Corona in Norditalien: Allen geht die Luft aus
Die Kleinstadt Alzano Lombardo liegt im Epizentrum der Epidemie in Italien. Sanitäter entscheiden über Leben und Tod
Amatos zwei Söhne, in Isolation in ihrem Zimmer, kommen heraus und winken zum Abschied von der Türschwelle. Über dem Mund tragen sie ein Plüschtier als Maske.
Alzano Lombardo ist die röteste Zone dieses Italiens in Quarantäne, wo es (Stand Freitag) 41.035 Infizierte und 3.405 Tote gibt. Um Panik zu vermeiden, schalten die Krankenwagen keine Sirenen mehr ein, sondern nur Blaulicht. Die Straßen sind verlassen; lediglich die Kleintransporter der Bestattungsunternehmen sind unterwegs.
Wir befinden uns nicht weit von Bergamo, einer Region mit 10 Millionen Einwohner*innen, wo es nach Aussage ihres Sozialreferenten Giulio Gallera am Donnerstag in den Krankenhäusern zwischen neuen Einlieferungen und Entlassungen, entweder direkt nach Hause oder auf den Friedhof, auf den Intensivstationen nur noch 10 freie Betten gab.
Kein Bett, Kein Sauerstoff
Aber hier, wo alles begonnen hat und sie dem Rest des Landes und Europa zwei Wochen voraus sind, sind nicht nur alle Betten aus, sondern auch der Sauerstoff. Während seines letzten Nachtdienstes erhielt der Apotheker Andrea Raciti 42 Anfragen, am Ende hatte er keine einzige Sauerstoffflasche mehr.
Wer zu Hause liegt, für den ist Paracetamol das Heilmittel. Und eine Portion Glück.
Im Krankenwagen des Roten Kreuzes stammen die Atemschutzmasken an diesem Tag von einer Zahnärztin, der Mutter des jüngsten freiwilligen Helfers Sergio Solivani. Er ist 21 Jahre und studiert Philosophie, derzeit ein nützliches Fach, geht es doch nicht darum, wie man einschreiten, sondern ob man einschreiten soll. Und das ist nicht nur eine medizinische, sondern auch eine moralische Frage. „Vor allem bei den ganz Alten“, sagt Solivani.
Der Name in den Todesanzeigen
Die Alten sind am stärksten und am härtesten betroffen, das weiß man. „Sie einzuliefern ist oft das größere Übel. Denn im Krankenhaus sind Besuche verboten, sie sind sich selbt überlassen, inmitten von Unbekannten“, sagt Solivani. „In einem Fall haben wir lange überlegt, zusammen mit der Zentrale und den Ärzten, dann haben wir uns für den Transport ins Krankenhaus entschieden. Zwei Tage später tauchte der Name der Frau in den Todesanzeigen auf. Sie ist wohl sofort gestorben. Vielleicht während sie noch auf die Aufnahme wartete. Und ich habe gedacht: Hoffentlich hat sie wenigstens ein Glas Wasser bekommen.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
„Nicht Sauerstoff“, sagt er und senkt den Kopf. „Aber etwas Wasser.“
Sie sind allein, und in manchen Fällen lässt man sie auch allein. „Gestern waren wir bei dieser alten Frau“, sagt Solivani, „total hinfällig, nur Haut und Knochen. Sie hat eigentlich eine Altenpflegerin, aber die lag mit Fieber bei sich zu Hause. Der Ehemann stand in der Tür, verwirrt, nahezu blind, nicht mehr in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Wir haben uns gefragt: Und was ist mit ihm? Wir retten die einen und schaden den anderen.“
Nicht alle haben einen Sohn in der Nähe wie die 87-jährige Teresina Varesi, die Schwierigkeiten beim Atmen hat. Und Fieber. Schmerzen im Brustkorb. Es sei schwer, rauszukriegen, was sie hat, weil sie nicht klar genug sei, sich zu erklären, sagt Lujan, die südamerikanische Pflegerin. Trotz Angst wacht sie Tag und Nacht bei ihr, eingemummt und ausgerüstet mit Desinfektionsmitteln. Sie könne doch jetzt nicht weggehen, sagt sie, außerdem lebe ihre Familie in Bolivien von ihrer Unterstützung. Sofort desinfiziert sie den Stift, mit dem sie ihren Namen notiert hat.
Im Halbschatten unter einer Madonnenfigur
Der Sohn von Teresina Varesi hilft der Belegschaft vom Roten Kreuz, das Bett seiner Mutter frisch zu machen, ohne dass sie dabei die Knochen bricht, so zierlich ist sie. Und wie alle Söhne kapituliert er nicht so schnell: Während sie im Halbschatten des Zimmers da liegt, unter einen Madonnenfigur, nach Luft ringend, versucht er noch, sie bei sich zu Hause zu behalten, und sagt: Vielleicht ist es bloß eine Erkältung.
Andererseits: Das nächste Krankenhaus wäre das Niguarda in Mailand. Das Krankenhaus in Alzano Lombardo nimmt niemanden mehr auf, viele Ärzte und Pfleger*innen sind selbst infiziert oder krank. Im Moment kommt niemand rein und niemand raus. Auch die anderen Krankenhäuser in der Region sind voll.
Wieder auf der Straße, schält sich die Belegschaft aus den weißen Schutzanzügen. Dann sind die Handschuhe dran, die Atemschutzmaske. Sie desinfizieren alles, Zentimeter für Zentimeter, dem Letzten wird vom Ersten geholfen, der dann erneut die Handschuhe wechseln muss: eine Art Domino. Wie soll man sich desinfizieren, wenn auch das Desinfektionsmittel infiziert sein kann?
Aus den Fenstern der Häuser ängstliche Blicke. Wer wird der Nächste sein?
Trotzdem, das Nachprüfen der Handynetze hat ergeben, dass selbst in der Lombardei, im Epizentrum der Krise, 40 Prozent der Bevölkerung gegen die Quarantänebestimmungen verstoßen und nicht zu Hause bleiben. Noch immer behaupten viele, die Toten seien eben sehr alt gewesen. Oder hätten Vorerkrankungen gehabt, sie seien folglich an etwas anderem gestorben.
Das Gesundheitssystem kollabiert
In gewisser Hinsicht verhält es sich andersherum: Wer jetzt an einer Vorerkrankung stirbt, der stirbt in Wirklichkeit an Covid-19, der stirbt durch ein kollabierendes Gesundheitssystem, auch wenn das der Lombardei zu den besten Italiens gehört.
Die Gründe für die hohe Todesrate sind auch sozialer Natur: Italien hat ähnlich wie Deutschland ein sehr hohes Durchschnittsalter, und gerade im ländlichen Raum leben besonders viele alte Menschen, die Jungen sind weggezogen in die Städte. Dennoch leben Familien oft weiterhin in mehreren Generationen zusammen oder zumindest nah beieinander, denn die Alten kümmern sich um die Enkel und umgekehrt. Das macht es mit der Isolation schwierig.
Romano Lugli, 89 Jahre alt, ist eigentlich bloß im Flur ausgerutscht. Die Tochter, sein einziges Kind und selbst kinderlos, hat eine Leberkrebsoperation hinter sich und ist physisch wie psychisch völlig am Ende. In diesen Tagen gibt es keine Chance auf häusliche Unterstützung, trotzdem hat sie darum gebeten. Und während sie jetzt hofft, dass ihr Vater im Krankenhaus aufgenommen wird, läuft sie nervös im Wohnzimmer auf und ab und fragt: „Es ist doch besser so? Oder irre ich mich?“
Die Sanitäter versuchen ihr zu sagen, dass ihr Vater nur die Prellung habe und eben alt sei. Und dass sich sein Zustand im Krankenhaus eher verschlechtern könnte. Aber sie ist erschöpft, neben der Spur, in Tränen aufgelöst – um 19.50 Uhr hat sie den Notruf gewählt, drei Stunden später ist der Notarztwagen eingetroffen. „Was glaubst du“, fragt sie immer wieder, „es ist doch besser so, oder?“ Instinktiv will einer der Helfer sie in den Arm nehmen. „Entschuldigung, das darf ich nicht“, sagt er, hält inne, seinen Arm ausgestreckt in der Luft.
Als der Vater schon fast im Treppenhaus ist, fertig zum Abtransport auf eine Bahre geschnallt, kommt der Moment, in dem sie ihr sagen müssen, dass sie nicht mit ins Krankenhaus kann. Für jemanden, der gerade eine Krebsoperation hinter sich habe, könne die Ansteckung tödlich sein.
„Vielleicht... Ja, vielleicht... Haben Sie auch nichts vergessen?“, murmelt einer aus dem Team, im Versuch, die richtigen Worte zu finden. „Gibt es etwas, was Sie ihm noch sagen wollen?“ Sie weiß nicht, wo sich seine Gesundheitskarte befindet. „Wo ist sie? Papa! Du und deine Unordnung“, sagt sie und fängt an, hektisch in den Schubladen zu wühlen. Niemand traut sich, ihr zu sagen, dass dies eines Tages die Erinnerung an ihr letztes Gespräch mit ihrem Vater sein könnte. Wo ist die Gesundheitskarte?
Eine Qual für alle
35 Minuten musste Andrea Travelli auf die Ambulanz warten, eine Ewigkeit bei Notfällen. Travelli ist 60 Jahre alt, seit einer Woche hat er hohes Fieber und nichts als Paracetamol im Haus. „Es hilft nicht,“ sagt sein Schwiegersohn und betont jedes Wort, damit ihm die Stimme nicht bricht, „das Fieber geht nicht runter.“
Denn es verhält sich nicht so wie bei diesen berühmten Persönlichkeiten, die das Virus haben und sich dann beeilen, per Facebook Videos ins Netz zu stellen, die zeigen, dass es sich bloß um ein bisschen Husten zu handeln scheint, der sich mit etwas Milch und Honig behandeln lässt. „Einen Kranken zu Hause zu haben ist eine Qual“, sagt Travellis Schwiegersohn, „eine Qual für alle.“
Mehr muss er nicht sagen, jetzt, wo die Krankenwagen die Sirenen ausgeschaltet haben und nächtliche Ruhe eingekehrt ist. Hier und da spürt man die Aufregung einer Familie, die im Dunkeln wach wird, man sieht, wie die Lichter angehen, eins nach dem anderen: ein Sohn, ein Bruder, der Atemnot hat. Und Panik. Denn dann kommt der Moment, nicht einmal, sondern viele Male: der Moment, in dem man sich entscheiden muss.
„Für uns, die als Erste da sind, ist das schwierig“, sagt Samantha Cortesi, seit 45 Jahren beim Roten Kreuz. „Wir sind gewohnt, einen Patienten zu stabilisieren. Wenn wir kommen, stellen wir normalerweise das Nötigste fest und dann geht's ins Krankenhaus. Aber jetzt müssen wir entscheiden, Krankenhaus ja oder nein, und zwar binnen wenigen Minuten“, sagt sie, bevor sie mit der nötigen Feinfühligkeit den Töchtern von Andrea Travelli erklärt, dass es in diesem Moment für den Vater im Krankenhaus gefährlicher sein könnte als zu Hause, wo es nur Paracetamol gibt. „Er wird es überstehen“, versucht sie die Töchter zu beruhigen. „Zumindest atmet er, wenn er nicht hustet.“
„Unter normalen Umständen“, erklärt Samantha Cortesi hinterher, „hätten wir ihn in die Notaufnahme gebracht, keine Frage. Aber in der jetzigen Situation, so dramatisch es sein mag und auch wenn man es uns für immer übel nehmen wird, haben wir die Verpflichtung, sie zu warnen, es könnte sein, dass ihr euren Angehörigen erst als Toten wiederseht.“
„Schlimmer noch“, sagt sie. „Sie haben sogar die Beerdigungen ausgesetzt. Nicht einmal als Toten wollen sie dich.“
Übersetzung aus dem Italienischen von Sabine Seifert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Syrische Geflüchtete in Deutschland
Asylrecht und Ordnungsrufe
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Sednaya Gefängnis in Syrien
Sednaya, Syriens schlimmste Folterstätte