Autobahnbau in Berlin: FDP mit fiebrigen Retroträumen
Verkehrsminister Wissing will die umstrittene A100 in Berlin weiterbauen. Selbst Berlins Regierende Bürgermeisterin Giffey reagiert irritiert.
Mitten in die Kriegsberichterstattung platzte am Dienstag eine Ankündigung von Daniela Kluckert, FDP-Staatssekretärin im Bundesverkehrsministerium, die fast so fossil wirkt wie ein Angriffskrieg in Europa: Man werde in Berlin auch das letzte Teilstück der Verlängerung der Stadtautobahn 100 bauen – bis tief in den dicht besiedelten Innenstadtteil Friedrichshain. Die Ausschreibung der Planung dafür sei jetzt erfolgt, so Kluckert in einem Interview mit der Berliner Morgenpost.
Dabei war die letzte vor Jahrzehnten angedachte Verlängerung der A 100 politisch längst als überholt abgehakt. Derzeit wird am 16. Abschnitt der Stadtautobahn gebaut, von Neukölln bis nach Treptow: Die gut drei Kilometer, die 2024 fertig sein sollen, kosten mindestens 700 Millionen Euro – teurer ist kaum ein Straßenkilometer. Der 17. Abschnitt, für den FDP-Verkehrsminister Volker Wissing jetzt das Go gegeben hat, gilt mit seinem Tunnel und dem Abriss zahlreicher Gebäude als noch aufwendiger: Die 2013 dafür errechneten 530 Millionen Euro gelten als überholt.
Kein Wunder, dass die Berliner Regierungsparteien Grüne und Linke diese Planung schon lange ablehnen. Und selbst die SPD als dritter Partner im Bunde traut sich längst nicht mehr, den 17. Bauabschnitt selbst zu fordern: Im Wahlprogramm 2021 sprach sie sich für einen Bürgerentscheid darüber aus. Im rot-grün-roten Koalitionsvertrag wurde dieser auf Eis gelegt. Allerdings liegt der Bau von Autobahnen in der Verantwortung der Bundesregierung.
Doch selbst Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD), die Autos nicht leidenschaftslos gegenübersteht, reagierte irritiert. „Wir haben davon durch die Presse erfahren“, sagte sie – stets ein schlechtes Zeichen. Die Bundesgrünen fühlten sich vom Vorpreschen der FDP brüskiert. Ihr Berliner Bundestagsabgeordneter und Verkehrsexperte Stefan Gelbhaar sprach von einem „Alleingang“ Wissings wider die Koalitionsräson: „Die A 100 ist weder nötig noch sinnvoll.“
Bleibt die Frage, warum der nicht mit Berlin und den Koalitionspartnern abgesprochene Vorstoß aus dem FDP-Ministerium gerade jetzt kam. Wollte Wissing sich auch mal als Macher darstellen; als einer, der die Grünen genauso düpieren kann wie FDP-Justizminister Marco Buschmann seinen SPD-Kollegen Karl Lauterbach in Sachen Corona-Auflagen? Oder war es ein Testballon, ob Autobahnen zu Fantasiepreisen überhaupt noch politisch durchsetzbar sind? Was Letzteres angeht, ist zumindest klar: Je länger der Bundestag zögert, den 17. Bauabschnitt der A 100 mit rot-grün-gelber Mehrheit aus dem Bundesfernstraßengesetz zu streichen, desto wahrscheinlicher wird der Bau dieser absurden Autobahn.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen