Die meisten unter ihnen haben sich erst in den vergangenen Wochen dem „Aufstand“ angeschlossen. Insgesamt 43 Personen blockieren am vergangenen Freitagmorgen in Berlin an fünf verschiedenen Punkten die A100 und ihre Ausfahrten. Weitere Aktionen gibt es in Hamburg, Frankfurt, Stuttgart und München. 50 „Bürger:innen“ landen an dem Tag laut Polizei im Gewahrsam.
Sobald die Autos auch auf der A100 zum Stehen kommen, folgt die eigentliche Blockade: Fünf Aktivisten klettern über die Schutzplanken, setzen sich auf die Straße. Legen Nahrungsmittel vor sich aus. Die Blockadepunkte tragen Namen von Lebensmitteln. Vier der fünf kleben mit Sekundenkleber ihre linke Handfläche auf den kalten Asphalt. Auch an der Ausfahrt kleben sich zwei an die Fahrbahn.
Resignierte und verständnisvolle Autofahrer:innen
Die ersten Polizeiautos sind zur Stelle. Überraschend schnell. „Wissen Sie vielleicht, wie lange das noch dauert?“, fragt eine mittelalte Frau mit kurzen Haaren. Sie sitzt in der ersten Reihe eines Citroën-Kombi und berlinert stark. „Ich bin Floristin und muss pünktlich bei einer Beisetzung sein.“ Sie verstehe „das ja alles. Meine Söhne essen auch seit Langem kein Fleisch mehr. Aber setzt euch doch vor den Supermarkt“, sagt sie zu einem Aktivisten, der am Straßenrand die Koordination der Gruppe übernimmt, Fotos macht und Infos zur Blockade per Telegram postet.
Eine andere Aktivistin übernimmt eine ähnliche Funktion auf der A100. Sie soll bei den Autofahrer:innen für Deeskalation sorgen. Die meisten wollten nur wissen, wann es endlich weitergehe, erzählt sie später. Zu überzeugen versuche man nicht, sagt sie, nur die Aktion zu erklären.
„Dieses Ankleben an die Straße ist ja auch ganz schlimm für die Haut“, meint die Floristin. „Den Aktivist:innen geht es um Größeres als ihre Haut“, antwortet ein Mann am Straßenrand, der Fotos macht. Die Frau steigt zurück in ihr Auto. Immer mehr Polizeiwagen erreichen die Blockade. Es wird langsam Tag, ein grau verhangener Tag. Es bleibt kalt. Der Stau ist schon mindestens einen Kilometer lang.
In einem Kleintransporter sitzen zwei junge Arbeiter und lassen die Fenster herunter, um zu fragen, wie lange das Ganze noch dauere. „Interessieren Sie sich nicht dafür, das Klima zu retten?“, werden sie gefragt. Sie zucken mit den Schultern. Sie müssten heute noch auf Montage nach Magdeburg.
Junger Vater und Aktivist
Vor ihnen sitzen die blockierenden Aktivisten weiter auf dem kalten Asphalt. Ob er denn nicht arbeiten müsse? „Ich habe mir extra heute Urlaub genommen, das ist mir das wert“, sagt einer der Aktivisten. Er trägt so wie alle anderen auch eine schwarze FFP2-Maske. „Hilft mir auch nichts, wenn ich auf einem fetten Batzen Kohle sitze und alle hungern.“ Er hat zwei Kinder und macht sich Sorgen um die Essenversorgung der Zukunft. Er sieht jung aus, vermutlich um die dreißig.
„Wäre es nicht besser, zu containern oder Supermärkte zu blockieren?“
„Vor den Blockaden sind wir gezielt zu Supermärkten gegangen, haben dort containert, dann Selbstanzeige gemacht und das Essen verteilt. Die Polizei ist hingekommen und hat das Ganze wieder zurückgebracht. Aufgrund der Inaktivität der Regierung und der nahenden Klimakatastrophe sehen wir uns gezwungen, drastischere Maßnahmen zu treffen“, sagt der Aktivist.
Aktivist
„Freund:innen macht ihr euch hier aber keine.“
„Wir haben Mitgefühl für die Menschen in den Autos. Aber hier schaffen wir es jeden Tag immer wieder, in die Presse zu kommen. Sobald Olaf Scholz das Gesetz zur Lebensmittelrettung geschrieben hat, hören wir auf.“
Rettungswege versperrt?
„Ein unnötiger Einsatz heute?“ Eine junge Polizistin zuckt mit den Schultern und zeigt auf das Blaulicht, das mehrere hundert Meter weiter auf der Fahrbahn leuchtet. „Das könnte ein Rettungswagen sein. Die Aktivisten gefährden Menschenleben.“ Tatsächlich stammt das Blaulicht von der Polizei an der zweiten Blockade.
Mittlerweile sind es über fünfzig Polizist:innen mit Einsatzwagen, die sich um die Aktivist:innen positioniert haben. Ein älterer Polizist erklärt den Blockierenden, die Blockade sei ein Verstoß gegen das Versammlungsgesetz. Fast schon entspannt redet er im Berliner Dialekt. Er fordert die Aktivist:innen auf, bitte auf den Gehweg zu wechseln. Diese reagieren nicht.
Nach zwei weiteren Aufforderungen tragen die Polizist:innen die Aktivist:innen selbst auf die Seite. Immer zwei, drei Staatsdiener:innen pro Person. Sie halten Arme und Beine verschränkt, als hätten sie die Räumung eingeübt. Zwei bleiben sitzen, kleben immer noch fest auf der Fahrbahn. Es heißt warten, bis die zuständigen Beamten mit einem Stoff kommen, um den Kleber und sie vom Asphalt zu lösen. Völlig anteilnahmslos holt einer der beiden ein Buch aus seinem Rucksack und beginnt zu lesen.
„Hat sich die Aktion gelohnt?“ „Sicher. Es sind kleine Schritte, die zum richtigen Ziel führen“, sagt eine Frau mit bunt gefärbten Haaren, die eine violette Winterjacke unter der orange Warnweste trägt. Sie ist Studentin und heute das erste Mal angeklebt. Mit Wärmflasche und Rettungsdecke schützt sie ihre Hand.
Mehrere Aktivist:innen in Einzelhaft
Irgendwann wird auch sie von von der Straße getragen. Die Autos sind längst umgelenkt worden, das Essen von den Polizist:innen von der Straße gekehrt. Die Fahrbahn ist frei. Die Floristin hat es vermutlich dennoch nicht pünktlich zur Beisetzung geschafft.
8.30 Uhr. Etwas heller als zu Beginn der Blockade. Autos fahren wieder auf der A100. Dem Ort, den der „Aufstand der letzten Generation“ am Sonntag zu einem „Ort des gewaltfreien zivilen Widerstandes“ ernannt hat. Geldstrafen hat es für die Aktivist:innen bislang noch nicht gegeben. Mehrere Strafverfahren wurden aber bereits eingeleitet. Mittlerweile sind in Berlin 16 Aktivist:innen in Einzelhaft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Fortschrittsinfluencer über Zuversicht
„Es setzt sich durch, wer die bessere Geschichte hat“