Ausgangsbeschränkungen wegen Corona: Das härteste Mittel
Am Wochenende könnte eine bundesweite Ausgangssperre kommen. Ein tiefer Einschnitt, dessen Nutzen nicht mal Wissenschaftler*innen klar ist.
Auf der Haupteinkaufsstraße „Kajo“ ist wenig los. Aber das kann auch andere Gründe haben, schließlich sind Kaufhäuser und Einzelhandel schon seit zwei Tagen zu. Doch auch sonst ist es außergewöhnlich ruhig. Auf den Treppen des Augustinerplatzes sitzen nur zwei Paare. Am Ufer der Dreisam verlieren sich einige wenige Sonnenbadende, sie liegen allein oder zu zweit, maximal zu dritt. Die Stimmung ist nicht gespenstisch. Es ist ja sonnig.
Auch der große Platz vor dem Theater ist ziemlich leer, fünf Punks sind da. Was sie morgen machen? Blöde Frage an Punks, das wissen sie noch nicht. Am geschäftigsten ist es noch auf dem Stühlinger Kirchplatz, ein Treffpunkt für Geflüchtete und Migrant*innen aus Afrika. Wenn es in den Tagen vorher schon so ruhig gewesen wäre, hätte die Stadt wohl keine Ausgangssperre verhängt.
Am Donnerstag hat die Stadt Freiburg angeordnet, dass sich die Menschen ab Samstag nur noch eingeschränkt in der Stadt bewegen dürfen. In drei nordbayerischen Gemeinden gelten bereits Auflagen, die noch strenger sind als die am Fuße des Schwarzwalds. Nach und nach ziehen jetzt ganze Bundesländer nach: Sowohl Bayern als auch das Saarland haben am Freitag generelle Ausgangsbeschränkungen beschlossen, auch Baden-Württemberg verschärfte landesweit die Regeln. Alle Maßnahmen sind auf das Infektionsschutzgesetz gestützt.
Letzte Warnung
Und das ist wohl noch nicht alles. Spätestens am Sonntagabend wird Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Telefonschalte mit den Ministerpräsident*innen über weitere Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus sprechen. Regierungssprecher Steffen Seibert kündigte an, dass sie besprechen werden, wie weit die bisher geltenden Auflagen und Ratschläge „umgesetzt und eingehalten“ werden. „Dabei wird sicher auch entscheidend sein, wie sich das am Wochenende im öffentlichen Bild darstellt.“
Im Klartext: Versammeln sich zu viele Menschen in Parks, Cafés oder auf Spielplätzen, ohne ausreichend Abstand zueinander zu halten, könnten bundesweite Ausgangssperren kommen.
Unumstritten ist so ein Schritt natürlich nicht. Die Regierungschefs von Berlin, Hessen und Schleswig-Holstein äußerten sich am Freitag zurückhaltend zu möglichen Ausgangssperren in ihren Ländern. SPD-Chefin Saskia Esken lehnte eine so drastische Maßnahme sogar ganz ab. „Ich bin überzeugt: Als freiheitliche Gesellschaft brauchen wir keine #Ausgangssperre“, twitterte sie. „Die meisten Menschen verhalten sich vernünftig, verantwortungsvoll und solidarisch. Das sollten wir nicht gefährden!“
Eingriff in Grundrechte
Tatsächlich greifen Ausgangssperren und Ähnliches tief in Grundrechte ein, zum Beispiel in das Recht, sich in Deutschland frei zu bewegen. Allerdings sind Eingriffe in Grundrechte durchaus möglich, wenn es dafür legitime Zwecke gibt. So sieht das Grundgesetz in Artikel 11, der das Grundrecht der Freizügigkeit garantiert, ausdrücklich die Möglichkeit vor, „zur Bekämpfung der Seuchengefahr“ die Rechte Einzelner einzuschränken.
Wie immer muss staatliches Handeln aber das Prinzip der Verhältnismäßigkeit beachten. Das heißt: Auch eine Ausgangssperre muss geeignet, erforderlich und angemessen sein. Dabei kommt es auf die Nuancen an.
Die ab Samstag geltende Allgemeinverfügung der Stadt Freiburg verzichtet auf den Begriff der „Ausgangssperre“, sondern spricht von einem „Betretungsverbot für öffentliche Orte“, wozu Straßen, Gehwege, Plätze und öffentliche Grünflächen gehören. Einzelpersonen, Zweiergruppen und Personen, die zusammenwohnen, können sich weiterhin an öffentlichen Orten aufhalten. Sie müssen nur 1,5 Meter Abstand zu anderen wahren und sie dürfen den öffentlichen Nahverkehr nicht benutzen. Dass es in Freiburg weitere Ausnahmen gibt, etwa für Arztbesuche und Einkäufe, spielt da nur eine Rolle, wenn man mit Bus oder Straßenbahn zum Arzt oder zum Einkaufen fahren will.
Bayern ist strenger
Die Verfügung in Freiburg genügt sicher eher den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit als die strengeren Regelungen in den drei nordbayerischen Kommunen. Sie wurden von den jeweils zuständigen Landratsämtern in Tirschenreuth und Wunsiedel beschlossen und auch ausdrücklich als „Ausgangssperre“ benannt. Ausnahmsweise erlaubt sind dort zum Beispiel Einkäufe, Arztbesuche, Geldabheben, Tanken und die Versorgung von Haustieren.
Zu weit könnte beispielsweise gehen, dass es in der Gemeinde Mitterteich bereits verboten ist, allein zu joggen oder dass Geschwister nicht gemeinsam im Park spielen dürfen. Hier wird es in den kommenden Tagen sicher erste Gerichtsurteile geben.
Die Allgemeinverfügung der bayerischen Regierung, die Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) am Freitag für das ganze Bundesland erlassen hat, verwendet den Begriff „vorläufige Ausgangsbeschränkung“. Wie immer kommt es aber nicht auf den Begriff an, sondern auf die konkrete Anordnung. Die Regelung liegt in der Strenge zwischen Mitterteich und Freiburg. Zwar dürfen sich Einzelpersonen und Familien nicht generell im Freien aufhalten, allerdings ist auch „Sport und Bewegung an der frischen Luft“ erlaubt. Man darf also joggen, radfahren und spazierengehen.
Das alles ist aber nur erlaubt, wenn man allein oder mit dem „eigenen Hausstand“ unterwegs ist. Jede „sonstige Gruppenbildung“ bei der Bewegung im Freien ist verboten. Wer sich nicht an die Ausgangsbeschränkung hält, muss in Bayern mit Bußgeldern bis zu 25.000 Euro rechnen. Die Rechtsgrundlage passt allerdings nicht so recht, so dass es bei der Drohung bleiben dürfte.
Wissenschaft an ihren Grenzen
Bei der Frage der Verhältnismäßigkeit geht es aber nicht nur darum, wie hart die Maßnahmen sind – sondern auch, was sie bringen. Und das ist im Fall der Ausgangssperren selbst Expert*innen zufolge noch ungewiss.
Aus Sicht der Wissenschaft ist nur eines klar: Nicht einzugreifen, abzuwarten und die Dinge einfach laufen zu lassen, ist, Stand Freitag, keine Option. Lothar Wieler, der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) und damit Deutschlands oberster Seuchenschützer, gibt am Morgen in Berlin ein knappes Pressebriefing. Er referiert erst die Daten mit der unter Naturwissenschaftlern üblichen Nüchternheit.
Dann, plötzlich, lässt er doch seiner Anspannung freien Lauf: Er bittet alle, wirklich alle Menschen im Land, „endlich die Augen zu öffnen vor der Realität“. Abstand zu halten, auch innerhalb der Familie, soziale Kontakte zu vermeiden, darauf komme es wirklich an. Aber die Journalist*innen wollen mehr wissen, sie wollen, dass der RKI-Chef Stellung bezieht, Ausgangssperre ja oder nein, er soll das jetzt sagen. Wieler windet sich, schließlich teilt er mit: „Meine Rolle ist die eines unabhängigen Wissenschaftlers. Wir können nichts weiter tun, als die Annahmen zu vermitteln.“
Es stimmt ja: Schlussfolgerungen für richtiges Handeln muss immer die Politik ziehen. Wissenschaft kann präzises, überprüfbares Wissen schaffen. Sie kann dieses Wissen transparent darstellen. Wissenschaft kann, wenn es gut läuft, Wenn-dann-Aussagen treffen. Was aber, wenn diese Wenn-dann-Aussagen gar nicht existent sind? Wenn gar nicht bekannt ist, wie viel und welchen Zusatznutzen eine Ausgangssperre überhaupt hätte im Vergleich zu den bisherigen, bereits sehr drastischen Einschränkungen?
Abwägung muss sein
E-Mail an Andreas Stang, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie und Chef-Epidemiologe der Uniklinik Essen. Wenn einer im Land über den Forschungsstand zum etwaigen Zusatznutzen einer Ausgangssperre Bescheid wissen müsste, dann er.
Stangs Antwort ist ernüchternd: „Der zu erwartende Zusatznutzen kann hier nicht wirklich quantifiziert werden.“ Es bestehe „die Annahme“, dass die Zahl der Menschen, die ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt, durch eine Sperre weiter gesenkt werden könne. Allerdings, mahnt Stang, sei auch hier eine Abwägung unerlässlich: „Ausgangssperren können auch bezüglich anderer Dinge negative Folgen haben.“
Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, hat einige dieser möglichen negativen Folgen bereits benannt: extreme Ängste, die eine solche gespenstische Atmosphäre bei vielen Menschen auslösen könnte; Auseinanderbrechen der gesellschaftlichen Solidarität.
Und, auch das ist klar: Egal, welche Maßnahme der Staat ergreift – solange kein Impfstoff da ist, wird sich das Virus nach einer Lockerung dieser Maßnahmen wieder ausbreiten. Die Frage ist, in welcher Geschwindigkeit. Eine „rein infektionsepidemiologische Sicht“, warnt denn auch die Epidemiologin Irene Schmidtmann von der Uni Mainz gegenüber der taz, lasse „Kollateralschäden“, wirtschaftliche Folgen etwa, unberücksichtigt.
Der Vergleich fehlt
Bevor man sich also dazu entschließt, 82 Millionen Menschen in ihre eigenen vier Wände einzuschließen, könnte man zumindest erwarten, dass Nutzen und Wirken der Maßnahme begleitend erforscht werden.
Doch danach sieht es derzeit nicht aus: Theoretisch, erklären die Epidemiologen Schmidtmann und Stang, seien Studien zum Zusatznutzen von Ausgangssperren zwar möglich, „wenn man ansonsten vergleichbare Regionen mit unterschiedlicher ‚policy‘ vergleicht“. Zu messen sei dann, ob und wie stark das Fallaufkommen nach Einführung der Ausgangssperre tatsächlich ist – im Vergleich zu vorher oder zu Regionen ohne Sperre.
In der Praxis gebe es entsprechende Forschungsansätze noch nicht: „Weltweit steht die Scientific Community wegen des Erregers und seinen Pandemiefolgen ziemlich unter Druck, da uns viele wichtige Daten der Pandemie noch nicht zur Verfügung stehen“, sagt Stang. „Wir tun, was wir können.“
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