Streumunition für die Ukraine: Tödlich und nutzlos

Lieferung und Einsatz geächteter Streumunition bringen Kyjiw militärisch wenig und schaden der Solidarität. Für die Zivilbevölkerung geht der Schrecken weiter.

Ein ukrainischer Soldat hält eine entschärfte Streubombe in der Hand

Eine entschärfte geächtete Streubombe in der Hand eines ukrainischen Soldaten Foto: Frank Jack Daniel/reuters

Jetzt also doch: Nach monatelanger Debatte innerhalb der US-Regierung hat sich US-Präsident Joe Biden jetzt offenbar dazu durchgerungen, der Ukraine Streumunition zu liefern.

Damit gehen die USA einen Schritt, dessen militärischer Nutzen zweifelhaft, dessen politischer Schaden jedoch immens ist. Immerhin haben über 100 Staaten weltweit, darunter auch die meisten Nato-Mitglieder, sich zur Ächtung dieser Waffenart verpflichtet – und das nicht ohne Grund. Streumunition tötet und verstümmelt auch Jahrzehnte, nachdem ein Krieg vorbei ist. Denn jene der Dutzenden oder gar Hunderten Sprengkörper, die nicht sofort explodieren, bleiben als Minen im Boden.

Die USA behaupten jetzt, sie würden nur solche Munition liefern, die eine Blindgängerquote von unter 2,35 Prozent habe. Militärische Tests hätten das ergeben. Die Testergebnisse bleiben jedoch unter Verschluss, und Organisationen wie das Rote Kreuz oder Human Rights Watch bezweifeln die Zahlen – und auch die Aussagekraft jener Tests. Denn was unter Idealbedingungen – harter Untergrund, idealer Aufprallwinkel – funktionieren mag, geht unter Realbedingungen – weicher, unebener Boden, Schlamm – oft schief. In Wirklichkeit also liegen nach den Angaben dieser Organisationen die Blindgängerquoten bei 10 bis 30 oder gar 40 Prozent.

In der Praxis hieße das: Aus einer rein militärischen Logik ist der Wunsch der Ukraine vielleicht nachvollziehbar, solche Munition im Rahmen ihrer Rückeroberungsoffensive einsetzen zu wollen. Denn tatsächlich ist diese Art von Waffen ursprünglich einmal genau für solche Situationen entwickelt worden, also zur Bekämpfung eines in einem weitläufigen System von Schützengräben verschanzten Gegners.

Auf dem Schlachtfeld vielleicht kurzfristige Vorteile

Und der Ukraine wie ihren Unterstützern gehen die Vorräte an lieferbarer konventioneller Artilleriemunition aus, die angesichts fehlender Luftwaffe das wichtigste Mittel zum Angriff auf die russischen Frontstellungen ist. Schon jetzt sind diese Gebiete heftig vermint – im Netz kursieren unzählige Videos von der Front, die ukrainische Soldaten zeigen, denen beim Sturm auf russische Gräben die Gliedmaßen weggesprengt werden.

All das erklärt den ukrainischen Wunsch, mit artilleriebasierter Streumunition die russischen Stellungen attackieren zu können. Allerdings: Auf dem Schlachtfeld wird das vielleicht kurzfristige Vorteile bringen, mittel- und langfristig aber nicht kriegsentscheidend sein – im Gegenteil. Und das nicht nur, weil nachrückende Einheiten womöglich noch von den eigenen Blindgängern zerfetzt werden.

Die Ukraine kann sich gegen den russischen Angriff nur behaupten, wenn die internationale Unterstützung stetig bleibt und Legitimität genießt. Bislang hat Russland in recht großem, die Ukraine in geringem Umfang Streumunition eingesetzt, wobei Kyjiw das immer leugnete. Auch nur den Wunsch zu äußern, eine Waffenart einzusetzen, die von vielen der wichtigsten Unterstützerstaaten geächtet ist, schadet politisch gewaltig – der Vorwurf des Doppelstandards erhält neue Nahrung, und die Ukraine büßt für vielleicht kurzfristige militärische Gewinne langfristig Solidarität ein.

US-Präsident Joe Biden ginge im übrigen mit diesem Schritt auch ein hohes Risiko ein. Zwar haben die USA die Anti-Streubombenkonvention nie ratifiziert – aber schon seit 2017 verbietet eine Kongressresolution den Einsatz von Munition, die eine Blindgängerquote von 1 Prozent übersteigt. Biden kann das unter Berufung auf Sonderbefugnisse zur Wahrung der nationalen Sicherheit umgehen.

Und die Republikaner wettern wieder

Aber in wenigen Monaten beginnt das Wahljahr 2024 – und schon jetzt wettern die wichtigsten potenziellen republikanischen Herausforderer gegen weitere militärische Unterstützung der Ukraine. Wenn Biden sich durch die Lieferung geächteter Waffen offensichtlich ins Unrecht setzt, wird auch die Unterstützung in der eigenen Partei schwinden.

Gleiches gilt in der Europäischen Union: Schon jetzt sind die Waffenlieferungen an die Ukraine in allen Ländern umstritten und beziehen ihre politische Unterstützung nicht nur aus strategischen, sondern auch aus moralischen Erwägungen. Lieferung und Einsatz von Streumunition stärkt das Narrativ, beide Seiten handelten gleichermaßen verbrecherisch – besser raushalten.

Was also auf dem Schlachtfeld vielleicht militärisch logisch erscheint, führt in ein politisches Desaster.

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Jahrgang 1965, seit 1994 in der taz-Auslandsredaktion. Spezialgebiete USA, Lateinamerika, Menschenrechte. 2000 bis 2012 Mitglied im Vorstand der taz-Genossenschaft, seit Juli 2023 im Moderationsteam des taz-Podcasts Bundestalk. In seiner Freizeit aktiv bei www.geschichte-hat-zukunft.org

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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