Armut in Deutschland: Ein Erdbeben, und niemand schaut hin

Ein Fünftel aller Menschen in Deutschland ist von Armut bedroht. Mindestens. Doch selbst die Betroffenen, die am lautesten sind, werden kaum gehört.

Menschenmassen stehen in einem Schulhof Schlange

Warten auf Lebensmittel: die Arche in Berlin-Hellersdorf Foto: Markus Schreiber/ap

Diese Woche war ganz schön was los. Die Themen der Tagesschau: Bahnunterbrechungen, Flüchtlingsgipfel, Selenski in Berlin, Türkei-Wahl, Bremen-Wahl, Grünes Gewölbe. Welche Schlagzeilen sind Ihnen geblieben?

Eine Meldung von Dienstag schaffte es nicht in die „Tagesschau“, sie schaffte es auf kaum eine Titelseite: Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden hat errechnet, dass mehr als jede fünfte Person in Deutschland von Armut betroffen ist oder droht in sie abzurutschen. Stellen Sie sich vor: 20,9 Prozent der Bevölkerung Deutschlands, das sind mehr als 17 Millionen Menschen, fast so viele, wie in ganz Nordrhein-Westfalen leben.

Eigentlich lautet ein Relevanzkriterium, dass die Wichtigkeit eines Themas proportional dazu steigt, wie viele Menschen betroffen sind. Wenn in Nordrhein-Westfalen ein gigantisches Erbeben fast alle Bewohner obdachlos machen würde, würden wir wochenlang von nichts anderem hören.

Doch wenn Millionen Menschen zu wenig Geld haben, um ein anständiges Leben zu bestreiten, dann ist das nur noch Alltag. Frei nach Tucholsky: Eine Armutsbetroffene ist eine Tragödie, Millionen Armutsbetroffene sind nur eine Statistik.

Ein Gesicht für die Zahlen

Bereits im April meldete der Paritätische Gesamtverband, dass in den vergangenen 15 Jahren zwar das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt um 46 Prozent gewachsen ist, aber auch die Armut in dieser Zeit stark zugenommen hat. Die am Dienstag veröffentlichten Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2021, doch schon jetzt wird in der Statistik sichtbar, dass in den ersten Pandemiejahren die Armutsquote so stark emporgeschnellt ist wie noch nie zuvor in den Erhebungen.

Tektonische Plattenverschiebungen vollziehen sich meist langsam, fast unbemerkt. Doch sie häufen gigantische Gebirge auf. Wenn sie sich schnell bewegen, brechen sich Erdbeben bahn. Was wir gerade erleben, ist ein Erbeben der Armut. Und wir schweigen.

Dabei hat vor einem Jahr ein geradezu heldenhafter Versuch begonnen, diesen abstrakten Zahlen ein Gesicht zu geben und Menschen eine Stimme zu geben, die hinter den Statistiken verschwinden: der Hashtag #IchBinArmutsbetroffen. Am 17. Mai 2022 postete Anni W. aus der Nähe von Köln auf Twitter: „Hi, ich bin Anni, 39, und habe die Schnauze voll! Ich lebe von Hartz IV und es reicht ganz einfach nicht! Nein, ich kann keine weiteren Kosten senken. Nein, ich kann nicht auf das spritsparende Auto verzichten.“

Es folgte eine Welle der Solidarität, Hunderte erzählten bei Twitter ihre eigenen Geschichten mit der Armut. Bald formierte sich ein Kern von Aktivistinnen, fast schon eine soziale Bewegung. Sie machen regelmäßige Demos und sind in verschiedenen Städten in Gruppen organisiert. Bald fanden einige der Armutsbetroffen-Aktivistinnen ihren Weg in Talkshows, auf Konferenzen und in Medienberichte.

Doch vergangene Woche nun hat die Bewegung ihren ersten Geburtstag gefeiert – und wer hat’s gemerkt? In fast keinem Medium kam dazu ein Bericht, eine Rückschau darüber, was sich getan hat, eine Analyse, ein Blick in die Zukunft, Interviews mit den Aktivistinnen oder Expertinnen, Lösungsvorschläge für das immer drängendere Problem der Massenarmut in diesem Land. Welch Ironie, dass ausgerechnet eine Bewegung, die versucht, den Unsichtbaren in unserer Gesellschaft eine Stimme zu geben, komplett ignoriert wurde.

Was es in die „Tagesschau“ geschafft hat, ist der IGLU-Bericht. Die Internationale Grundschulleseuntersuchung hat festgestellt, dass mehr als ein Viertel der Viertklässler in Deutschland nicht auf einem ihrem Alter gerechten Niveau lesen kann. Die Meldung schaffte es an dritte Stelle in der „Tagesschau“. Die Zahl ist seit 2016 rapide gestiegen, von 18,9 Prozent auf 25,4 Prozent. Das wird auch mit den pandemiebedingten Schuleinschränkungen zu tun haben, doch diese Erklärung allein ist zu kurz gegriffen.

Die „Tagesschau“, wie viele andere deutsche Medien, hatte einen noch einfacheren Erklärungsansatz: Die Klassen würden immer „internationaler“, heißt es euphemistisch, man gibt der Migration die Schuld am schlechten Abschneiden. Das Thema Klasse – oder neudeutsch „soziale Herkunft“ – erwähnt die „Tagesschau“ nur am Rande. „Bildungsfern“ lautet da der Euphemismus. Auch hier wird suggeriert: hauptsächlich ein Problem der Ausländer. Aber in anderen westeuropäischen Ländern, etwa den Niederlanden oder dem Vereinigten Königreich, hat ein viel größerer Anteil der Bevölkerung Migrationshintergrund. Trotzdem schneiden sie in der Studie viel besser ab.

Nur in Bulgarien hing die Lesestärke noch mehr vom Bildungsgrad und Reichtum der Eltern ab als in Deutschland. Bulgarien ist ein wunderbares Land mit tollen Stränden und voller kreativer Menschen mit erfrischend schwarzem Humor, aber es ist auch ein Land, das 30 Jahre nach dem Zusammenbruch des Sozialismus von Korruption und Misswirtschaft so zugrunde gerichtet ist, dass die Bevölkerung um ein Drittel abgenommen hat, weil die Lebenserwartung nach dem Kollaps so stark zurückging, wenige Menschen aus Mangel an Zukunftsoptionen Kinder haben wollen und so viele Bulgaren in den Westen auswandern.

Aus westeuropäischer Arroganz guckt man gerne verächtlich auf die ärmeren Länder in Südosteuropa runter, die von sozialistischer Misswirtschaft und Diktatur in kapitalistische Zerrüttung und Korruption übergegangen sind. Doch welche Ausrede hat Deutschland? Niemand will Armut, behaupten alle, doch trotzdem wird hier die Klassengesellschaft immer unerbittlicher in all unseren Institutionen zementiert.

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Redakteur taz2, zuständig für Medienthemen. Interessiert sich auch für Arbeitskämpfe und sonstiges linkes Gedöns, aber auch queere Themen und andere Aspekte liederlichen Lebenswandels. Vor der taz einige Jahre Redakteur im Feuilleton der Zeit und als freier Journalist in Europa, Nordamerika und dem Nahen Osten unterwegs gewesen. Ursprünglich nicht mal aus Deutschland, aber trotzdem irgendwann in Berlin gestrandet. Mittlerweile akzentfrei.

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